Ein Blog für Aufsätze des Germanistischen Institutes der MLU Halle

Süßes Vergehen – Seliges Grauen – Tim Schiwek

Tim Schiwek

Süßes Vergehen – Seliges Grauen

Siegfrieds Tod im Nibelungenlied und Richard Wagners Ring des Nibelungen

Einleitung

„Uns ist in alten mæren wunders vil geseit“ (NL, C1.1)[1] verkündet der erste Vers des Nibelungenliedes und damit eines der bekanntesten mittelhochdeutschen Texte überhaupt. Die Qualität und Popularität des Nibelungenliedes sind bis heute unbestritten, während verhältnismäßig wenig andere mittelhochdeutsche Texte rezipiert werden.[2] Die literaturhistorische Bedeutung des Nibelungenliedes zeigt sich allein daran, dass es mittlerweile 66 vollständige Übersetzungen des Epos und mehrere hunderte Adaptionen gibt, die zumeist mit Änderungen in Handlungsführung und Personengestaltung einhergehen.[3]

Eine dieser Adaptionen lieferte Richard Wagner mit seinem vierteiligen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen. Die Entstehungsgeschichte des Rings zeigt, dass die Legende um Siegfried den Drachentöter nicht nur für Wagner, sondern auch für seine Mitmenschen von zentraler Bedeutung war. Aufgrund dessen soll im Folgenden untersucht werden, wie Siegfrieds Sterbeszene im Ring (genauer im vierten Teil, der Götterdämmerung) im Vergleich zum Nibelungenlied dargestellt werden. Neben dem Ablauf der Ermordung soll die daraus folgende Charakterisierung der Figuren im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Dazu soll untersucht werden, ob die Unterschiede aus der Handlungsführung und Quellenlage heraus motiviert sind, oder sich in Wagners Weltbild und Idealbild des Musiktheaters begründen lassen.

Vom Heldenepos zum Göttermythos – Zur Entstehung des Rings

Während nach seiner Wiederentdeckung 1755 zunächst nur intellektuelle Kreise Interesse am Nibelungenlied zeigten, setzte ab ca. 1810 vor dem Hintergrund der antinapoleonischen Bewegungen eine populärere Rezeption ein, die neben der wissenschaftlichen Rezeption besonders unter dem Aspekt der „Suche nach nationaler Identität in einer in zunehmendem Maße verklärten Vergangenheit“[4] und „im Zeichen eines zunehmenden übersteigerten Nationalismus“[5] stattfand. Das Nibelungenlied und die ihm zugrundeliegenden Sagen wurden im Sinne des deutschen Nationalismus umgedeutet, so deutete beispielsweise August Zeume den Sieg Siegfrieds über den Drachen als „Sinnbild eines deutschen Sieges über Frankreich“.[6] In dieser Deutung tritt Deutschland, verkörpert durch den prototypischen Helden, dem listigen und gefährlichen Drachen gegenüber und bekommt metaphorisch alle daran gebundenen Merkmale zugesprochen: Stärke, Willenskraft und höfische Tugend, während Frankreich durch die Gleichsetzung mit dem Drachen stark negativ konnotiert wird. Hieran zeigt sich auch, dass sich die populäre Rezeption eher auf den alten Sagenkreis des Nibelungenstoffes, der sowohl das Lied als auch andere (nordische) Textverarbeitungen wie die Edda, die Völsunga saga und die Thidrekssaga umfasst, als auf das Nibelungenlied selbst beruft,[7] da die Tötung des Drachen im Lied nicht dargestellt, sondern in nur einer einzigen Strophe von Hagen fast schon beiläufig erwähnt wird, als er Gunther und dem Wormser Hof Siegfrieds Biographie darlegt.

Richard Wagner verkündete bereits 1848 einen Teil des Nibelungenstoffes, die Siegfriedsage, also den Teil des Nibelungenstoffes, der von Siegfrieds Heldentaten und dem Kampf mit dem Drachen erzählt, vertonen zu wollen.[8] Er wollte in musiktheatralischer Form vom übermenschlich starken Helden Siegfried berichten, der den Drachen Fafner erschlägt, um den Nibelungenschatz an sich zu nehmen und schließlich die schöne Brünnhilde zu werben. Der Stoff der Nibelungensage schien Wagner für die musikdramatische Umarbeitung ideal, da „ein Sagenstoff, der sich durch Simplizität der Handlung und unreflektiertes Pathos von einem geschichtlichen oder modernen Sujet unterscheidet, für das musikalische Drama geradezu vorbestimmt ist“.[9] Nach prosaischen Vorstudien entstanden die Textbücher der vier Opern Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung, die 1863 publiziert wurden.[10] In den folgenden elf Jahren widmete sich Wagner der Komposition, bevor der Ring im Sommer 1876 zur Aufführung bei den Bayreuther Festspielen kam.[11] Wagner stützte sich hauptsächlich auf die altnordische Völsunga Saga, die Lieder-Edda und die Snorra-Edda.

Weniger wichtige Quellen waren das Nibelungenlied und die Thidrekssaga.[12] Wagner gab bewusst den nordischen Quellen den Vorzug bei der Konzeption und entnahm dem Nibelungenlied nur die deutschen Namen der Figuren,[13] denn er war interessiert daran, den Inhalt seiner Werke so zu konzentrieren, dass er weniger eine geschichtliche Wirklichkeit abbildet. Vielmehr wollte er ein Modell, den ‚Mythos‘, schaffen, der die zeitlose menschliche Wirklichkeit begreifbar macht und die menschliche und weltliche Natur abbildet. Das Nibelungenlied ließ sich seiner Auffassung nach nicht aus dem historischen und soziokulturellen Kontext seiner Entstehungszeit herausbrechen – es war Wagner zu viel Historie und zu wenig Mythologie.[14]

„Nun zeug’ sein Zauber Tod dem, der ihn trägt!“ – Die Handlung der Götterdämmerung

Zu Beginn der Götterdämmerung künden drei Nornen das Ende der Welt an. Siegfried schenkt Brünnhilde den aus Rheingold geschmiedeten Ring, den er in der vorherigen Oper (Siegfried) dem Riesenwurm Fafner geraubt hat. Was er nicht weiß: Der Ring wurde vom Nibelung Alberich bereits zu Beginn des Zyklus mit den Worten „Nun zeug’ sein Zauber Tod dem, der ihn trägt!“[15] verflucht.

