Falco Schubert
Literaturkritik im Wandel
Mittel und Formen der Ausübung von Kritik im literarischen Diskurs
Stehen die modernen Gelehrten wirklich auf den Schultern der alten und können deshalb weiter sehen? Diese Vorstellung ist sinnbildlich gemeint und bildet eine Position des Gelehrtenstreits ab, der um 1700 in Europa aufkam. Diese Analogie unterstützt die Ansicht, dass moderne Philosophen und Schriftsteller ihre neuen Erkenntnisse niemals ohne die zuvor erbrachte Leistung der alten Schriftsteller hätten gewinnen können. Die Zwerge können nur soweit sehen, da sie von der schon vorhandenen Größe der Riesen, auf deren Schultern sie stehen, profitieren. Oder etwa nicht? Die Frage nach dem Wert von Literatur für die Öffentlichkeit und wie dieser ermittelt wird, ist eine, die verstärkt mit dem Einbruch der Epoche der Aufklärung aufkam. Im Folgenden sollen anhand des Gelehrtenstreits die Positionen des Diskurses und die Mittel der Kritikübung herausgestellt werden, um zu betrachten, wie diese sich im Laufe der Zeit mit Beginn einer neuen Streitkultur verändert haben.
Der Gelehrtenstreit wurde durch William Temple im Jahre 1692 in England ausgerufen. Auslöser dafür war der Text An Essay upon the Ancient and Modern Learning. Die eine Seite plädierte dafür, das Erbe der antiken Schriftsteller und Philosophen in Frage zu stellen und stattdessen einen genaueren Blick auf die zeitgenössischen, modernen Autor.innen zuwerfen. Die andere Position war empört darüber, die vergleichsweise jungen Werke und Ansichten der Modernen mit jenen der antiken Denker zu vergleichen. Der Streit wurde über Schriften und Essays ausgetragen, die nur in gewissen, gebildeten Kreisen kursierten. Inhalt und Argumentation der Texte waren sehr anspruchsvoll und komplex, es wurden viele Parallelen zu anderen Texten gezogen, sodass dem weniger belesenen Publikum der Zugang zur Debatte verwehrt blieb.
Das änderte sich allerdings mit der Schrift von Jonathan Swift The Battle of the Books. Diese fand Anklang in einer breiten Leserschaft auch außerhalb der intellektuellen Kreise der damaligen Zeit. In der satirischen Kurzgeschichte beschreibt Swift einen Kampf, der in einer Bibliothek ausgetragen wurde. Auf der einen Seite befinden sich die Bücher der alten Schriftsteller, welche den Büchern der modernen auf der anderen Seite gegenüber stehen. In einem Vorwort des Verlegers an das Publikum wird die vorliegende polemische Situation erläutert. Hierbei handelt es sich um eine wertende, auf Meinungen und nicht Fakten beruhende Streitsituation, welche persönlich und unsachlich ausgetragen wird. Auslöser sei die von Sir William Temple veröffentlichte Schrift An Essay upon the Ancient and Modern Learning. In diesem Text kritisiert Temple die englische Intellektuellenszene der Royal Society, welche verantwortlich sei für die kategorische Ablehnung von moderner Literatur und deren Autor:innen. Da dem Wortgefecht kein Ende zu setzen war, fühlten sich die Bücher verantwortlich einzuschreiten. Und so habe sich die Schlacht zwischen den alten und den modernen Büchern ereignet. Die Ausgangssituation macht die Unmöglichkeit eines allgemeingültigen Urteils über den Wert von Literatur deutlich, da nach etlichen Wortgefechten, Essays und Kommentaren kein befriedigender Kompromiss für beide Seiten in Aussicht war. Doch mit welchen Mitteln kann Literaturkritik ihr Publikum dennoch überzeugen?
