Klang und Identität

Eine feste Burg ist unser Gott“. Kirchenmusik und Identität in der Äußeren Mission um 1900

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Karolin Wet­jen

Wie wichtig Klang und Musik für Aushand­lung­sprozesse von Iden­tität sind, kann nicht nur anhand aktueller Beispiele ver­fol­gt wer­den, son­dern lässt sich auch als his­torisches Phänomen beschreiben. An Nation­al­hym­nen oder Volk­sliedern ist dieses sich­er beson­ders eingängig, es spielt aber auch an weniger promi­nen­ter Stelle eine wichtige Rolle, beispiel­sweise bei Kirchen­liedern. Die Musik und der Klang von Kirchen­liedern, wie das spätestens im Ersten Weltkrieg bel­lizis­tisch aufge­ladene „Eine feste Burg ist unser Gott“ oder der soge­nan­nte Choral von Leuthen „Nun dan­ket alle Gott“, kön­nen nationale und/oder kon­fes­sionelle Iden­tität ver­mit­teln und stiften[1].

Wie sehr aber ger­ade der Klang europäis­ch­er bzw. deutsch­er Kirchen­lieder mit Fra­gen von kul­tureller und kon­fes­sioneller Iden­tität ver­mengt war, zeigt sich beson­ders am Beispiel der Mis­sion, die im 19. Jahrhun­dert einen Höhep­unkt erre­ichte. Äußere Mis­sion, das Aussenden von Mis­sion­aren in fremde, zumeist von europäis­chen Kolo­nialmächt­en beset­zte Gebi­ete, erfol­gte im 19. Jahrhun­dert durch katholis­che und protes­tantis­che Mis­sion­sor­den bzw. ‑gesellschaften. Im Fol­gen­den möchte ich am Beispiel der evan­ge­lisch-lutherischen Mis­sion­s­ge­sellschaft zu Leipzig zeigen, wie eng zusam­menge­hörig Klang und Iden­tität waren und wie über Musik nicht nur die Abgren­zung europäisch/afrikanisch bzw. christlich/heidnisch erfol­gte, son­dern auch neue Iden­titäten aus­ge­han­delt wurden.

Die Leipziger Mis­sion hat­te sich in der Mitte des 19. Jahrhun­derts aus kon­fes­sionellen Motiv­en her­aus gegrün­det und über­nahm 1893 in der dama­li­gen Kolonie Deutsch-Ostafri­ka am Kil­i­mand­scharo, dem „höch­sten deutschen Berg“, eine Mis­sion unter den Chag­ga. Da es als dringlich­ste Auf­gabe der Mis­sion­are galt, die Sprache der Chag­ga zu erler­nen und deren Kul­tur zu studieren, um Kon­ver­sa­tio­nen zu erle­ichtern bzw. über­haupt erst zu ermöglichen, kamen die Mis­sion­are bere­its zu Beginn ihrer Tätigkeit in Berührung mit der Musik der Chag­ga. Ihre Ein­schätzung dieser Musik, sofern sie die ihnen frem­den Klänge über­haupt unter „Musik“ sub­sum­ierten, war dabei geprägt von europäis­chen ras­sis­chen Stereo­typen. Die Chag­ga hät­ten nach Ein­schätzung der Mis­sion­are näm­lich über­haupt keine Lieder und Geset­zmäßigkeit­en der Musik seien ihnen völ­lig fremd[2]. Das ver­meintlich „Prim­i­tive“ ihrer Musik finde seinen Höhep­unkt in den dazu von ihnen vollführten Tänzen.

Die Beschrei­bun­gen dieser Tänze, die von den Mis­sion­aren – wie auch von anderen (selb­ster­nan­nten) Eth­nolo­gen – vor­liegen, über­bi­eten sich in Adjek­tiv­en, die einem europäis­chen Lesepub­likum deut­lich den Ekel und die Unsit­tlichkeit dieser Prak­tiken ver­mit­teln soll­ten. Die haupt­säch­lich nachts vollführten Tänze bestün­den nur aus einem Einknick­en der Knie, das „bei Frauen von lasziv­en seitlichen Ver­schiebun­gen des Gesäßes“[3] begleit­et würde. Kurzum: „Der Tanz der Wad­schag­ga mit seinen ekel­haften Bewe­gun­gen befördert zwei der Haupt­laster: Unzucht und Trunk­en­heit“[4]. Für die Mis­sion­are waren diese Tänze und die mit ihnen ver­bun­dene Klänge, Gesänge und Geräusche einzig und allein eine Orgie, bei der Män­ner und Frauen unter Alko­hol­genuss ihrer Lust frön­ten bzw. ihrem „Aber­glauben“ bei Opfer­festlichkeit­en nachgin­gen. Sex, Magie, Aber­glauben, Musik und Tanz waren aus Sicht der Mis­sion­are heil­los ver­woben. Dass die Mis­sion­are Tänzen und Musik über­haupt eine hohe Bedeu­tung in ihren Stu­di­en zuschrieben, lag nicht nur an der ihnen eige­nen Gründlichkeit. Ein Grund dafür lag sicher­lich darin, dass den Mis­sion­aren die laut­en Klänge der Trom­meln und die Gesänge der Chag­ga nicht ver­bor­gen blieben, son­dern laut hör- und damit wahrnehm­bar waren – dies traf keineswegs für alle Aspek­te des kul­turellen und rit­uellen Lebens der Chag­ga zu.

