Ein Blog für Aufsätze des Germanistischen Institutes der MLU Halle

Interaktionsorientiertes Schreiben in digitalen Medien – Alexandra Naß

Alexandra Naß

„Nimm dich einfach nicht zu wichtig, das stünde dir besser!“

Eine Rekonstruktion der Verwendung sprachlicher Mittel im interaktionsorientierten Schreiben in digitalen Medien

Längst gehört das Kommunizieren über digitalen Medien zum festen Bestandteil unseres Alltags. Dabei eröffnen sich vielerlei Möglichkeiten, um mit unseren Mitmenschen in Kontakt zu treten, Freundschaften zu pflegen oder Freunde und Bekannte an Erfolgen, Rückschlägen oder einfach den schönsten Urlaubserlebnissen teilhaben zu lassen. Gerade in den letzten Jahren wurde uns der Nutzen digitaler online-basierter Kommunikation vor Augen geführt. In Folge der Corona-Pandemie waren Menschen weltweit gezwungen, auf Abstand zu gehen, um die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer zu schützen. Mit dem Abstand ging allerdings auch der zunehmende Verzicht auf Gespräche von Angesicht zu Angesicht einher. Dies hatte deutliche Auswirkungen auf das Verhalten von Nutzer:innen Sozialer Medien. Laut einer Gesundheits-Studie aus dem Jahr 2020 ist die Nutzungsdauer von Jugendlichen im Durchschnitt um mehr als eine Stunde täglich gestiegen. So beträgt diese unter der Woche dreieinhalb und am Wochenende sogar vier Stunden am Tag. Der Großteil (89%) der befragten Personen gab dabei an, soziale Medien zu nutzen, um soziale Kontakte aufrecht zu erhalten.[1]

Doch nicht nur im Privaten ist die Nutzung von Sozialen Medien angestiegen. Auch im beruflichen, schulischen und universitären Kontext mussten Mittel und Wege gefunden werden, um Kommunikation abseits von Präsenzveranstaltungen zu ermöglichen. Als „prominente [Beispiele] schriftlicher internetbasierter Kommunikation“ werden die „Chat- und die Forenkommunikation“ angeführt, welche die Interaktion mit Hilfe von „integrierter Diskussions-, Kommentar-, Chat- und Messaging-Funktionen“ umfassen.[2] Diese können je nach Verwendungsziel in Sozialen Netzwerken, teilweise aber auch in Schreib- und Kooperationsplattformen Anwendung finden.[3] Eben jene internetbasierte Chat-Kommunikation stellt den Gegenstandsbereich dieser Untersuchung dar.

Chat-Kommunikation als Gegenstandsbereich der Gesprächsforschung

Genauer gesagt beschäftigt sich dieser empirisch fundierte Aufsatz mit dem Konzept sozialer Positionierungsaktivitäten in zwischenmenschlicher Kommunikation. Positionierung meint in diesem Zusammenhang die verbalisierten Einstellungsbekundungen der am Gespräch Teilnehmenden. Wozu sich zwei Interaktionsteilnehmer:innen innerhalb eines Gespräches positionieren und mit welchen sprachlichen und nicht-sprachlichen Mitteln derartige Positionierungsaktivitäten herausgestellt werden, wird anhand zweier Chat-Gesprächsbeispiele und vor dem Hintergrund des Konzepts der sozialen Positionierung nachvollzogen. Die Besonderheit stellt hierbei das digitale Format der Unterhaltungen dar. Um die von den Gesprächsteilnehmer:innen getätigten Positionierungsaktivitäten in der digitalen Kommunikation herauszuarbeiten, wird sich der sogenannten StancetakingAnalyse bedient. Diese Analyse nimmt die Kommunikationshaltungen (stances) mindestens zweier Interagierender in den Blick und ermöglicht die Rekonstruktion der dazu verwendeten Mittel. Zudem lassen sich die Einstellungsbekundungen auf Übereinstimmung (Alignierung) und Uneinigkeit (Disalignierung) prüfen. Dabei gilt die Beschäftigung mit geschriebenen Interaktionen in digitalen Medien noch als relativ neues Forschungsfeld. Als zur Analyse digitalen Schreibens besonders geeignet stellt sich die Interaktionale Linguistik heraus, deren Wurzeln in der Konversationsanalyse liegen. Diese ist ursprünglich auf die Untersuchung gesprochener Sprache ausgelegt, weshalb ihr Fokus auf interaktionsspezifischen Phänomenen  wie „der Ko-Produktion von Äußerungen“ und der damit einhergehenden „gemeinsamen Herstellung von Bedeutung“ sowie den dazu gebrauchten Mitteln liegt.[4]

Forschungsinteresse der empirischen Untersuchung

Das Hauptaugenmerk der Interaktionalen Linguistik liegt auf der Herstellung gemeinsamen sprachlichen Handelns. Dennoch kann sich bei der Analyse von Interaktion nicht ausschließlich auf die schriftsprachlichen Äußerungen konzentriert werden, schließlich macht die verbale Kommunikation gerade einmal 7 % unserer gesamten Interaktion aus. Ganze 93 % der zwischenmenschlichen Kommunikation wird durch nonverbale und paraverbale Handlungen vollzogen.[5] Im internetbasierten interaktionalen Schreiben ist es den Schreibenden hingegen oft nicht möglich, ihr Gegenüber zu hören oder zu sehen, was dazu führt, dass das Wahrnehmen ebensolcher nonverbalen und paraverbalen Mittel erschwert wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welche Kommunikationshandlungen Nutzer:innen digitaler Medien zum Zwecke der sozialen Interaktion zurückgreifen, wenn ihnen vorwiegend schriftliche Artikulation zur Verfügung steht. Als Untersuchungsgegenstand wurden zwei digitale Streitgespräche ausgewählt, welche sich unterschiedlichen sozialen Kontexten zuordnen lassen, sodass mögliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den verwendeten Kommunikationsmitteln herausgestellt werden können. Zudem rückt die Auswahl von Streitgesprächen das Kommunizieren von Uneinigkeiten in den Fokus der Untersuchung. Hierbei sind besonders abweichend ausgerichtete Einstellungsbekundungen, also die sogenannte Disalignierung, und damit einhergehende Positionierungsaktivitäten von Interesse, sodass sich folgende Fragestellung für das empirische Arbeiten ergibt: Welche Mittel, die uns in der interaktionsorientierten schriftlichen Kommunikation in digitalen Medien zur Verfügung stehen, werden von Schreibenden genutzt, um Disalignierung anzuzeigen?