The Battle of the Books stellt nicht nur eine satirische Schrift dar, die bereits zeitgenössisch sehr beliebt war. Bemerkenswert ist vor allem, dass nun auch die Öffentlichkeit am Diskurs der Literaturkritik teilnehmen konnte. Es geht eben weniger um die Frage, wer diese Auseinandersetzung denn letztlich gewonnen hat. Ein solches Ende wird im Text auch gar nicht deutlich, und zwar da, laut Verleger, einige Seiten des Manuskripts so beschädigt waren, dass man gar nicht mehr erkennen könne, wie die Schlacht ausgegangen sei. Der Adressatenkreis ist demnach gezwungen, selbst ein Urteil über die Argumentationen der beiden Seiten zu fällen. Die Lesenden werden hier also unweigerlich in den Prozess der Literaturkritik einbezogen. Im Folgenden soll ein Einblick in die Schlacht der Bücher gewährt werden. Anschließend werden die darin enthaltenen Positionen unter Einbezug einer theoretischen Perspektive auf polemische Situationen analysiert. Hierbei sollen die Charakteristika von Satire und Polemik analysiert werden, um deutlich zu machen, wieso es sich hierbei um besonders geeignete Methoden eines literaturkritischen Diskurses handelt. Ziel ist es zu erklären, mit welchen Mitteln Literaturkritik damals funktioniert hat, wie sich die Tradition veränderte und unter welchen Bedingungen das Publikum überzeugt wird.
The Battle of the Books – Die Ausgangssituation
Swift erläutert in den ersten Seiten die Ausgangssituation einer Gegenüberstellung zwischen den Alten und den Modernen, um so den Grund für die Schlacht erkenntlich zu machen. Der Streit hatte seinen Ursprung in Griechenland, um genauer zu sein, in der Region um den Hügel Parnass. Dieser Hügel war einst dem griechischen Gott Apollon gewidmet und gilt als Heimat der Musen, welche in der griechischen Mythologie als die Schutzgöttinnen der Kunst dargestellt werden. Der Parnass ist ein symbolträchtiger Ort, nicht nur für die griechische Mythologie: Zum einen wurden Schriftsteller und insbesondere Dichter, die auf der Suche nach neuer Inspiration sind häufig mit Musen verglichen. Zum anderen wurde der Parnass als Sinnbild eingesetzt, um einen literarischen oder kreativen Höhepunkt in Form eines Werkes oder eines Kunstschaffenden zu benennen. Die Alten bewohnten den größten Gipfel des Parnass und die Modernen besetzten den kleineren. Von dieser ungleichen Lage ausgehend beklagen sich die Modernen über ihre Stellung und fordern von den Alten, dass sie sich entweder vom höheren Hügel zurückziehen sollen oder sich damit zufriedengeben, dass die Modernen kommen, um den Gipfel so weit abzutragen, dass diese wieder darüber hinwegsehen können. „Die Alten erwiderten, sie hätten eine solche Botschaft wenig erwartet, zumal von einer Kolonie, die sie aus freiem Antrieb so dicht in ihrer Nähe aufgenommen hätten. […] Sie würden also den Modernen eher raten, ihren eigenen Gipfel zu erhöhen, statt daran zu denken, den der Alten einzureissen; jenes würden sie nicht nur erlauben, sondern sie würden sogar in grossem Umfange dabei mithelfen“.[1]Doch es wird deutlich, dass die Modernen nicht darauf aus sind, einen Kompromiss zu finden, weshalb sie das großzügige Angebot der Alten ablehnen. Nun stehen sie vor einem langwierigen Krieg um die Frage, wer die Deutungshoheit im literarischen Diskurs erhält oder behalten darf.
Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen Krieg mit echten Waffen und physischer Gewalt. „In diesem Streit sind ganze Ströme von Tinte erschöpft worden […]“.[2] Doch da keine Einigung und kein Frieden in Aussicht war, rühmten sich einfach beide Seiten gleichzeitig. Es werden auf beiden Seiten Trophäen errichtet, da beide Parteien der Meinung sind, dass sie überzeugender seien als ihre Gegner. Swift meint mit Trophäen die Argumente, Erörterungen, Thesen und Erwiderungen des jeweiligen Lagers. Da jede Partei des Streits stimmige und überzeugende Argumente für ihre Position gefunden hat, gibt es demnach Auszeichnungen auf beiden Seiten. Das erklärt, warum der Streit so unendlich scheint. Nachdem die Schriften, egal aus welcher Zeit sie stammen, an aktuellem Interesse abgenommen haben, werden sie, sofern sie von hoher Wichtigkeit sind, in Bibliotheken verwahrt. „In diese Bücher wird der Geist eines jeden Kriegers eingeträufelt, um dort konserviert zu werden, solange er lebt; nach seinem Tode aber wandert seine Seele hinein, um sie zu beleben“.[3] Diese Schriften der Krieger werden in der Bibliothek unter besonderem Verschluss gehalten, damit sie die anderen Bücher in Frieden lassen. Um die Bücher selbst voreinander zu schützen, sollten sie zusätzlich noch angekettet werden. Alle größeren Polemika sollten von diesem Zeitpunkt an mit einer Kette versehen werden. Doch als „in den letzten Jahren eine neue Gattung polemischer Bücher aufgekommen“[4] ist, wurde der einst ruhende Streit mit neuer Intensität wieder aufgegriffen. Mit allen Mitteln der Polemik soll nun die Position der Alten vernichtet und der Maßstab der Modernen errichtet werden.
Der Gelehrtenstreit als Beispiel für eine polemische Situation
Laut Jürgen Stenzel (1986), einem deutschen Geisteswissenschaftler und Germanisten, ist die Polemik keine zu lernende, auf Tradition beruhende Gattung. „Wesentlich ist sie eine spontane Redeform, für die es keine spezielle Regelkompetenz gibt.“[5] Dabei beinhaltet die polemische Situation folgende Komponenten: Alles geht von einem polemischen Subjekt, das man auch als Polemiker bezeichnet, aus. In unserem Falle handelt es sich um die Vertreter der Modernen. Die angegriffene Seite wird als polemisches Objekt bezeichnet; hier die Vertreter der Alten, die von den Vertretern der Modernen angegriffen werden. Es gibt noch eine dritte, alles entscheidende Position, die über den Ausgang der polemischen Situation urteilt: Die polemische Instanz.Es handelt sich hierbei um ein direkt oder indirekt angesprochenes Publikum, das am Ende einer polemischen Rede darüber urteilt, welche Position nun schlüssiger oder vertretbarer sei. Als polemische Instanz gilt das Publikum einer Rede oder die Lesenden eines Textes.
Jeder polemischen Situation liegt ein polemisches Thema zugrunde, welches den Gegenstand der Auseinandersetzung bildet. Im Gelehrtenstreit ergibt sich das polemische Thema aus dem Geltungsanspruch der Modernen und der Alten. Ziel des polemischen Subjekts, also der modernen Schriftsteller, ist es, das Publikum davon zu überzeugen, dass ihre Ansichten wertvoller und hochwertiger sind als die der Alten. Damit der Überzeugungsversuch gelingt, wird versucht, die Gegenseite nicht nur durch Argumente, sondern auch durch einen von Wertgefühlen, Aggressivität und Personalisierung geleiteten Angriff zu zerstören. Es kann also keine Position dazwischen geben. Das wird in der Ausgangssituation, welche sich um den Hügel Parnass ereignet hat, deutlich. Die Modernen wollen ihre Position nicht durch die Hilfe der Alten erhöhen, sie wollen vielmehr die Position der Alten und somit ihren Platz einnehmen.
Damit die polemische Instanz die Dringlichkeit der Auseinandersetzung auch erkennt, muss das polemische Subjekt beweisen, dass das polemische Objekt relevant ist. Auf diesen Falle bezogen steht die Relevanz der Klassiker aus der Antike für viele außer Frage. Darüber hinaus muss das polemische Objekt als minderwertig und schädlich gebrandmarkt werden. Erst wenn das gegeben ist, hat der Polemiker eine Legitimation für seinen aggressiven, persönlichen und vernichtenden Angriff auf das polemische Objekt. Den Alten wird deshalb nachgesagt, dass sie für die Gegenwart nicht mehr relevant seien, da es die moderne Literatur sei, die moderne Fragen löse. Denn moderne Literatur entwickelt auch moderne Methoden, welche es in der Antike eben noch nicht gab. Die positive Selbstdarstellung ist ein wichtiges Werkzeug dabei, die Gegenposition außer Kraft zu setzen.[6] So wird stark auf die Aktualität und die Innovation moderner Autor:innen verwiesen.