Auf der Suche nach neuen Abenteuern gelangt Siegfried zu den Gibichungen. Gunther, deren König, möchte die Walküre Brünnhilde zur Frau haben und verspricht Siegfried die Ehe mit seiner Schwester Gutrune, wenn er sie, Brünnhilde, für den König wirbt. Hagen, ein Verwandter der Gibichungen und Sohn Alberichs, verfolgt einen finsteren Plan, denn er will den Ring an sich nehmen. Er gibt Siegfried einen Trank, der ihn seine beschworene Liebe zu Brünnhilde vergessen und in die Brautwerbung einwilligen lässt.

Den Untergang der Welt, die Götterdämmerung, könnte nur noch eines aufhalten: die Rückgabe des Rings an die Rheintöchter. Dies lehnt Brünnhilde jedoch ab, als es ihre Schwester Waltraute fordert. Sie wird von Siegfried, der mithilfe des Tarnhelms wie Gunther aussieht, geworben und heiratet den König. Doch sie wittert den Betrug schnell und verlangt, die Wahrheit zu erfahren. Siegfried beteuert, von Hagens Trank zum Vergessen verdammt, Brünnhilde noch nie gesehen zu haben und schwört unwissend einen Meineid, den Hagen und Brünnhilde vergelten wollen: Siegfried soll sterben.

Nach dem Mord an Siegfried erkennt Brünnhilde die Intrige Hagens, nimmt den Ring wieder an sich und stürzt sich in die Flammen des Scheiterhaufens, auf dem Siegfrieds Leiche liegt: „Siegfried!/Selig gilt dir mein Gruß!“.[16] Hagen springt ihr hinterher, um den Ring zu retten. Der Rhein tritt über die Ufer, Hagen wird von den Rheintöchtern unter Wasser gezogen und findet seinen Tod. Die Rheintöchter können den Ring an sich nehmen. Die Götterwelt ist gefallen, die menschliche Welt ebenfalls. Der Rheinschatz kehrt zur Natur zurück – sie überdauert die Welt der Menschen und Götter.

Der Mord aus Sicht der beteiligten Personen – ein Szenenvergleich

An der Mordszene (Âventiure 16 im Nibelungenlied, III/1 und III/2 in der Götterdämmerung) sind vier Personengruppen beteiligt. Im nachfolgenden Kapitel wird der Mord an Siegfried aus Sicht beziehungsweise mit Fokus auf diese vier Personengruppen verglichen.

Die Warnenden – Kriemhild und die Rheintöchter

In beiden Werken wird Siegfried gewarnt, dass sein Leben in Gefahr ist. Im Nibelungenlied nimmt Kriemhild, die Frau Siegfrieds, die Rolle der Warnenden ein. Sie versucht, Siegfried von der Teilnahme an der bevorstehenden Jagd abzuhalten, indem sie erzählt, sie habe geträumt, „wi zwei wildiu swîn/jageten über heide,/dâ wurden bluomen rôt“ (NL, 918.2f.). Auch wenn sie nur indirekt redet, wird deutlich, dass sie um Siegfrieds Leben besorgt ist: „Ich fürhte harte sêre etelichen rât,/ob man der deheinem missedienet hât“ (NL, 919.1f.). Statt von Gunther und Hagen zu sprechen, spricht Kriemhild von Wildschweinen und entmenschlicht ihren Bruder und Verwandten,[17] vermutlich aus Abscheu vor dem, was sie zu passieren befürchtet. Siegfried wähnt sich in Sicherheit und meint, er kenne niemandem, der ihm nicht wohlgesonnen sei. Deshalb fährt Kriemhild mit einem zweiten Traum fort: „mir truomte hînte leide, wi ob dir ze tal/vielen zwêne berge. ine gesach dich nimmer mê.“ (NL, 921.2f.). Sie wird deutlicher: Während der erste Traum von einem Grauen berichtet, zeugt der zweite Traum von seinem Grauen. Bereits in der ersten Âventiure sagte Kriemhilds Falkentraum Siegfrieds Tod voraus. Sie fürchtet, Hagen könnte das Wissen um Siegfrieds verwundbare Stelle gegen ihn nutzen. Siegfried wird, während er im Sterben liegt, sagen, er hätte die Tat verhindern können, wenn er von der Verschwörung gewusst hätte. Möglicherweise wäre es der rettende Umstand gewesen, hätte Kriemhild an dieser Stelle offen gesprochen und Siegfried gebeichtet, dass Hagen von der verwundbaren Stelle zwischen seinen Schulterblättern weiß.

Im Ring trifft Siegfried die Rheintöchter während der Jagd. Sie wünschen von ihm den Ring und bieten dabei ihre Hilfe bei der bisher erfolglosen Jagd an. Als Siegfried das ablehnt, meinen sie, er solle Frauen gegenüber freigiebig sein (vgl. GD, 1521f.), woraufhin er gesteht, seine Gattin Gutrune würde dies nicht gutheißen. Die Rheintöchter lachen ihn aus und hinterfragen seine Männlichkeit (vgl. GD, 1525ff.). Er will sich ihnen gegenüber behaupten und verneint ihnen den Ring, weshalb sie ihn geizig nennen (vgl. GD, 1535). Erneut in seinem Stolz gekränkt, will er ihnen den Ring geben, was sie ablehnen und ihm den Ringfluch verkünden: „Wie den Wurm du fälltest/so fällst auch du,/und heute noch“ (GD, 1564ff.). Siegfried beruft sich auf seine körperliche Kraft. Die Rheintöchter schwimmen davon, ihm erneut den Tod kündend (vgl. GD, 1623ff.).