Die Analyseperspektive richtet sich also auf konkrete Verwendungsformen in schriftlicher Interaktion, die einer sozial positionierenden Funktion dienen.[6] Im Folgenden wird daher zunächst eine theoretische Einführung zur Notwendigkeit der Beschäftigung mit digitaler Kommunikation in sozialen Medien für die linguistische Forschung angeführt. Anschließend findet eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der sozialen Positionierung im Allgemeinen und der Stancetaking-Analyse nach John W. Du Bois (2007) im Speziellen statt. In einem abschließenden Vergleich wird eine vermutete Kausalität zwischen den sozialen Positionen und den verwendeten kommunikativen Mitteln zur Verdeutlichung von Disalignierung in den Blick genommen und geprüft. Dabei wird zudem von Interesse sein, inwiefern die sozialen Rollen der Interagierenden Einfluss auf deren Streitverhalten haben.

Fokus der Interaktionalen Linguistik

Digitale Kommunikation gilt noch immer als relativ neues Forschungsfeld und wird in der Regel als im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angelegt verstanden. Es ist jedoch deutlich geworden, dass die traditionelle Konzeptualisierung, welche das Geschriebene als informationsorientierte Kommunikation der Distanz und das Gesprochene als interaktionsorientierte Kommunikation der Nähe versteht, für die Untersuchung interaktionalen Schreibens ungeeignet ist. Anhand der zunehmenden Verwendung von Schriftsprache in bisher „mündlich bzw. fernmündlich“ realisierten kommunikativen Bereichen lässt sich feststellen, dass das Internet „die Art und Weise“ der zwischenmenschlichen Kommunikation „radikal verändert [hat]“.[7] So musste im Zuge der Verbreitung internetbasierter Kommunikation auch die Identifikation schriftlich realisierter Sprache mit Textkategorie und mündlich realisierter Sprache mit Gesprächskategorie neu gedacht werden, sodass Schriftsprache auch die Interaktion unter Verwendung internetbasierter Kommunikationstechnologien umfasst.[8] Die Interaktionale Linguistik bietet dabei einen Ansatz zur Analyse natürlicher Interaktion, welcher zwar primär auf die Untersuchung von Gesprächsformen ausgerichtet ist, der in den letzten Jahren jedoch zunehmend Anwendung bei der Analyse schriftlicher Interaktion findet.[9] Als Untersuchungsgegenstand der Interaktionalen Linguistik gilt hierbei die situationsgebundene Sprachverwendung in sequenziell organisierten, natürlichen und sozialen Interaktionen. Im Fokus steht dabei die Art und Weise, wie Interaktionsbeteiligte gemeinsam interaktionale Strukturen hervorbringen sowie die kommunikativen Aufgaben, die sie dabei verfolgen.[10] Sprachliche Interaktion umfasst in diesem Kontext das gemeinsame Handeln mindestens zweier Subjekte, welche das Bearbeiten „einer sprachlichen Aufgabe“ verfolgen.[11] Die Gemeinsamkeiten schriftlich und mündlich realisierter Gespräche liegen folglich in der sequenziellen Struktur, dem situativen Kontext, sowie der interaktionalen Ausrichtung, weshalb die Bezeichnung interaktionsorientiertes Schreiben treffend erscheint. Das Konzept des interaktionsorientierten Schreibens richtet den Blick auf aktuelle Herausbildungen bei der Verwendung „von Schriftsprache in der internetbasierten Kommunikation“ und unternimmt den Versuch, eine möglichst konkrete Beschreibung ihrer Merkmale anzubieten und diese in den größeren Kontext von Sprachverwendung einzuordnen.[12] Notwendig für diese Einordnung ist, neben den Gemeinsamkeiten zu den Merkmalen schriftlicher Texte und denen mündlicher Gespräche, auch den spezifischen Besonderheiten des interaktionsorientierten Schreibens Beachtung zu schenken.[13]

Besonderheiten des interaktionsorientierten Schreibens in digitalen Medien

Zu diesen Besonderheiten zählt in jedem Fall die digitale Interaktionsumgebung, die es den Schreibenden möglich macht, wechselseitig an potentiellen Verständigungsschwierigkeiten zu arbeiten. Zudem sind die Produkte digitaler, interaktionsorientierter Kommunikation auf die Interaktionsbeteiligten zugeschnitten und die Versprachlichungsstrategien dienen in erster Linie dem „Gelingen der laufenden Interaktion“.[14] Das Schreiben in „unmoderierten, nicht themenzentrierten [Chats]“ gilt als besonders interaktionsorientiert, da die Kommunikationsplattform es den Beteiligten ermöglicht, eine schnelle, direkte und wechselseitige Reaktion auf vorherige Beiträge zu verfassen.[15] Dabei ist die Interaktion in erster Linie auf die unmittelbare Kommunikationssituation ausgelegt, weshalb das Chatten als stark situationsgebunden zu betrachten ist.[16]

Theoretische Einordnung des Positionierungsbegriffs

Da in der Analyse herausgearbeitet werden soll, mit welchen kommunikativen Mitteln Disalignierung im digitalen interaktionsorientierten Schreiben angezeigt wird, ist eine Auseinandersetzung mit dem Konzept sozialer Positionierungsaktivitäten von Interaktionsbeteiligten grundlegend. Allem voran steht dabei die Frage, wie soziale Konstellationen in Interaktionen herausgebildet werden.