Im vergangenen Teil wurde nun anhand des Gelehrtenstreits gezeigt, wie eine polemische Situation aufgebaut ist und inwiefern dabei ein Subjekt und ein Objekt ein bestimmtes Thema ausdiskutieren. Es wurde deutlich, dass im Rahmen einer satirischen Schrift, welche eigentlich frei von Werturteilen ist, durchaus subjektive Ansichten verhandelt werden können. So wird das Publikum Teil des Prozesses und muss entscheiden, welche Positionen plausibler erscheinen. Da Satire und Polemik literarische Techniken sind, welche häufig miteinander verbunden sind, gilt es im nächsten Teil, eine genauere Abgrenzung dieser Methoden vorzunehmen.
Die Mittel der Satire und Polemik im Verhältnis zueinander
Die wichtigste Gemeinsamkeit der Gattungen von Satire und Polemik ist die, dass es sich bei beiden um Mittel der Kritik handelt, die aus dem literaturkritischen Diskurs nicht wegzudenken sind. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Die Satire argumentiert nicht.
Ähnlich wie in der Polemik findet allerdings auch in einer satirischen Situation ein Angriff statt. Der Angriff ist eine Komponente, die in vielen Definitionen von Satire als unumstritten gilt. Und doch ist dieser Angriff, im Unterschied zur Polemik, nicht auf eine einzige Person oder Personengruppe gerichtet, sondern kritisiert vielmehr einen (gesellschaftlichen) Zustand. Im Vergleich zum polemischen Objekt, das vom polemischen Subjekt, welches klar Position bezieht und dementsprechend nicht mehr erörtert, persönlich angegriffen wird, handelt es sich beim Objekt der Satire nicht einfach um eine Person. Vielmehr geht es hier um einen allgemeinen Missstand, der sichtbar gemacht werden soll. Dabei soll aber nicht für eine Änderung dieses Missstandes plädiert werden, sondern dem Publikum wird selbst überlassen, welche Position es beziehen möchte. Der Missstand ist bei Swift der Streit um die Deutungshoheit an sich, da es eine Unmöglichkeit darstellt, diesen Streit mit einem finalen Urteil zu beenden. Er beschreibt sowohl die Sicht der Modernen als auch die Gegenansicht der Alten. Wie erwähnt teilt er dem Publikum mit, dass einige Seiten fehlen und der Leser selbst darüber entscheiden solle, wer gewonnen habe. Zudem sind weitere fehlende Textstellen zu beklagen. Es wird auch nicht bekannt gegeben, ob die Bücher sterben, stattdessen wird an entsprechender Stelle in lateinischer Schrift darauf verwiesen, dass hier Seiten fehlen: „Hic pauca desunt“, was so viel heißt wie: Hier fehlen ein paar Worte. Oder: „Desunt nonnulla“, was übersetzt werden kann mit: Manche fehlen. Es wird in der satirischen Darstellung also stets darauf geachtet, keine Stellung zu beziehen.
Bei der polemischen Rede hingegen versucht das polemische Subjekt die polemische Instanz auf seine Seite zu ziehen, um die Auseinandersetzung für sich zu gewinnen. Dass das bei Swift nicht der Fall ist, wird anhand der Vorrede an die Lesenden deutlich: „Die Satire ist eine Art Spiegel, in dem die Beschauer allgemein jedermanns Gesicht erkennen, nur ihr eigenes nicht; das ist der Hauptgrund, weshalb sie in der Welt eine so gute Aufnahme findet und weshalb so wenig Leute an ihr Anstoss nehmen.“[7] Swift macht sich nicht nur über die Gelehrten und ihren Streit lustig, sondern auch über das Publikum der Satire. Er beleidigt das Publikum insofern, dass er behauptet, die Lesenden seien nicht in der Lage, sich selbst zu kritisieren, sondern sähen nur die Kritikpunkte und übertrügen sie auf ihre Mitmenschen. Indirektheit ist das entscheidende Merkmal der Satire, das diese von der reinen Kritik abgrenzt.