Die Interessen der Warnenden unterscheiden sich gravierend und geben Rückschluss auf die Motivationen der Figuren: Kriemhild hat ein schlechtes Gewissen und fürchtet zu Recht um ihren Gatten. Sie möchte ihn von der Teilnahme an der Jagd abhalten, um ihn vor dem Mord zu bewahren. Die Rheintöchter sind nicht an Siegfried interessiert, ihr Interesse gilt allein dem Ring. Sie warnen Siegfried nicht, um den Mord zu verhindern, sondern denken, die Verheißung des Mordes könnte ihn davon überzeugen, ihnen den Ring zurückzugeben und damit die Götterdämmerung abzuwenden. Beide Warnungen bleiben wirkungslos und enden mit der gleichen Folge: Siegfried wird sterben. Während im Nibelungenlied Kriemhilds Verschwiegenheit über das Geschehene im Zusammenspiel mit Siegfrieds übermäßigem Glauben an seine Unbesiegbarkeit dafür sorgt, dass ihre Warnung wirkungslos bleibt, ist es in der Götterdämmerung Siegfrieds Unwillen, die Verheißung ernst zu nehmen und seine gnadenlose Selbstüberschätzung (die man in beiden Texten als Übertreibung ritterlichen hôhen muotes verstehen kann[18]), die ihn geradewegs in den Tod laufen lassen.

Der Täter – Hagen

Im Nibelungenlied schlägt Hagen vor, die Jägerschar aufzuteilen, um zu sehen, wer der beste Jäger sei (vgl. NL, 927.4f.). Er stachelt damit Siegfrieds Eifer an, sein Können unter Beweis zu stellen. Hagen tritt erst im Lager wieder in Erscheinung, wo er sich dafür verantwortlich zeigt, dass der Wein in das falsche Lager geliefert wurde. Er gibt an, dies sei ein Versehen gewesen (vgl. NL, 964.2f.). Seinem Plan folgend erwähnt er: „ich weiz hie bî nâhen einen brunnen kalt“ (NL, 966.2) und fordert Siegfried zum Wettrennen heraus, indem er der Gesellschaft von dessen Geschwindigkeit berichtet. Er bietet sich als Gegner an und bekommt den Vorteil zugestanden, ohne Waffen und Gewand zu rennen. Auch wenn naheliegt, dass Hagen Siegfried in diesem Kampf unterlegen wäre, ist nicht ausgeschlossen, dass Hagen Siegfried das Wettrennen gewinnen lässt, um ihn an der Quelle zu töten.

In der Götterdämmerung zeigt sich Hagen verwundert, dass Siegfrieds Jagd erfolglos blieb und kündigt für sich allein den Mord an: „Das wäre böse Jagd,/wenn den beutelosen selbst/ein lauernd Wild erlegte!“ (GD, 1662ff.). Um den verstimmten Gunther aufzuheitern, fordert er Siegfried auf, Geschichten aus seiner Jugend zu erzählen. Im Folgenden stachelt Hagen Siegfried an, immer weiter zu erzählen und erwähnt einzelne Elemente der Geschichte, um Siegfried in die Richtung drängen, die den erwünschten Skandal auslösen wird. Schließlich mischt er ein Kraut in Siegfrieds Wein, das Gegenmittel für den Vergessenstrank aus dem zweiten Aufzug, und spricht dann die Erweckung Brünnhildes an (vgl. GD, Regieanweisung vor 1763; 1763ff.).

Den Mord selbst muss er im Lied noch vorbereiten: Er weiß, dass Siegfried ihn mit den richtigen Waffen auch nach dem Anschlag mühelos töten könnte und schafft Siegfrieds Schwert und Schild fort. Dass er Siegfrieds Speer nun unter der Linde aufhebt und als Mordwaffe benutzt (vgl. NL, 977.3f.), ist symbolträchtig: Sicherlich ist dies allein der praktischen Tatsache geschuldet, dass sich Hagens Waffen an anderem Ort befinden, allerdings ist es für Siegfried umso schmerzvoller, von der eigenen Waffe getötet zu werden. Während Siegfried nichtsahnend aus der Quelle trinkt, sticht Hagen den Speer durch die Markierung auf Siegfrieds Rücken, flieht und zeigt damit einmal mehr, im Kampf niemals gegen Siegfried ankommen zu können. Er ermordet ihn hinterrücks in einer Situation, in der Siegfried sich nicht in Gefahr sieht, und nutzt dessen einzige Schwachstelle aus, die Siegfried als geheim wähnt.

Nicht weniger hinterrücks geht der Mord in der Götterdämmerung vonstatten: Siegfried besingt gerade, wie er Brünnhilde erweckt hat. Hagen nutzt die Entrüstung Gunthers und die zwei Raben, die auffliegen, als Ablenkung. Er fragt „Errätst du auch/dieser Raben Geraun’?“(GD, 1795f.) und sticht Siegfried seinen Speer in den Rücken (vgl. GD, Regieanweisung vor 1798). Auffällig an dieser Stelle ist das Erscheinen der Raben. Diese sind Stellvertreter des Gottes Wotan, der mit ihrer Hilfe das Geschehen überwacht und somit eine wichtige Rolle im Mord an Siegfried einnimmt. Somit könnte auch Wotan als Hagens Komplize gewertet werden, der sich an Siegfried dafür rächt, dass er im dritten Aufzug in Siegfried seinen Speer zerstört und damit die Götterdämmerung eingeläutet hat. Im Gegensatz zum Nibelungenlied nutzt Hagen im Ring nicht Siegfrieds Speer, sondern seinen eigenen. Dieser ist von ebenso großer Wichtigkeit, da er im zweiten Aufzug der Oper das Rechtsmittel war, auf das Siegfried beeiden wollte, Brünnhilde nicht gekannt zu haben (vgl. GD, Regieanweisung nach 1240). Er steht parallel zu Wotans zerstörtem Speer, dessen Mittel der Rechtsprechung.

Reue zeigt keine der beiden Hagen-Versionen. Im Lied fordert er Gunther auf, froh zu sein, da Siegfried ihn nun nicht mehr angreifen könne (vgl. NL, 990) – weder persönlich noch politisch. Später gibt er an, dass es ihm gleich sei, wenn Kriemhild von seiner Schuld erfahre, da sie es war, „diu sô hat betrüebet den Brünhilde muot“ (NL, 998.3). Somit sind seine Motive deutlich: Rache für die Schmach an Brünhild und die Sicherung der Macht Gunthers, indem Siegfried als möglicher (politischer) Gegner ausgeschaltet wurde.