„One of the most important things we do with words is take a stance“ heißt es bei Du Bois.[17] Mit Stancetaking ist hierbei die Kommunikationshaltung gemeint, die Interaktionsbeteiligte innerhalb einer Kommunikationssituation einnehmen. Dieses aktive Einnehmen einer Haltung steht in enger Verbindung zum Positionierungskonzept, dessen Wurzeln in der Diskurspsychologie liegen. Diskurse werden in diesem Kontext als sprachliche Handlung mindestens zweier Akteur:innen definiert, welche innerhalb einer konkreten Sprechsituation kopräsent sein müssen.[18] In diesem Zusammenhang ist das auf Michel Foucault zurückzuführende „differenzierte Verständnis des Subjekts“ von zentraler Bedeutung. Ein Subjekt ist demnach kein unabhängiges Individuum, das außerhalb eines Diskurses steht oder diesen ausschließlich produziert, sondern ein „hybride[s] Produkt“ dessen.[19] Diskurse weisen demzufolge den Interaktionsteilnehmenden im Laufe eines unvollendeten Subjektivierungsprozesses bestimmte Subjektpositionen zu, wodurch aus Individuen erst Subjekte werden.[20] Soziale Beziehungskonstellationen und Verhältnisse zwischen Interaktionsbeteiligten werden im Sinne der Subjektivierung nach Foucault also diskursiv produziert, richten sich also nach dem jeweiligen Diskurs. Zugleich produzieren Individuen diesen Diskurs, indem sie jemanden oder etwas mithilfe sprachlicher Mittel zum Diskursobjekt werden lassen. Dabei sind sie in der Lage, den Diskurs aktiv mitzugestalten und zu verändern.[21] Daher muss die soziale Positionierung, also die diskursiv ausgerichtete soziale Position, die durch das kommunikative Verhalten innerhalb eines Diskurses eingenommen wird und situativ veränderbar ist, klar von der sozialen Position, welche in der sozialen Rolle der Interaktionsteilnehmenden außerhalb des Diskurses liegt, abgegrenzt werden.

Das Konzept des ‚Stance-Triangle‘ und die Stancetaking-Analyse nach Du Bois

John W. Du Bois legt ein theoretisches Raster vor, mit dessen Hilfe die Kommunikationshaltung, welche Interaktionsteilnehmende einnehmen, methodisch herausgearbeitet werden kann. Wird nun das Ziel verfolgt, „die Prozesse der Äußerungsproduktion als Strategien der sozialen Positionierung […] empirisch beobachtbar zu machen“,[22] bietet sich das Konzept des Stance-Triangle an.[23] Du Bois beschreibt in diesem Zusammenhang das Stancetaking als eine „in drei zusammenhängenden und ineinander verschachtelten Teilprozessen“ stattfindende soziale Positionierung.[24] In diese Prozesse sind zwei Subjekte involviert, die Bewertungen gegenüber einem Diskursobjekt vornehmen, das sowohl ein gegenständliches Objekt im klassischen Sinne, als auch eine Idee, ein Sachverhalt oder eine Handlung darstellen kann. Zugleich positionieren sich die Subjekte bezüglich des Diskursobjekts im Zuge des Vornehmens einer Bewertung und gleichen diese Bewertungen miteinander ab, wodurch sie schließlich auch eine gewisse Ausrichtung zueinander einnehmen.[25] Du Bois unterscheidet demnach drei untrennbar miteinander verknüpfte Stance-Funktionen: die Evaluation, also die Beurteilung des Diskursobjekts, die Positionierung und die Alignierung. Den wichtigsten methodischen Teilprozess stellt dabei die Alignierung dar, welche die interaktionale, soziale Beziehungsgestaltung der Gesprächsteilnehmenden, also die bereits erwähnte Ausrichtung zueinander, erfasst. Alignierung lässt sich dabei als Zustimmung verstehen, die als präferiert von den Interagierenden wahrgenommen wird, während eine ablehnende Haltung als Disalignierung bezeichnet und als dispräferiert aufgefasst wird.[26] Des Weiteren lässt sich eine Unterscheidung bezüglich der Ausrichtung der vorgenommenen Positionierung treffen: Die sogenannte affektive Positionierung beschreibt die emotionale Haltung, die zum Diskursobjekt eingenommen wird. Von epistemischer Positionierung spricht man hingegen, wenn eine Haltung in Bezug auf die Gültigkeit des ausgesprochenen Wissens geäußert wird.[27] Um nun herauszuarbeiten, wie Interaktionsbeteiligte im interaktionalen Schreiben in digitalen Medien ihre Haltung zum Ausdruck bringen, muss bei der Analyse der Sprachverwendung auf sogenannte Stance-Marker geachtet werden. Dies sind sprachliche und nicht-sprachliche Mittel, welche die Haltung der sprechenden Person markieren. Da die Untersuchung von Stancetaking-Aktivitäten prototypisch auf Face-to-Face-Interaktionen ausgelegt ist, muss sich in der anschließenden Analyse der Blick den vorzufindenden Umständen anpassen.[28] So wird beispielsweise die chat-typische Verwendung von Emojis sowie die Interpunktion als auch Groß- und Kleinschreibung im Fokus stehen. Zudem können die von den Schreibenden ausgewählten Modalverben, Modalpartikel und kognitiven Verben für die Erarbeitung der Kommunikationshaltung von Interesse sein, um auf die epistemische oder affektive Haltung der Interaktionsbeteiligten schließen zu können. In der folgenden Analyse wird neben der Rekonstruktion des Kommunikationsverhaltens und der Rekonstruktion der dafür ausgewählten Mittel ebenfalls von besonderem Interesse sein, wie sich das Signalisieren von bestimmten Stance-Handlungen auf die interaktionale Beziehungsgestaltung der Sprechenden auswirkt.

Datengewinnung und Datenbank

Die zur Analyse von Disalignierung im Kontext digitalen interaktionsorientierten Schreibens verwendeten Daten stammen aus der Mobile Communication Database 2 (MoCoDa 2), einer Datenbank, welche mobile Alltagskommunikation für die universitäre Lehre und Forschung archiviert und datenbankgeschützt bereitstellt.[29] Hierbei werden Interaktionen in privaten Chats erfasst und diese unter anderem nach kommunikationsspezifischen Kategorien wie ‚Streitgespräch/Entschuldigung‘ eingeteilt. Im Folgenden werden Ausschnitte zweier Unterhaltungen vorgestellt, welche dieser Kategorie entnommen sind.