Es geht also nicht allein um die Äußerung von Kritik an einem nicht zufriedenstellenden Zustand, sondern ebenso um die Verschlüsselung dieser Kritik in Formen der Kunst. Diese Verschlüsselung von Kritik gestaltet sich über die Stilmittel der Satire. Eines der wichtigsten Elemente, das in diesen Stilmitteln beinhaltet ist, ist die Komik. Durch komische oder gar groteske Darstellung einer Situation soll der Missstand, der zu beklagen ist, unterstrichen werden. Damit soll uns bewusst gemacht werden, wie absurd der derzeitige Zustand eigentlich ist. Swift gelingt eine solche Darstellung durch die Übertragung einer Auseinandersetzung zwischen Vertretern gegensätzlicher Strömungen auf eine Schlacht zwischen den von ihnen verfassten Büchern. Weil die Gelehrten nicht in der Lage waren, sich zu einigen, fühlten sich die Bücher verpflichtet, diesen Kampf auszutragen. Der eigentliche Gelehrtenstreit, der zwischen den Vertretern der Modernen und jenen der Alten stattfindet, wird in ein Szenario übertragen, das einen Kampf zwischen der von ihnen verfassten Literatur darstellt. Damit thematisiert Swift das größte Problem der Literaturkritik der folgenden Jahrhunderte: Es gibt nicht die eine richtige Position, wie es die Polemiker uns weismachen wollen. Jedoch muss es Kriterien geben, um subjektive Kritik und persönliche Empfehlungen glaubhaft erscheinen zu lassen.
Der Normbezug ist eine weitere wichtige Komponente der Satire. Ohne den Bezug zu einem Ideal, das gegenwärtig noch nicht erreicht ist oder gar nicht erreicht werden kann, handelt es sich um einen bloßen Angriff. Doch genau das ist Satire schließlich nicht. Die Satire macht laut Friedrich Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung den Widerspruch der Realität mit ihrem idealen Zustand zum Gegenstand. Ein nicht zufriedenstellender Zustand, der einem nicht erreichten Ideal gegenübersteht, aber erstrebenswert wäre, steht also im Mittelpunkt der Kritik satirischer Schriften. Und so ist es auch bei Swifts Schlacht der Bücher. Die Bibliothek, in der die Schlacht stattfindet, steht für einen Ort, an dem Menschen in Austausch treten. Genauer gesagt steht die Bibliothek für ein Netzwerk von Schriftstellern, die miteinander oder gegeneinander argumentieren, Thesen austauschen und zum gleichen Sachverhalt verschiedene Standpunkte einnehmen. Das Ideal wäre, dass alle Schriftsteller untereinander einen guten Umgang pflegen und respektvoll miteinander umgehen. Da der Anspruch, der im Streit ausgehandelt werden soll jedoch viel zu hoch ist, kommt es zu keiner Einigung. Denn letztendlich schließen sich die Standpunkte gegenseitig aus: Die Modernen würden sich gerne an einem Maßstab messen, der bis dato in der Zukunft liegt und versuchen den derzeitigen Maßstab, der an die Werke der Alten angelegt ist, für nichtig zu erklären. Wohingegen die Alten der Meinung sind, dass es ohne ihre Schriften und Erkenntnisse auch gar nicht zu einem modernen Denken hätte kommen können. Diese Ansicht wird durch die Vorstellung von Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen, hervorgehoben. Die zuvor geschilderte groteske Darstellung, dass Bücher gefesselt und gefangen werden müssen, da sie sonst gewalttätig werden, lässt sich auf die Ausgangssituation und die letztendliche Eskalation des Gelehrtenstreits übertragen. Die Gelehrten finden keinen Weg mehr, miteinander zu streiten, da ihre Positionen zu weit auseinander scheinen, weshalb ein Krieg der Worte ausbricht.