Hagens Motiv im Ring ist schwieriger zu durchschauen: Nach dem Mord ruft er „Meineid rächt’ ich!“ (GD, 1799). Hierin liegt nur die halbe Wahrheit. Während das Zitat die Rache für den Brautbetrug an Brünnhilde und Siegfrieds nachfolgenden Meineid zu meinen scheint – schließlich möchte Hagen für Recht und Ordnung sorgen und Siegfried bestrafen, ungeachtet dessen, dass sein Vergessenstrank für den Meineid sorgte –, liegen andere Motive im Rest der Opernhandlung: Im zweiten Aufzug bittet sein Vater Alberich Hagen, den Ring von Siegfried zu stehlen (vgl. GD, 898ff.). Für dieses Motiv am Mord Siegfrieds sprechen außerdem Hagens Mord an Gunther in der Szene nach Siegfrieds Tod und sein selbstmörderischer Versuch, den Ring aus dem flutenden Rhein zu holen. Dass Siegfried Gunther und Brünnhilde betrogen hat, war nur ein oberflächlicher Grund, den Hagen selbst inszenierte, um seinem Ziel, dem Ring, näherzukommen.

Das Opfer – Siegfried

Zu Beginn der Jagd zeigt das Nibelungenlied Siegfrieds als unbesorgten, fast schon naiven Ritter. Er nimmt die Sorgen seiner warnenden Frau nicht ernst:

ine weiz hie niht der luite,                    di mir iht hazzes tragen

alle dîne mâge                                      sint mir gemeine holt.

ouch hân ich an den degenen               hie niht anders versolt.

(NL, 920.2ff.)

Das Nibelungenlied charakterisiert Siegfried als hervorragenden, wenngleich überheblichen Jäger. Er meint, er brauche keine Jagdhunde, sondern nur eine Bracke, die ihn auf die Fährte des Wildes bringt (vgl. NL, 929) und stellt sein Jagdtalent zur Schau, indem er ohne oder mit nur wenig Waffenhilfe mehrere Tiere erlegt – so viele sogar, dass die Jäger ihn bitten, nicht alles Wild zu töten, was Siegfried jedoch nur belächelt (vgl. NL, 937).

Im Ring ist Siegfrieds Jagd weitaus weniger erfolgreich: lächelnd beklagt er, einen Bären nicht erhascht zu haben, ist aber auch nicht bereit, den Ring gegen den Erfolg bei der Jagd einzutauschen (vgl. GD, 1515f.). Als die drei Rheintöchter ihn als seiner Frau hörig und geizig auslachen, ist sein Stolz gekränkt. Er will ihnen den Ring nun doch geben. Wagners Siegfried ist kein so guter Jäger wie Siegfried im Lied. Er wirkt naiv und weiß nicht um die Bedeutung des Ringes, lässt sich von den Rheintöchtern aber auch nicht belehren. Er ist ein einfacher Mann, dessen Stolz durch die kleinste Beleidigung gekränkt wird und sicherlich auch Grund dafür ist, die Warnung nicht ernst zu nehmen. Auch hier ist er körperlich stark, wenngleich seine Stärke nicht so übermenschlich dargestellt wird wie im Lied.

Im Nibelungenlied fängt Siegfried einen Bären, um ihn im Lager freizulassen. Dass er dazu weder eine Waffe noch ein Pferd zur Verfolgung braucht, zeugt erneut von seinen übermenschlichen Kräften und Talenten. Gleichzeitig merkt der Erzähler des Liedes den Übermut Siegfrieds an – dass Siegfried den Bären fesselt, im Lager freilässt und anschließend erschlägt, zeugt von seiner Stärke. Außerdem lobt der Erzähler Siegfrieds Jagdgewand und Waffen („Von bezzerm pirschgewære gehôrt ich nie gesagen.“, NL, 949.1). Abgesehen vom Vermerk, Siegfried erscheine „in vollen Waffen“ (GD, Regieanweisung vor 1492), spricht der Ring nicht über seine Kleidung. Es liegt jedoch nahe, dass er aufgrund seiner Biografie – er wurde im Wald vom Zwergen Mime aufgezogen – nicht so prunkvoll gekleidet ist, wie es im Nibelungenlied der Fall ist, wo er von Beginn an als reicher Königssohn vorgestellt wird.

Statt einen Bären in das Lager zu schicken, wird bei Wagner eine andere Form der Unterhaltung gewählt: Hagen fordert Siegfried auf, Geschichten aus seiner Jugend zu erzählen. So erzählt er von Mime, davon, wie er das Schwert Nothung neu schmiedete, wie er den Nibelungenhort erwarb und begann, den Gesang der Waldvögel zu verstehen und wie er Mime tötete. Im Ring stellt der Inhalt der Erzählungen die Handlung der dritten Oper Siegfried dar, im Nibelungenlied wird die Geschichte des Horterwerbs und des Bades im Drachenblut von Hagen erzählt, bevor Siegfried in Worms einkehrt.[19]

Sich auf die höfische Sitte des gemeinsamen Weintrinkens berufend meint Siegfried im Nibelungenlied, „Ich hete wol gedienet, daz man mîn baz næme war.“ (NL, 963.1), als kein Wein geliefert wird. Er ist so durstig, dass er auf Hagens hinterlistigen Vorschlag eingeht, den Durst an der nahegelegenen Quelle zu löschen. Damit stuft Siegfried das gesamte Mahl herab: eigentlich ist das gemeinsame Trinken ein Ritual, das er aber wegen seines körperlichen Bedürfnisses vernachlässigt.[20] Siegfrieds Stolz lässt ihn an Hagens Wettrennen teilnehmen. Er ist sich seiner selbst, sicherlich zu Recht, sehr sicher, bietet er seinen Kontrahenten doch einen Vorsprung an, indem er sich vor Start hinsetzt und seine gesamte Jagdausrüstung anbehält (vgl. NL, 971f.). Dennoch gewinnt er das Rennen, wodurch seine körperliche Überlegenheit erneut betont wird. Ungeachtet dessen bleibt Siegfried seinen ritterlichen Tugenden treu, indem er seine Waffen nun ablegt und an der Quelle ausharrt, um Gunther zuerst trinken zu lassen.

Müller weist darauf hin, dass dies nicht nur ein Zeichen für höfische Tugend sei – schließlich ist das Ablegen der Waffen Zeichen des Friedens –,[21] sondern auch ein Merkmal seiner Ritterlichkeit, da er sein körperliches Bedürfnis nach höfischer Sitte zurückstellt.[22] Bereits der Erzähler des Liedes merkt an, dass jene höfische Tugend ihm zum Verhängnis wird: „Dô engalt er sîne zühte“ (NL, 977.1). Siegfrieds Waffen liegen an einer Linde, welche wieder an seinem Verderben beteiligt ist – analog zum Blatt des Lindenbaumes, das für Siegfrieds Verwundbarkeit verantwortlich ist, als es ihm beim Bad im Drachenblut zwischen die Schulterblätter fiel (vgl. NL, 899).