ThemaBeteiligteMessengerNachrichtenanzahl
ungefragte Weitergabe einer Handynummer2WhatsApp6 von 6
Metadaten zu Chat 1

Bei den Interaktionsbeteiligten dieser WhatsApp-Unterhaltung handelt es sich um Lena, welche einen Anruf von einem ihr fremden Mann erhalten hat, der sich im Zuge des Telefonats als Angestellter der neuen Hausverwaltung ihrer Wohnung herausstellt, und ihre Tante Sabine, welche ebendiesem Mann die Telefonnummer ihrer Nichte gegeben hat. Da Lena telefonische Daten als vertraulich und privat erachtet, ist sie mit der ungefragten Herausgabe ihrer Telefonnummer durch die Tante nicht einverstanden und verfasst aus diesem Grund eine Nachricht an Sabine.[30]

ThemaBeteiligteMessengerNachrichtenanzahl
Streit über Verwendung des Daumen-hoch-Emojis2WhatsApp13 von 48
Metadaten zu Chat 2

Bei den Interaktionsbeteiligten handelt es sich um Tom und Lilly, welche eine Paarbeziehung führen. Nachdem Tom seine Freundin darum bat, ein geplantes Treffen zwischen den Beiden zu verschieben, bejahte Lilly dies unter Verwendung des Daumen-hoch-Emojis. Daraufhin entstand eine Diskussion rund um die Verwendung ebenjenes Emojis.[31]

Analyse der Gesprächsdaten

Chat 1. In der ersten Nachricht bedient sich Lena einer für Chat-Verhältnisse eher untypischen förmlichen Sprachverwendung, welche zwar durch die lockere Begrüßung „Hi Sabine!“ (#1/Zeile 1) eingeleitet, aber durch eine distanzierte, wenngleich auch höfliche Verabschiedung „Vielen Dank und liebe Grüße“ (#1/Zeile 4) abgeschlossen wird, wobei Dank und Gruß durch zwei Emojis reflexiv unterstrichen werden. Bei den ausgewählten Emojis handelt es sich um eine winkende Hand und einen klassischen lächelnden Smiley, sodass deren Verwendung als Ausdruck von Freundlichkeit und sozialer Nähe gedeutet werden kann, im Kontext des Nachrichteninhalts aber sehr wohl auch als gesichtswahrend zu verstehen ist. Was also transportiert Lena inhaltlich in ihrer Nachricht an Sabine?

Im Grunde stellt sie die Forderung, „vorher gefragt [zu] werden“ (#1/Zeile 3), wenn jemand vorhat, ihre Telefonnummer „an fremde Menschen“ (#1/Zeile 3) weiterzugeben. Dass es für dieses Handeln ihrer Erlaubnis bedarf, verdeutlicht sie durch das Modalverb „darf“ (#1/Zeile 4). Gleichzeitig verwendet sie in diesem Kontext das generalisierende Personalpronomen „man“ (#1/Zeile 3), welches keinen direkten Adressatenbezug zur Tante herstellt, wodurch die Forderung zwar konkret in ihrer Absicht, aber unspezifisch hinsichtlich der Bezugnahme auf die Empfängerin bleibt. Das Weitergeben der „Handynummer an fremde Menschen“ (#1/Zeile 3) kann dabei als das von der Nichte angebrachte Diskursobjekt verstanden werden, welches sie indirekt negativ evaluiert und dem gegenüber sie eine negative distanzierte Haltung verdeutlicht. Lena versprachlicht dies, indem sie „fürs nächste Mal“ (#1/Zeile 2) die Erwartungshaltung offenbart, „gefragt werde[n]“ (#1/Zeile 3) zu wollen. Zudem verdeutlicht sie ihre affektive Positionierung mithilfe des Modalverbs „finden“, was auf ihre emotionale Empfindung gegenüber dem Diskursobjekt verweist, sowie durch die prädikative Verwendung der Adjektive supercool und respektvoll versprachlicht wird. Ersteres ist dabei als durch die Komposition aus zwei positiv konnotierten Adjektiven geschaffene Steigerung anzusehen. Dadurch offenbart die Nichte die von ihr erwünschte Verhaltensweise im Umgang mit ihren privaten Daten und bedankt sich in der folgenden Zeile mit der Interjektion „Vielen Dank“. Diese Höflichkeitsformel ist als Appell zu werten und deutet darauf hin, dass ihre Nachricht insgesamt als Aufforderung an die Tante zu verstehen ist, die Telefonnummer nicht erneut ungefragt weiterzuleiten.

Sabines Antwort „Das ist kein Fremder und der tut dir nichts, du musst da keine Angst haben!“ (#2) verzichtet hingegen auf Grußformeln und ist umgangssprachlich formuliert. Inhaltlich bezieht sie sich weder auf die von ihrer Nichte als unerwünscht evaluierte Verhaltensweise, noch auf die Aufforderung, dieses Handeln in Zukunft zu unterlassen. Mit den Worten „Das ist kein Fremder“ (#2) signalisiert sie allerdings indirekt eine ablehnende Haltung gegenüber Lenas Evaluation des Diskursobjekts und offenbart eine epistemische Haltung gegenüber dem geteilten Wissen, den Verwaltungsmitarbeiter als fremd zu kategorisieren. Indem sie das Kopulaverb sein mit dem Bezugsnomen Fremder in negierter Form verwendet, zeigt sie einen abweichenden Wissensstand an, den sie für gegeben erklärt, was durch die Verwendung des Interpunktionszeichens „!“ (#2) unterstrichen wird. Bereits hier verdeutlicht sich, infolge der gegensätzlichen Bewertung des Stance-Objekts und der indirekt vorgenommenen ablehnenden Positionierung, die Disalignierung gegenüber der Interaktionspartnerin. Dass diese Disalignierung von den Interaktionsteilnehmerinnen als dispräferiert empfunden wird, zeigt sich durch die epistemische Einstellungsbegründung der Tante: „der tut dir nichts, du musst da keine Angst haben“. Hierbei unterstellt sie der Nichte, unter Verwendung des Modalverbs müssen, die Befürchtung, von Herr Tammen (#1/Zeile 1) könne eine Gefahr ausgehen. Somit wird durch Sabine eine Verschiebung des Diskursobjekts vorgenommen: Nicht das unerwünschte Verhalten der Tante steht nun im Zentrum der Interaktion, sondern die Evaluierung des Akteurs als fremde Person. Andererseits verdeutlicht Lenas Antwort in Form des kurz und knapp formulierten Satzes „Es geht ums Prinzip.“ (#3), dass sie mit dieser Verschiebung nicht einverstanden ist, was ihrerseits ebenfalls eine epistemische Positionierung signalisiert. Mit dieser Antwort tritt eine Dispräferenz der erhaltenen Nachricht zu Tage, da keine Einigung erzielt werden kann, wodurch zugleich eine Disalignierung zwischen den Akteurinnen offenbart wird.