Entwicklung der Literaturkritik unter weiterem Steigen des öffentlichen Interesses
Die Gattung der Satire bietet eine gute Möglichkeit, einen ernst zu nehmenden Sachverhalt oder Missstand durch komische Darstellung zu präsentieren und dadurch Kritik an ihm zu äußern. Eine solche Darstellung lockt zwar ein breiteres Publikum, jedoch besteht durch die fast schon lächerliche Darstellung eines Konfliktes die Gefahr, dass Ernsthaftigkeit verloren geht und Satire nur noch zur reinen Unterhaltung dient. Der Gelehrtenstreit war der Vorreiter für eine Streitkultur, die sich im 18. Jahrhundert im Zuge der modernen Literatur und Literaturkritik entwickelte. Durch Polemik und Satire wurden neue Möglichkeiten der Ausübung von Kritik eröffnet, die eine größere Zielgruppe ansprechen, da ernstzunehmende Sachverhalte und die damit verbundene Unzufriedenheit auf unterhaltsame Weise dargestellt werden.
Das Publikum, das sich für Literaturkritik interessierte, war nicht länger eines, das ausschließlich aus Gelehrten besteht. Auch gebildete Bürger:innen waren unter den Interessierten der Literaturkritik zu finden. Dies wird beispielsweise anhand von Lessings Literaturbriefen deutlich. Es handelt sich hierbei um eine kritische Wochenzeitschrift aus der Zeit der Aufklärung, die Lessing ins Leben rief. Zusammen mit zwei weiteren Autoren lieferte Lessing selbst die meisten Beiträge aus dieser Zeitschrift. In diesen verkündetet er auf sehr subjektive Art und Weise seinen Blick auf die zeitgenössische Literatur. Diese Wochenzeitschrift war für die breite Öffentlichkeit zugänglich und aufgrund ihrer höchst subjektiven und polemischen, teilweise nicht einmal gut begründeten Äußerungen von hoher Beliebtheit. Der Streit um das Ansehen und das Wirken von Literatur hat sich hier also nur noch auf die modernen Literaten der Zeit beschränkt. Die Methode dieser Wochenschriften war es, eine subjektive Wahrnehmung, aus der sich dann die Kritik entwickelt, so zu verkaufen, dass das Publikum den Geschmack des Kritikers als Kriterium für gute Literatur befindet. Die Position des Subjekts und wie diese an die Öffentlichkeit getragen wird, ist hier also viel wichtiger als die Legitimität der Kritik.
Stehen die Zwerge nun auf den Schultern der Riesen?
Um an dieser Stelle die anfangs gestellte Frage nach den Zwergen, welche auf den Schultern der Riesen sitzen, aufzugreifen, soll auf die Veränderung des Verhältnisses zwischen Literaturkritik und Öffentlichkeit hingewiesen werden. Die Beliebtheit von modernen, kritikübenden Texten, welche sich auf moderne Literatur oder gegenwärtige Zustände beziehen, steigt im 18. Jahrhundert und in der darauffolgenden Zeit stark an. Dies macht zum einen die Popularität Swifts deutlich, welcher später mit weiteren satirischen Geschichten wie Gullivers Reise in der Öffentlichkeit blieb, zum anderen aber wird dies auch durch die hohe Nachfrage nach Polemikern wie Lessing bestätigt. Es scheint, als hätten sich die Modernen stetig weiter von den Alten emanzipiert, weshalb die Frage gar nicht mehr so zentral scheint, da sich offensichtlich eine gewisse Deutungshoheit von selbst etabliert hat. Natürlich kann aus heutiger Sicht gesagt werden, dass antike Klassiker stets einen festen Platz im literarischen Diskurs haben. Jedoch scheint es zunehmend legitimer geworden zu sein, sich zu einem großen Teil mit Gedanken und Texten zeitgenössischer Autor:innen zu beschäftigen, welche zudem auch noch unterhaltsamen Charakter aufweisen.
[1]Jonathan Swift, Ein ausführlicher und wahrhaftiger Bericht über die Schlacht, die letzten
Freitag in der St. Jakobsbibliothek zwischen den alten und den modernen Büchern ausgefochten
wurde, in: Prosaschriften, Bd. 2, hg. von Greve, F.P, London 1704, Bd. 2, 2.
[2]Ebd.
[3]Ebd. 3.
[4]Ebd. 3.
[5]Vgl. Jürgen Stenzel, Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik,
Göttingen 1986, 5ff.
[6]Vgl. Stenzel, Rhetorischer Manichäismus. 5ff.
[7]Swift, Schlacht der Bücher, 1.