Eine Szene wie das Wettrennen im Nibelungenlied zeigt die Götterdämmerung nicht. Stattdessen geht Siegfrieds Erzählung von seiner Jugend weiter, nachdem Hagen das Gegengift des Vergessenstranks in Siegfrieds Horn tat. Er erinnert sich nun an seine Brautwerbung auf dem Walkürenfelsen und verkündet: „Den Helm löst’ ich/der herrlichen Maid;/mein Kuss erweckte sie kühn“ (GD, 1789ff.). Da Siegfried im zweiten Aufzug der Götterdämmerung beschwören wollte, Brünnhilde nicht gekannt zu haben, ist gerade der letzte Teil seiner Unterhaltung skandalös. Siegfried wird von Hagen mit Hinweis auf die Raben abgelenkt und hinterrücks erstochen. Die folgende Regieanweisung beschreibt, wie Siegfried sein Schild noch erhebt, um Hagen damit zu erschlagen, dies aber nicht schafft und sterbend zusammenbricht.

Während Siegfried im Lied an der Quelle kniet und nichtsahnend seinen Durst stillt, zielt Hagen mit Siegfrieds Speer auf das von Kriemhild eingenähte Kreuz zwischen Siegfrieds Schulterblättern (vgl. NL, 978.2f.). Siegfried „tobelichen von dem brunnen spranc“ (NL, 980.1), sieht sich nach seinen Waffen um, findet aber nur den Schild, mit dem er Hagen niederschlägt. Der Schild – eigentlich ein Mittel der Verteidigung – dient Siegfried ein letztes Mal als Waffe gegen Hagen, bleibt aber wirkungslos. Der Erzähler macht deutlich, dass Siegfried durchaus imstande gewesen wäre, Hagen zu töten, so er die richtige Waffe gehabt hätte. Die Kraft verlässt ihn, er bricht auf der von Kriemhild geträumten Blumenwiese zusammen (vgl. NL, 985).

Bevor er endgültig stirbt, spricht Siegfried in beiden Werken einen letzten Monolog. Der Monolog im Nibelungenlied beschimpft die Verschwörer als „vil bœse[n] zagen“ (NL, 986.1)und lamentiert, seine Treue nun mit dem Tod gewürdigt zu bekommen. Er ist der Meinung, dass er den Mord hätte verhindern können, wenn er davon gewusst hätte (vgl. NL, 991.1-3). Siegfried weiß, dass nicht Hagen allein den Mord geplant hat, sondern, dass Gunther beteiligt war („ez ist âne nôt,/daz der nâch schaden weinet, der in hât getân.“ (NL, 989.2f.) als Reaktion auf Gunthers Klage über den Mord). Er deutet an, dass alle Nachkommen der Burgunden mit der Schande, Kinder von Verwandtenmördern zu sein, leben müssen. Diese Schmach betrifft nicht nur Gunthers, sondern auch seinen eigenen Sohn, der „sol nâch den zîten tuon,/daz sîne mâge iemen mortlich hân erslagen“ (NL, 992.2f.). Das größte Mitleid gilt einer Frau. Er appelliert an Gunthers „fursten tugende“ (NL, 994.2), seiner Schwester treu beizustehen. Mit den Gedanken an Frau und Kind stirbt er auf einer Blumenwiese – einem Ort, der ungefährlicher nicht wirken könnte.

Siegfrieds letzter Monolog in der Götterdämmerung ist weniger auf Gutrune gerichtet als auf Brünnhilde. Er erinnert sich an Brünnhilde, reminisziert sein sehnsüchtig werbendes Flehen („wach auf! öffne dein Auge!“, GD, 1802) und erkennt schließlich sein eigenes Fehlverhalten nach der (zweiten) Brautwerbung in Gunthers Gestalt: „der Wecker kam;/er küsst dich wach, und aber der Braut/bricht er die Bande“ (GD, 1806ff.). Bevor er Brünnhilde einen letzten Gruß erbietet, deutet er mit den Worten „Süßes Vergehen/seliges Grauen“ (GD, 1815f.) an, dass er den Tod für seine große Liebe gern in Kauf nimmt und wird gestützt von den Streichern, die die Melodie spielen, mit der Brünnhilde und er am Ende des Siegfried ihre Liebe besangen. Auffällig ist, dass Wagners Siegfried den Mordanschlag nicht direkt kritisiert, wie es Siegfried im Nibelungenlied tat. Er ist ganz auf Brünnhilde fixiert. Der einzige Vers, der für eine Mordkritik spricht, ist der oben erwähnte V. 1802. Einerseits kann er als einfache Erinnerung an die Werbung Brünnhildes verstanden werden, andererseits ist denkbar, dass Siegfried sich selbst meint, der aufwacht und sein Auge öffnet, also den Verrat durch Hagen und Gunther erkennt – er erwacht aus der Verklärung des Vergessenstrankes und gelangt an dieser Stelle zu vollem Bewusstsein – Bewusstsein über die Situation und seine Taten in der Götterdämmerung: dem Betrug an seiner Braut.

Der Mitwisser – Gunther

Gunther ist im Nibelungenlied der Einzige der drei Wormser Könige, der mit zur Jagd reitet. Gunthers Brüder waren in Âventiure 14 bei der Planung des Mordes zwar dabei, Giselher hat sich jedoch deutlich gegen den Mord ausgesprochen. Es liegt nahe, dass Gernot und Giselher deshalb nicht an der Jagd teilnehmen: Sie wissen von Hagens Plänen, wollen mit ihnen aber nicht in Verbindung gebracht werden oder sind explizit gegen den Mord. Gunther kann sich dem Plan nicht so leicht entziehen: Er kann nicht unbeteiligt sein, wenn die Ehre seiner Frau gerächt wird. Dass er dem Mordplan nicht zustimmt, hat er vorher deutlich gemacht.