Mit der darauf folgenden Evaluierung der Aufforderung als „Kindereien“ (#4/Zeile 1) durch die Tante, nimmt diese nun eine affektive Haltung zum ursprünglichen Diskursobjekt ein, setzt den Appell mit kindischem Verhalten gleich und nimmt damit eine deutliche Abwertung der Gesprächspartnerin vor. Erneut tritt die Disalignierung eindeutig hervor und wird mit dem zweiten Satz, „Nimm dich einfach nicht zu wichtig, das stünde dir besser!“ (#4/Zeile 1-2), sogar noch verschärft. Neben dem erneut genutzten Ausrufezeichen und dem verwendeten Imperativ Nimm, der einer Handlungsaufforderung an Lena gleichkommt, verweist auch der Intensitätspartikel zu auf eine stark ablehnende Haltung. Lena reagiert daraufhin mit fünf  lachenden Freudentränen-Emojis (#5), welche im Kontext der zunehmenden Verhärtung der gegenseitigen sozialen Positionierung eine affektive Haltung verdeutlichen. Diesbezüglich kann von einer ironischen Verwendungsweise der Smileys ausgegangen werden. Auf die damit vorgenommene Disalignierung reagiert Sabine wiederum ebenfalls mit drei dieser Smileys, gefolgt von drei nach oben zeigenden Daumen und der Äußerung „ich freu mich, das du es kapiert hast, Glückwunsch!!“ (#6), woraufhin das Emoji einer entkorkten Sektflasche folgt. Während der Daumen-hoch-Emoji in der Regel anerkennend oder lobend verwendet wird, findet der Sektflaschen-Emoji normalerweise in feierlichen Kontexten Verwendung. Nun könnte von dieser etablierten Verwendungsweise darauf geschlossen werden, dass mit dieser Nachricht eine Alignierung infolge einer affektiven Positionierung angestrebt wird. Von einer affektiven Haltung kann hier ausgegangen werden, da zum einen die Emojis der Reaktion eine emotionale Komponente verleihen, zum anderen durch die Nutzung des Vollverbs freuen, welches positive emotionale Empfindungen transportiert. Diese Freude bezieht sich allerdings ganz konkret darauf, dass Lena „es kapiert ha[]t“ (#6), wobei das Personalpronomen es als Stellvertreter für die zuvor von Sabine vorgenommene Evaluation des Diskursobjekts fungiert. Da die Interaktionsteilnehmerinnen zuvor aber nicht von ihrer jeweiligen Positionierung abgerückt sind und die Evaluation des Stance-Objekts bei beiden Frauen stark konträr ausfällt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sich Sabine hierbei ironischer Ausdrucksformen bedient und damit die Disalignierung abschließend verfestigt. So kann schlussendlich festgestellt werden, dass Lena und ihre Tante sich hinsichtlich der Berechtigung zur Weitergabe privater Daten, wie der Telefonnummer, nicht einig geworden sind.

Chat 2. Nach Verwendung des Daumen-hoch-Emojis durch Lilly ist das Bearbeiten eines kommunikativen Konflikts zu beobachten. Interessant hierbei ist, dass Tom seinen Unmut diesbezüglich nicht direkt kommuniziert. Stattdessen zeigt Lilly mit der Frage „Was ist los?“ (#5) an, dass hier eine Disalignierung vorzuliegen scheint, nachdem ein kurzer Austausch darüber stattfindet, auf welchem Spielfeld Tom heute trainieren wird (vgl. #2 und #3). Dies deutet darauf hin, dass es sich bei dem Diskursobjekt um die Verwendung des Daumen-hoch-Emojis handelt, was von Tom bestätigt wird, indem er darauf antwortet: „Ich fand die Antwort mit dem Daumen scheisse“ (#7). Es stellt sich die Frage, welche Stance-Marker zuvor von Tom verwendet werden, um seine ablehnende Haltung zum Ausdruck zu bringen, sodass der Interaktionspartnerin angezeigt wird, dass ein Konflikt vorliegt.

Zunächst kann festgestellt werden, dass Tom auf Lillys bejahende Antwort (vgl. #1) nicht reagiert, was nach dem Absagen eines gemeinsamen Treffens seinerseits zu erwarten wäre. Spannend ist folglich, dass seine Nicht-Reaktion als Indikator für seine, als negativ einzuordnende Evaluation gelten kann und eine damit einhergehende distanzierende Positionierung in Bezug auf das Stance-Objekt offenbart. Zudem deutet die kurz angebundene Antwort „Glaub asche“ (#3) auf Lillys Frage, welcher Sportplatz heute bespielt wird (vgl. #4), auf eine affektive Positionierung seinerseits hin.