Eben­so entschei­dend für die beson­dere Bedeu­tung, welche die Mis­sion­are der Musik zuschrieben, war aber, so möchte ich argu­men­tieren, die im deutschen Kaiser­re­ich mit Musik eng ver­bun­dene kon­fes­sionelle Iden­tität. Die Leipziger Mis­sion­are stammten mehrheitlich aus dem ländlichen Klein­bürg­er­tum der streng lutherischen Lan­deskirchen Sach­sen und Han­nover[5]. In diesen Gebi­eten hat­te sich zumeist ein auf pietis­tis­che Vorgänger zurück­ge­hen­der lutherisch­er Neokon­fes­sion­al­is­mus durchge­set­zt, der sich auch in Kirchenagen­den und Gesang­büch­ern nieder­schlug. Hat­te bere­its Luther selb­st das geistliche Lied als Don­um Dei und als Medi­um der Verkündi­gung ver­standen[6], wur­den diese Gedanken seit der Mitte des 19. Jahrhun­derts wieder aufge­grif­f­en und in neuen Gesang­büch­ern fest­geschrieben. Bere­its 1828 war ein erstes solch­er Gesang­büch­er von Claus Harms her­aus­gegeben wor­den, das Recht- und Schrift­gläu­bigkeit zum ober­sten Prinzip kirch­lich­er Musik erk­lärte. Ein echt­es evan­ge­lis­ches Kirchen­lied sollte sich dem­nach durch die „Kraft und Gediegen­heit des christlichen Glaubens­beken­nt­nis“, ein „lautes, inniges Gefühl“ und „eine klare durch­sichtige Form“[7] ausze­ich­nen. Alte und neue Kirchen­lieder, die diesen Attribut­en gerecht wur­den, fan­den ihre Ver­bre­itung: Sie wur­den im häus­lichen Gebrauch, in Mis­sion­szirkeln und Vere­inen auswendig gel­ernt und so zu einem Mark­er für eine an pos­i­tiv­en Glaubensin­hal­ten aus­gerichtete kon­ser­v­a­tive Ausle­gung der lutherischen Kon­fes­sion. Die Mis­sion­are, die an den Kil­i­mand­scharo kamen, kon­nten ver­mut­lich bis zu 150 dieser Kirchen­lieder auswendig – und bracht­en sie in der Mis­sion zum Erklin­gen. Tat­säch­lich lässt sich anhand der Sta­tion­stage­büch­er zeigen, die von den Mis­sion­aren zum Nach­weis ihrer Tätigkeit geführt wur­den, wie sehr europäis­che bzw. deutsche Kirchen­choräle zum Reper­toire der Mis­sion gehörten und wie sie weite Ver­bre­itung in dem von den Mis­sion­aren erteil­ten Unter­richt fan­den, dessen Ziel es war, neue Kon­ver­titen zu gewinnen.