Die Deutung des Verhaltens seiner Brüder ist im Ring müßig, da sie dort schlichtweg nicht existieren. Die Planung des Mordes im zweiten Aufzug der Götterdämmerung zeigt, dass der Mordplan nicht von Gunther ausgeht. Hagen schlägt den Mord als Vergeltung für den scheinbaren Meineid vor, Gunther wiederholt Hagens Worte lediglich. Anschließend erwähnt Gunther die Blutsbrüderschaft mit Siegfried und hinterfragt Hagens Einwände (z. B.: „Verriet er mich?“ GD, 1399). Während im Lied Gunthers Hofstaat bei der Unterredung anwesend ist, ist es in der Götterdämmerung nur noch Brünnhilde, die Siegfrieds Tod mit plant.

Neben seinen königlichen Pflichten tritt Gunther im Nibelungenlied nur wenig in Erscheinung – er ruft die Jagd aus und beendet sie wieder. Er weist Siegfried auf dessen Frage nach dem Wein „in valsche“ (NL, 963.2) darauf hin, dass Hagen an der Abwesenheit des Weins Schuld trägt: „er wil uns gern erdürsten lân“ (NL, 963.4) und weist somit auch eine Teilschuld für den folgenden Mord von sich. Siegfrieds Angebot, Hagen und Gunther beim folgenden Wettrennen zur Quelle einen Vorsprung zu gewähren, kommt gelegen: vielleicht hofft er, dass dieser Vorsprung zum Scheitern des Plans führt oder aber den Plan erst recht gelingen lässt, da Siegfried, sollte er verlieren, garantiert nach den beiden Gewinnern hätte trinken müssen. Gunthers körperliche Unterlegenheit wurde an vielen Stellen des Liedes bereits geschildert (nicht zuletzt beim Werbungsbetrug an Brünhild), weshalb es nicht überrascht, dass Gunther auch beim Wettrennen langsamer ist als Siegfried. Gunther nutzt Siegfrieds Tugendhaftigkeit aus: Er stillt seinen Durst an der Quelle und wartet nur darauf, dass Hagen seinen Durst nach Rache stillt.

Auch im Ring ist es Siegfrieds Ergebenheit zu Gunther, die Voraussetzung für den Mord ist: Siegfried versucht Gunther, der „gedankenvoll und schwermütig“ (GD, Regieanweisung vor 1674) auftritt, aufzuheitern. Siegfried mutmaßt, der Streit mit Brünnhilde mache ihm Kummer, was dieser weder bejaht noch verneint. Bis zu Siegfrieds scheinbarem Geständnis, Brünnhilde noch vor der Brautwerbung erweckt zu haben, bleibt Gunther still. Erst nachdem Siegfried sein Erlebnis auf dem Walkürenfelsen schildert, fährt er auf: „Was hör’ ich!“ (GD, 1794). Diese Überraschung ist nicht gespielt. Bisher ging er davon aus, Siegfried habe Brünnhilde für ihn geworben. Dass er Brünnhilde bereits erweckt hatte, wusste bis dato nur Hagen. Erst jetzt könnte sich Gunther betrogen fühlen, erst jetzt hätte er Grund, in ein Mordkomplott verwickelt zu werden.

Nachdem Hagen Siegfried im Nibelungenlied getötet hat, „klagte [der künic von Burgonden] sînen tôt“ (NL, 989.1), was Siegfried, der um Gunthers Mitschuld weiß, deutlich ablehnt. Ob Gunther Siegfrieds nahenden Tod hier tatsächlich beweint, ist fraglich, jedoch durchaus denkbar, da er vom Gedanken des Mordes in Âventiure 14 abgeneigt schien und sich nur widerwillig Hagens Plan ergeben hat. Nachdem Hagen ihm gesagt hat, dass er Siegfried neben der Rache auch zur Sicherung seiner [Gunthers] Herrschaft tötete, tritt Gunther nicht mehr explizit auf.

Die Version Gunthers der Götterdämmerung versucht, den Mord in letzter Sekunde zu verhindern: „Gunther fällt ihm [Hagen] – zu spät – in den Arm.“ (GD, Regieanweisung vor 1798). Wo Gunther im Lied passiv war und erst im Anschluss Reue oder Schmerz zeigte, wird Wagners Gunther früher aktiv, wenn auch nicht erfolgreich. Hier wird umso deutlicher, dass Gunther den Plan nicht unterstützen wollte, sondern lediglich Hagen und seiner Frau Brünnhilde hörig war und sich nun von den beiden Verschwörern emanzipiert. Dieser Eindruck wird durch die Entrüstung und Fassungslosigkeit im Vers „Hagen, – was tatest du?“ (GD, 1798) und auch durch die folgende Regieanweisung „Gunther beugt sich schmerzergriffen zu Siegfrieds Seite nieder.“ (GD, Regieanweisung vor 1800) gestützt. Wagners Gunther scheint tatsächlich zu trauern und das Mordkomplott zu bereuen.

Zusätzlich zur Rolle Gunthers ist auch diejenige der umstehenden Personen interessant: Im Nibelungenlied wird die Personengruppe nicht benannt, die Siegfried auf einen goldenen Schild legen, um danach zu beraten, wie sich der Mord am besten vertuschen ließe (vgl. NL, 996.3f.). In der folgenden Strophe regen einige an, den Mord zu verschweigen oder unbekannten Räubern aus dem Wald anzuhängen (vgl. NL, 997), was nur Hagen verneint. Wer die Ritter sind, ist nicht gesagt, es liegt jedoch nahe, dass diejenigen Mitglieder des Hofes darunter sind, die in Âventiure 14 mit über den Mord berieten und deshalb nicht überrascht sind, sondern eher pragmatisch darüber debattieren, wie man Gunthers und Hagens Ehre retten könne.

Die „Mannen“ des Rings werden auch nicht persönlich benannt, waren aber bereits im zweiten Aufzug anwesend, als Siegfried seine Unschuld auf Hagens Speer beeiden wollte, was Brünnhilde zu verhindern wusste. Während des Komplotts waren sie nicht anwesend, weshalb der Mord selbst für sie überraschend sein dürfte. Sie sind ebenso entrüstet wie Gunther und „umstehen teilnahmvoll den Sterbenden“ (GD, Regieanweisung vor 1800), um ihn danach feierlich zur Halle der Gibichungen zu tragen. Sie beraten nicht darüber, Hagens Schuld zu verschleiern, sondern treten schockiert und teilnahmsvoll auf.