Derartige Interaktionshandlungen in vertrauten sozialen Interaktionen werden demnach häufig als abweisend oder gar unfreundlich klassifiziert. Da der soziale Kontext bei der Analyse miteinbezogen werden muss und eine Liebesbeziehung mit Intimität, sozialer Nähe und Vertrautheit einhergeht, kann davon ausgegangen werden, dass die Nicht-Reaktion und die auf das Nötigste beschränkte Antwort von Tom als emotional stark abweisende Haltung gegenüber dem Diskursobjekt zu deuten ist. Durch die Verwendung der umgangssprachlichen Redensart etwas scheiße finden, welche klar negativ konnotiert ist und eine massiv ablehnende Auffassung einem Diskursobjekt gegenüber anzeigt, bestätigt Tom die von Lilly vermutete Disalignierung. Lillys Frage (vgl. #5) und die genutzten Smileys deuten auf emotionale Verwirrung und Enttäuschung sowie auf Traurigkeit hin, was an dieser Stelle als affektive Positionierung verstanden werden kann. Während der erste Emoji mit weit aufgerissenen Augen und halb-schiefem Mund dargestellt wird, verbildlicht der zweite ein Gesicht mit großen Augen, nach unten zeigenden Mundwinkeln und einer Träne unter dem rechten Auge (#6). Durch die umgangssprachliche Verwendung der Frage „Was ist los?“ (#5) wird zudem deutlich, dass Lilly ihre Gewissheit darüber offenbart, dass sich ihr durch Toms (Nicht-)Verhalten in der Interaktion etwas Ungewöhnliches offenbart hat. Sie zeigt dies durch das Kopulaverb sein in der 3. Person Singular an, welches eine Tatsachenbehauptung versprachlicht. Es tritt in Verbindung mit dem Interrogativpronomen was auf, welches nach dem Gegenstand dieses Zustands fragt. Dies kann zugleich als Evaluation und epistemische Positionierung bezüglich des ungewöhnlichen (Nicht-)Verhaltens erkannt werden und ist als distanziert zu bewerten.

Dass Lilly im Folgenden auf die affektive Positionierung ihres Partners mit der Erklärung reagiert,  dass „das […] nicht mal so gemeint [war]“ (#7), deutet darauf hin, dass die Nutzung des konventionell positiv besetzen Daumen-hoch-Emojis für das Paar innerhalb ihrer alltäglichen digitalen Interaktionen eher negativ gelesen wird. „Das war nicht mal so gemeint“ (#7) wird zudem umgangssprachlich verwendet, um zu verdeutlichen, dass hinter einer Aussage oder Handlung keine böse Absicht steht. Lilly positioniert sich somit durch die Verwendung des Mentalverbs meinen, welches etymologisch mit dem Substantiv Meinung verwandt ist und daher eine Ansicht ausdrückt, sowohl epistemisch als auch affektiv gegenüber dem Diskursobjekt der Emoji-Verwendung.[32] Epistemisch insofern, als sie auf ihren Wissensstand darüber anspielt, welche Intention ihrer Aussage zugrunde liegt, nämlich „nach dem Motto ja okay“ (#9) und affektiv unter dem Gesichtspunkt, dass sie ihre emotionale Positionierung, es nicht böse gemeint zu haben, klarstellt. Damit sagt sie aus, dass sie das Verschieben des Treffens nicht als schlimm empfindet.

Dies untermauert Lilly in der daran anschließenden Textnachricht, in der sie beteuert, dass sie „das ja auch [verstehe]“ (#10) und dazu die Begründung heranzieht, selbst noch „was für die Uni machen [zu müssen]“ (#10). Diese affirmative Einstellungsbekundung bewertet die Absage des Treffens und verdeutlicht die von Lilly präferierte Alignierung gegenüber ihrem Partner. Dieser geht auf das versöhnliche Angebot seiner Freundin allerdings nicht ein und äußert erneut seine extrem distanzierte Haltung bezüglich des Stance-Objekts durch den Satz „Ja aber ich hasse diese daumen Antwort“ (#12). Mit dieser Reaktion erkennt er die Gültigkeit des ausgesprochenen Wissens und die Absicht seiner Partnerin zwar an, indem er seine Aussage mit Hilfe des modalen Antwortpartikels ja einleitet, welcher Bestätigung und Zustimmung transportiert. Zugleich verknüpft er die Zustimmung jedoch mit einem aber. Die Konjunktion leitet den bedeutungsvollen Verbzweitsatz „ich hasse diese daumen Antwort“ (#12) ein, welcher seine affektive Positionierung nochmals betont. Er verdeutlicht zudem die starke, von Tom mit Hass gleichgesetzte, ablehnende Haltung gegenüber der Verwendung des Daumen-hoch-Emojis durch seine Freundin und damit auch die Disalignierung ihr gegenüber. Der Alignierung anstrebenden Interaktionsteilnehmerin Lilly bleibt nun nichts anderes übrig, als Toms Evaluierung mithilfe des Antwortpartikels ja anzuerkennen (vgl. #13) und sich für diese unbedachte Emoji-Verwendung zu entschuldigen (vgl. #13), um sich einer Streitsituation, die sich weiter zu verfestigenden droht, zu entziehen.

Auswertung der Daten unter Einbezug der Theorie: Bedeutung Sozialer Medien für die zwischenmenschliche Kommunikation

Die Möglichkeiten, die uns Soziale Medien bieten, um mit Mitmenschen in Kontakt zu treten, haben auch die Art und Weise, wie wir zu kommunizieren pflegen, maßgeblich beeinflusst. Anstatt ein geplantes Treffen per Telefonat abzusagen, gibt es heute die Möglichkeit, eine kurze Nachricht zu verfassen und das eigene Bedauern darüber mithilfe von Emojis anzuzeigen. Statt eine Meinungsverschiedenheit von Angesicht zu Angesicht auszutragen, lässt sich der vermeintlich einfachere Weg per internetbasierter Textnachricht wählen, um sich beispielsweise für Fehlverhalten zu entschuldigen oder Missverständnisse zu beseitigen. Doch das interaktionsorientierte Schreiben in Chats lässt auch eine Menge Interpretationsspielraum für die Intentionen, welche den Nachrichten zugrunde liegen. Schließlich können schriftliche Interaktionen nicht oder zumindest nicht im selben Maße paraverbale und nonverbale Zeichen transportieren, wie es in Face-to-Face-Interaktionen möglich ist. Andererseits stehen uns in sozialen Medien und Chats eine Reihe anderer Mittel zur Verfügung, um beispielsweise Emotionen und Einstellungsbekundungen zu transportieren. Doch bei der vorschnellen Interpretation ist Vorsicht geboten, denn bestimmte Emojis können, je nach sozialem Kontext, ganz unterschiedliche Bedeutungen transportieren, die den Interaktionsbeteiligten selbst nicht immer bewusst sind.