Fazit

Die Versionen des Todes Siegfrieds im Nibelungenlied und in Richard Wagners Götterdämmerung weisen einige Gemeinsamkeiten auf, unterscheiden sich aber gravierend in der Gestaltung der Figuren.

Siegfried ist im Lied der prototypische Held mittelalterlicher Literatur: Er ist sich seiner sicher, ein hervorragender Ritter und Jäger. Siegfrieds Übermut  ist dabei nicht als Verletzung der moralischen Ordnung (im Sinn der Todsünde Hochmut) zu verstehen, sondern eher als Gefühl des Helden, „der seine Stärke kennt und sich um die der anderen nicht zu kümmern müssen glaubt“.[23] Der Held handelt tugendhaft und beklagt kurz vor seinem Tod, dass seine Treue nun mit seinem Tod gedankt wird und seine Nachkommen und Hinterbliebenen durch den Mord geschändet sind. Er beklagt die Verletzung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur, beklagt, dass seiner triuwe nicht höfisch-ritterlich gedankt wird.

Währenddessen ist Siegfried im Ring eben kein typisch mittelalterlicher Held: Er ist Enkel eines Gottes, Sohn zweier Kinder Wotans und wuchs dennoch in bescheidensten Verhältnissen auf. Ritterlich und tugendhaft handelt er nicht, fehlbar und menschlich allerdings schon: Er ist sich seiner selbst sicher, aber übermütig im trivialsten Sinne, indem er die Verheißung der Rheintöchter ignoriert und sich auf seine körperlichen Kräfte beruft. Er ist nicht bescheiden, sondern erzählt von seinen Abenteuern, sobald er darum gebeten wird. In seinen letzten Worten gedenkt er nicht seiner Frau Gutrune und der verletzten Ehre und Treue, sondern seiner einzig wahren Liebe Brünnhilde, beklagt aber gleichzeitig, dass er sie aus Unwissenheit betrogen hat. Das ritterliche Ideal seiner Rolle im Nibelungenlied steht nicht im Mittelpunkt, sondern die wahre menschliche Liebe.

Wagners Hagen handelt aus reiner Gier: Er ist Sohn Alberichs, Dieb des Rheingoldes, Schmied des Rings und Urheber des Ringfluchs. Er macht es sich zur Aufgabe, den Ring zu erwerben, ungeachtet der Kosten und Mühen. Er weiß um Brünnhildes und Siegfrieds Vergangenheit (vgl. GD, 431) und nutzt alle umstehenden Personen aus, um sein Ziel zu erreichen: „Die Paarung der Ungleichen [Gunther und Brünnhilde] wird gelingen dank Zauberkunst, Gutrune wird der Köder sein, mit dessen Hilfe der eingefangene Siegfried – als Werkzeug von Hagens Strategie – für Gunther die Braut heimführt“.[24]

Die Erlangung des Schatzes hat im Nibelungenlied nur zweitrangige Bedeutung: Hagen ermordet Siegfried, um Brünhilds Ehre wiederherzustellen und die Herrschermacht Gunthers zu sichern,[25] wozu er das Verwandtschaftsvertrauen Kriemhilds missbraucht und höfische Tugend aus politischen Gründen übergeht.[26] Auch sein Motiv ist Gier, wenn auch weniger materielle als politische, gestützt durch Herrschergehorsam. Er weiß, Siegfried wegen dessen Unverwundbarkeit nicht besiegen zu können und hält es deshalb für nötig, ihn hinterrücks zu ermorden. Der Siegfried des Rings ist nicht unverwundbar, was Hagen, der ihn auch hier von hinten ermordet, nur noch feiger aussehen lässt, da er sich einem Zweikampf entzieht, den er potenziell hätte gewinnen können.

Kriemhild ist die eigentliche Hauptfigur des Nibelungenliedes und eine der ersten individualisierten weiblichen Figuren in der mittelalterlichen Literatur überhaupt.[27] Bevor sie sich emanzipiert, um für den Tod ihres Mannes Rache zu nehmen, ist sie ein eher passiver Charakter: Sie ist Ziel Siegfrieds und damit Grund für seine Heldentaten, für die Brautwerbung und für seine treue Bindung an Gunther. Ihr von Hagen ausgenutztes Vertrauen besiegelt Siegfrieds Tod, ihr Gespräch mit Hagen in Âventiure 15 ist Voraussetzung für die zweite Hälfte des Liedes. Gutrune hingegen, ihr Gegenstück im Ring, ist von so gut wie keiner Bedeutung und nur dramaturgisches Werkzeug Hagens, Siegfried die Brautwerbung Brünnhildes schmackhaft zu machen, um ihn schließlich töten zu können und den Ring an sich zu nehmen. Sie ist die prototypische Frau des Heldenepos, das Objekt der gefährlichen Brautwerbung. Sie ist eine besorgte Gattin, wie die Szene nach Siegfrieds Tod zeigt, ihre Loyalität liegt jedoch auch nach der Heirat immer noch bei ihrem Bruder Gunther.

Zusammen sind Gutrune und Gunther „die blassen dramaturgischen Hilfsfiguren, die einzig durch Zwielichtigkeit davor bewahrt werden, langweilig zu sein“.[28] Gunther ist eine der schwächsten Figuren beider Texte. Im Ring lässt er sich von Hagen und Brünnhilde widerwillig zum Mord überreden, weil er einem Betrug aufgesessen ist, der Teil von Hagens Plan ist.[29] Im Lied ist er körperlich allen anderen Figuren unterlegen, benötigt Siegfrieds Hilfe bei der Brautwerbung Brünhilds und lässt sich von Hagen – aus Gründen der Ehre und des Machterhalts – in das Mordkomplott verwickeln, ohne es wirklich zu wollen.

Der Nibelungenhort spielt in beiden Werken unterschiedliche Rollen. Im Nibelungenlied ist er purer Reichtum, den Hagen im Rhein versenkt, um sich später daran bereichern zu können. Der Ring weist dem Gold eine weitaus symbolischere Bedeutung zu: Es ist Schatz der Natur, Sinnbild für die Naturschätze, die der Mensch missbraucht. Durchs Alberichs Missbrauch im Rheingold wird der Ring für Hagen (und die Götter) zum Werkzeug des Weltregiments,[30] für Siegfried ist er nichts als eine „dingliche Manifestation [der] Liebe [zu Brünnhilde]“,[31] für Brünnhilde ist er ein Symbol für „die Endlosigkeit dieser Beziehung [zu Siegfried]“[32] und für das dramaturgische Gesamtgefüge ist er nichts als das Bindeglied der Opern und der Grund, warum die Welt am Ende der Götterdämmerung untergeht.