Die Bedeutung sozialer Positionen für die Untersuchung von Positionierungsaktivitäten im interaktionsorientierten Schreiben

Eine wichtige Rolle spielt dabei die soziale Position, die Interaktionsteilnehmenden bei Antritt einer Kommunikationssituation zukommt, sowie die soziale Positionierung, welche innerhalb der Kommunikation aktiv eingenommen wird. In der vorangegangenen Analyse zweier Chat-Unterhaltungen wurden Interaktionshandlungen in Streitsituationen hinsichtlich ihrer Disalignierung anzeigenden Stancetaking-Aktivitäten untersucht. Die dafür genutzten sprachlichen Mittel, sowie die Verwendung von chat-typischen Interaktionsmitteln, welche unter anderem als stellvertretend für die nonverbale und paraverbale Kommunikation angesehen werden können, wurden herausgearbeitet und sollen nun hinsichtlich ihres sozialen Kontexts eingeordnet und miteinander verglichen werden.

In der Interaktion zwischen Tante und Nichte lässt sich beobachten, dass vorwiegend direkte Sprechhandlungen genutzt werden, um Disalignierung anzuzeigen (vgl. #1, #2, #3), während sich dabei eher indirekt, vor allem von Seiten der Tante, auf das Diskursobjekt bezogen wird. Vielmehr treten hier die sozialen Positionen zu Tage, die den Interaktionspartnerinnen durch das Verwandtschaftsverhältnis zukommen, indem dem Inhalt der Bitte durch die Nichte kaum Beachtung geschenkt und vielmehr ihr „kindisches Verhalten“ (vgl. #4) zum Thema gemacht wird. Außerdem werden von beiden Beteiligten konventionell positiv gelesene Smileys (vgl. #5 und #6) als Mittel der Distanzierung infolge einer ironischen Verwendungsweise gebraucht, um die ablehnende Haltung zueinander zu veranschaulichen. Zudem fungieren das mentale Verb finden (vgl. #1), sowie die Modalverben dürfen (vgl. ebd.) und müssen (vgl. #2) in dieser Unterhaltung als Stance-Marker, sowohl zum Zwecke der affektiven als auch der epistemischen Positionierung. Insgesamt fällt auf, dass die Tante die Aufforderung ihrer Nichte als solche nicht anerkennt, was, unter Bezugnahme auf den Altersunterschied und die sozialen Familienverhältnisse, auf die soziale Rolle der jeweiligen Person zurückgeführt werden kann. Die Nichte versucht zwar, mithilfe der von ihr vorgenommenen Evaluierung und der Versprachlichung ihrer distanzierten Haltung gegenüber dem Diskursobjekt, der sozialen Rolle zu entwachsen und sich gegenüber der Tante neu auszurichten, dies wird von Sabine jedoch mit Ablehnung gestraft. Sabine geht sogar noch weiter und verweist Lena auf ihre soziale Position mit den Worten: „ich habe keine Zeit für solche Kindereien“ (#4). Dadurch positioniert sie sich nicht nur stark abweisend gegenüber ihrer Nichte, sondern spricht dieser auf Bedeutungsebene sogar eine autonome Meinungsbildung ab. Aus der Perspektive von Lena kann die angezeigte soziale Disalignierung allerdings als emanzipatorischer Akt gedeutet und damit als erfolgreiche, wenn auch dispräferierte Interaktionshandlung bewertet werden.

Das Interaktionsverhalten des Paares im zweiten Chat weist im Zuge der Diskussion um das Gebrauchen eines konkreten Emojis ganz andere Kommunikationsmittel zum Anzeigen von Disalignierung auf. Im Vergleich zu den offensiv angezeigten Stance-Aktivitäten innerhalb der ersten Unterhaltung finden hier zunächst wesentlich subtilere Formen seitens des Freundes Verwendung, welche von Lilly als abweisend kategorisiert werden. Dazu gehört die ausbleibende Reaktion von Tom auf Lillys Bestätigung (vgl. #1), das geplante Treffen zwischen ihnen zu verschieben. Zudem kann die Art und Weise, wie Lillys Partner reagiert, nämlich in kurzen knappen Textnachrichten ohne Verwendung von Emojis (vgl. #3), als untypisch für das Interaktionsverhalten zwischen den Beteiligten gewertet werden, da Lilly dies zum Anlass nimmt, Tom zu fragen, „was [los] ist“ (#5). Das sehr enge Verhältnis des Paares ist folglich ausschlaggebend dafür, dass die von Tom indirekt ausgewiesene Disalignierung überhaupt Beachtung findet und als solche interpretiert werden kann. Zudem ist die von Tom daraufhin genutzte, emotional stark aufgeladene Wortwahl (vgl. #7, #12) als eindeutig distanzierende Positionierungsaktivität zur Verdeutlichung von sozialer Disalignierung anzusehen. Dadurch ist seine Partnerin im Sinne der Postexpansion, also einer nachträglichen Reparatur des Gesagten, dazu gezwungen, diese Disalignierung zu bearbeiten und eine abmildernde Erklärung zu liefern, die der präferierten Alignierung dient.

Die von Tom realisierten, abweisenden Interaktionsaktivitäten und das Einigkeit anstrebende Kommunikationshandeln von Lilly müssen ebenfalls innerhalb des sozialen Kontextes und unter Einbezug der sozialen Rollen betrachtet werden. Da die Interaktionsbeteiligten in diesem Fall in keinem familiären Verhältnis stehen, sondern sich in einer amourösen Beziehung miteinander befinden, variieren auch die sozialen Rollenverteilungen. Da es sich bei Tom und Lilly um Partner und Partnerin handelt, kann von einer engen emotionalen Bindung ausgegangen werden, deren Aufrechterhaltung gewöhnlich das Ziel beider Interaktionsbeteiligter ist. Spannend ist daher das beobachtbare Interaktionsverhalten von Tom, welcher trotz mehrmaliger Alignierungs-Unternehmungen durch Lilly seine distanzierte affektive Positionierung und das damit einhergehenden Disalignierungshandeln beibehält. Daraus resultiert in dieser Kommunikationssituation ein extrem angespanntes soziales Verhältnis zwischen dem Paar, welches Lilly bis zuletzt zu bereinigen versucht (vgl. #13, #14, #15). Damit unternimmt sie zugleich den Versuch, sich an die ihr zugeschriebene soziale Rolle anzupassen.

Im direkten Vergleich kann festgestellt werden, dass die zur Realisierung von Disalignierung verwendeten Mittel im interaktionsorientierten Schreiben sowohl vom situativen Kontext, als auch von den sozialen Rollen der Beteiligten mitbestimmt werden. Je nach sozialer Nähe oder Distanz der beteiligten Interaktionshandelnden wird das Einhalten der sozialen Rolle verfolgt, sobald die Disalignierungsaktivitäten den angestrebten Status der zwischenmenschlichen Beziehung bedrohen. Ist dies nicht der Fall, wie beispielsweise in familiären Beziehungskonstellationen, die mit einer gewissen Sicherheit und Stabilität einhergehen, kann auch das Ausbrechen aus der sozialen Rolle beabsichtigt werden. In diesem Zusammenhang können soziale Positionierungsaktivitäten schlussendlich als Aushandlungsunternehmungen sozialer Rollenverteilungen anerkannt werden.


[1]Vgl. DAK-Gesundheit, Mediensucht 2020. Gaming und Social-Media in Zeiten von Corona; https://www.dak.de/dak/download/dak-studie-gaming-social-media-und-corona-2296434.pdf [letzter Zugriff: 29.04.2022].

[2]Michael Beisswenger, Praktiken in der internetbasierten Kommunikation, in: Arnulf Deppermann, Helmuth Feilke, Angelika Linke (Hg.), Sprachliche und kommunikative Praktiken. Eine Annäherung aus linguistischer Sicht, Berlin u.a. 2016, 279-310, hier 279.

[3]Vgl. ebd., 279f.

[4]Wolfgang Imo, Sprache in Interaktion. Analysemethoden und Untersuchungsfelder, Berlin–Boston 2013, 78f.

[5]Vgl. Albert Mehrabian, Silent Messages. Implicit Communication of Emotions and Attitudes, Belmont 1971.

[6]Der Terminus ‚Verwendungsformen‘ findet hier im Sinne der Form-Funktionsbeziehung Verwendung.

[7]Angelika Storrer, Interaktionsorientiertes Schreiben im Internet, in: Arne Ziegler (Hg.), Jugendsprachen/Youth Languages. Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung/Current Perspectives of International Research, Berlin–Boston 2018, 219-241, hier 219f.

[8]Ebd., 222.

[9]Vgl. Elizabeth Couper-Kuhlen, Margret Selting, Argumente für die Entwicklung einer ‚interaktionalen Linguistik‘, in: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 1 (2000), 76-95.

[10]Vgl. Imo, Sprache in Interaktion, 269ff.

[11]Wolfgang Imo, Jens P. Lanwer, Interaktionale Linguistik. Eine Einführung, Berlin 2019, 2.

[12]Storrer Interaktionsorientiertes Schreiben im Internet, 220.

[13]Vgl. ebd.

[14]Ebd., 228.

[15]Michael Beißwenger, Angelika Storrer, Interaktionsorientiertes Schreiben und interaktive Lesespiele in der Chat-Kommunikation, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 42 (2012), 92-124, hier 3.

[16]Vgl. ebd.

[17]John W. Du Bois, The stance triangle, in: Robert Englebretson (Hg.), Stancetaking in Discourse. Subjectivity, evaluation, interaction, Amsterdam u. a. 2007, 139-182, hier 139.

[18]Vgl. Jochen Rehbein, Das Konzept der Diskursanalyse, in: Klaus Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 2. Halbband, Berlin–New York 2001, 927-945, hier 929.

[19]Jürgen Spitzmüller, Mi-Cha Flubacher, Christian Bendl, Soziale Positionierung als Praxis und Praktik. Theoretische Konzepte und methodische Zugänge, in: Wiener Linguistische Gazette, 81 (2017), 1-18, hier 2.

[20]Vgl. Michel Foucault, Die Rückkehr der Moral, in: Daniel Defert, François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt/Main 2005, 859-873, hier 871.

[21]Vgl. Spitzmüller u.a., Soziale Positionierung als Praxis und Praktik, 4.

[22]Ebd., 28.

[23]Du Bois, The stance triangle, 163.

[24]Vgl. Spitzmüller u.a., Soziale Positionierung als Praxis und Praktik, 28.

[25]Vgl. ebd., 29.

[26]Vgl. Du Bois, The stance triangle, 143.

[27]Vgl. Arnulf Deppermann, Silke Reinicke, Epistemische Praktiken und ihre feinen Unterschiede: Verwendung von ‚ich dachte‘ in gesprochender Sprache, in: Arnulf Deppermann, Nadine Proske, Arne Zeschel (Hg.), Verben im interaktiven Kontext. Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch. Studien zur deutschen Sprache, 74, Tübingen 2017, 337-375, hier 337f.

[28]Vgl. Constanze Spieß, Stancetaking- und Positionierungsaktivitäten im öffentlichen Metasprachdiskurs über jugendliche Sprechweisen, in: Arne Ziegler (Hg.), Jugendsprachen/Youth Languages. Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung/Current Perspectives of International Research, Berlin–Boston 2018, 147-182, hier 163.

[29]Vgl. Michael Beißwenger u.a., Mobile Communication Database 2; https://db.mocoda2.de/c/home [letzter Zugriff 09.06.2023].

[30]Vgl. Beißwenger u.a., MoCoDa 2; https://db.mocoda2.de/view/ccgzw [letzter Zugriff: 29.04.2022].

[31]Vgl. Beißwenger u.a., MoCoDa 2; https://db.mocoda2.de/view/lbLgN [letzter Zugriff: 29.04.2022].

[32]Arnulf Deppermann, Silke Reinicke, Epistemische Praktiken und ihre feinen Unterschiede: Verwendung von ‚ich dachte‘ in gesprochender Sprache, in: Arnulf Deppermann, Nadine Proske, Arne Zeschel (Hg.), Verben im interaktiven Kontext. Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch. Studien zur deutschen Sprache, 74, Tübingen 2017, 337-375, hier 338.