Die Entstehungsgeschichte beider Werke ist für diese Unterschiede von großer Relevanz. Das Nibelungenlied vereint Inhalte verschiedener Sagenkreise miteinander[33] und stützt sich dabei auf Sagenstoffe, die auch in Wagners anderen Quellen, den Edda-Texten, der Völsunga Saga und der Thidrekssaga, Eingang fanden. Der Unterschied dabei ist, dass das Nibelungenlied die Stoffe an die historischen Bedingungen seiner Entstehungszeit bindet, die Inhalte somit für das damalige Publikum nahbarer macht und Elemente aus dem Stoff entmystifiziert,[34] sodass das Nibelungenlied mehr Historie als Mythos ist – ein Unterschied, der sich bis zu Wagners Adaption des Stoffes zieht. Das offensichtlichste Beispiel ist Siegfrieds Biographie: Enkel eines Gottes in der einen, Königssohn in der anderen Variante, kennt er Brünnhilde in allen Fassungen des Stoffes – außer im Nibelungenlied.

Hätten sich die beiden im Nibelungenlied gekannt und geliebt wie in anderen Adaptionen des Stoffes, hätte Siegfrieds Liebe zu Kriemhild nicht mehr dem Ideal der jungfräulichen Liebe des Paares entsprochen, die für das idealtypisch historische Bild des Liedes so wichtig ist.[35] Nicht zuletzt hätte dies Auswirkung auf den gesamten Ausgang des Nibelungenliedes gehabt: Siegfrieds Tod ist das, was Kriemhild in der gesamten zweiten Hälfte des Liedes rächt. Hätte sie einen Grund gehabt, einen Mann zu rächen, der sie, egal ob unbewusst oder nicht, belogen hat und vorher eine andere Frau liebte?

Der Vergleich hat deutlich gemacht, dass beide Texte sehr unterschiedlich konstruiert und konzipiert sind: Während das eine ein typisches mittelalterliches Heldenepos ist, hat sich Wagner von den gesellschaftspolitischen Umständen des Liedes gelöst und sich seinem „Mythos“ genähert – Wagners „Rückgang in eine mythische Vergangenheit [erscheint] zugleich als Antizipation einer utopischen Zukunft“.[36] Er beruft sich nicht auf höfische Tugenden, Eide und verletzte Ehren, sondern auf zutiefst menschliche Gefühle: Habgier, Hochmut und Liebe. Während das Lied ein historisches Zeugnis ist, ist Wagners Ring am Sagenstoff interessiert, stellt weniger höfische Akteure dar als echte Menschen und dient so als Schablone zur Deutung des menschlichen Zusammenlebens und der menschlichen Psyche.


[1]Anonym, Das Nibelungenlied, hg. von Ursula Schulze und Siegfried Grosse, Ditzingen 2020, Strophe C1, hier Vers 1. (im Folgenden im Text zitiert mit Sigle „NL, Strophe.Vers“.)

[2]Nine Miedema, Einführung in das „Nibelungenlied,Darmstadt 2011, hier 8.

[3]Vgl. Grosse, Nachwort,937.

[4]Jürgen Kühnel, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Stoffgeschichtliche Grundlagen, Dramaturgische Konzeption, Szenische Realisierung,Siegen 1991, hier 4.

[5]Kühnel, Wagners „Ring“, 5.

[6]Ebd.

[7]Vgl. ebd.

[8]Vgl. Egon Voss, Von Siegfried’s Tod zum Ring des Nibelungen – Werk und Biographie,in: Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Ditzingen 2017, hier 433.

[9]Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, München 1988, hier 82.

[10]Vgl. Kühnel, Wagners „Ring“, 9.

[11]Vgl. ebd.

[12]Vgl. ebd.

[13]Vgl. Kühnel, Wagners „Ring“, 10.

[14]Vgl. Kühnel, Wagners „Ring“, 11.

[15]Richard Wagner, Das Rheingold,in: ders., Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Ditzingen 2017, hier Vers 1485f.

[16]Richard Wagner, Götterdämmerung,in: ders., Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Ditzingen 2017, hier Vers 2033f. (Im Folgenden im Text zitiert mit Sigle „GD, Vers“.)

[17]Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes,Tübingen 1998, hier 5448.

[18]Vgl. Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied,Berlin 2015, hier 135.

[19]Bezüglich der Erzählung Hagens merkt Müller an, dass dieser Siegfrieds Heldenjugend „von präzis kalkulierter Unschärfe inszeniert“ (Müller, Spielregeln, 126), die Erzählung aber dennoch Signalcharakter hat. Das Nibelungenlied erzählt zwei Jugendgeschichten von Siegfried: die höfische Erziehung, die der Erzähler darstellt und die Heldengeschichte Hagens (Müller, Spielregeln, 125). Hagens Geschichte muss (innerhalb der Erzählung) also nicht zwingend der Wahrheit entsprechen. In der Oper Siegfried hingegen sehen wir, was passiert und können somit Siegfrieds Taten als Wahrheit annehmen.

[20]Vgl. Müller, Spielregeln,448.

[21]Vgl. Müller, Spielregeln, 379.

[22]Vgl. Müller, Spielregeln,418.

[23]Vgl. Müller, Nibelungenlied,133.

[24]Peter Wapnewski, Liebestod und Götternot: zum „Tristan“ und zum „Ring des Nibelungen,Berlin 1988, hier 20.

[25]Vgl. Müller, Spielregeln,155.

[26]Vgl. Müller, Spielregeln,154.

[27]Vgl. Miedema, Einführung, 9.

[28]Dahlhaus, Musikdramen, 133.

[29]Vgl. Wapnewski, Liebestod, 34.

[30]Vgl. Wapnewski, Liebestod, 14.

[31]Wapnewski, Liebestod, 13.

[32]Wapnewski, Liebestod, 15.

[33]Vgl. Grosse, Nachwort, 929.

[34]Vgl. Miedema, Einführung, 25.

[35]Vgl. ebd.

[36]Dahlhaus, Musikdramen, 82.