Der europäis­che Kirchen­choral fungierte in der Mis­sion eben­so wie bei Luther als Medi­um der Verkündi­gung. In der Auswahl der Lieder grif­f­en die Mis­sion­are dabei auf beson­ders promi­nente, im lutherischen kon­fes­sionellen Milieu stark ver­ankerte Lieder zurück. „Jesu, Geh voran“, „Oh Haupt voll Blut und Wun­den“, „Nun dan­ket alle Gott“ wur­den von den Chag­ga eben­so erlernt wie das von Luther selb­st kom­ponierte „Gelob­st seist du, Jesu Christ“. Damit diese Choräle auch tat­säch­lich als Medi­um der Verkündi­gung fungieren kon­nten, wur­den sie von den Mis­sion­aren eigens in die lokale Sprache über­set­zt, während die Melodieform weit­er­hin der bekan­nten deutschen Fas­sung fol­gte. Bere­its die Melodieform führte also zu ein­er deut­lichen Abgren­zung gegenüber der von der lokalen Bevölkerung bish­er prak­tizierten Form von Musik. Der Klang europäis­ch­er Kirchen­choräle wurde dabei zu einem dop­pel­ten Iden­ti­fika­tion­sange­bot: Deut­lich bildete die Ken­nt­nis europäis­ch­er Kirchen­choräle einen Zugang zur christlichen Sphäre. Sän­gerin­nen und Sänger der Choräle wiesen sich ein­deutig als Schü­lerin­nen und Schüler der Mis­sion vor ihren lokalen, oft­mals der Mis­sion skep­tisch gegenüber­ste­hen­den Gesellschaften aus, wozu auch das durch das Sin­gen hergestellte Grup­penge­fühl der Kon­ver­titen beitrug. Zweit­ens war dieses Iden­ti­fika­tion­sange­bot aber auch kon­fes­sionell und the­ol­o­gisch aufge­laden. Durch die Auswahl der Lieder wur­den die Mis­sion­szöglinge zu Anhängern eines kon­ser­v­a­tiv­en Luther­tums, das sich the­ol­o­gisch von lib­eralen Posi­tio­nen eben­so abhob wie von den Anhän­gerin­nen und Anhängern der eben­falls am Berg ansäs­si­gen katholis­chen Mission.

Ein solch­es Iden­ti­fika­tion­sange­bot zeigte dur­chaus Wirkung: Bere­its 1925 berichtete der Mis­sion­ar Bruno Gut­mann, dass die Chag­ga mit­tler­weile auch eigene Kirchen­lieder dichteten, und zwar auf die Melo­di­en der ihnen bere­its ver­traut­en europäis­chen Kirchen­choräle. Solche Lieder gehorcht­en den Bedürfnis­sen der sich mit­tler­weile etablierten evan­ge­lis­chen Gemein­den und the­ma­tisierten beispiel­sweise die Ein­wei­hung von Bewässerungs­gräben oder dien­ten als Gemein­delied[8]. Wie sehr ger­ade die europäis­che Choral­form und die nach Stim­m­grup­pen geord­nete Art des Sin­gens (die Mis­sion­are erteil­ten auch Cho­run­ter­richt) zum Mark­er für eine christliche lutherische Iden­tität wur­den, zeigt eine andere Begeben­heit: Als Bruno Gut­mann vorschlug, einige der Frucht­barkeits-Reigen­tänze der Chag­ga wieder einzuführen – ganz im Sinne ein­er roman­tis­chen Vorstel­lung ein­er zu erhal­te­nen, ver­meintlich sta­tis­chen und ural­ten afrikanis­chen Volk­skul­tur – stieß er in den Gemein­den auf heftige Ablehnung[9]: Lokale Tänze erschienen den Gemein­deäl­testen mit ein­er christlichen Fes­tkul­tur unvere­in­bar, Klang und Iden­tität hat­ten sich als eng zusam­menge­hörig erwiesen.

Die Äußere Mis­sion des 19. Jahrhun­derts kann als Beispiel dafür dienen, wie anhand von Klang und Musik Iden­titäten ver­han­delt und verän­dert wur­den. Musik diente dabei sowohl als Objekt der Abgren­zung und Ablehnung des Anderen als auch als Iden­ti­fika­tion­sange­bot und let­ztlich als Mark­er für neu ent­standene Iden­titäten. Das ursprünglich Fremde der europäis­chen Musik wurde in diesem Prozess für die Chag­ga zu etwas Eigen­em und dadurch erneut verän­dert, wie die Neu­dich­tun­gen und Vari­a­tio­nen zeigen, die bis heute Bestand haben.

Karolin Wet­jen, Jahrgang 1986, pro­moviert im Fach Neuere Geschichte an der Georg-August Uni­ver­sität Göt­tin­gen. Der Arbeit­sti­tel ihrer Dis­ser­ta­tion lautet „Mis­sion und Mod­erne. Aushand­lun­gen von Reli­gion am Beispiel der Leipziger Mis­sion­s­ge­sellschaft am Ende des 19. Jahrhun­derts“. Sie hat einen Mas­ter of Arts in Geschichte und einen Mas­ter of Edu­ca­tion in Geschichte und Lateinis­ch­er Philolo­gie von der Uni­ver­sität Göt­tin­gen. Ihre Pro­mo­tion wird unter­stützt durch die Stu­di­en­s­tiftung des deutschen Volkes.


[1] Fis­ch­er, Michael (2014): Reli­gion, Nation, Krieg. Der Luther­choral Eine feste Burg ist unser Gott zwis­chen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster/New York/Tübingen; Ther, Philipp (2012): Zum Ver­hält­nis von Musik und Nations­bil­dung im 19. Jahrhun­det. In: Altenburg, Detlef / Bayreuther, Rain­er (Hg.): Musik und kul­turelle Iden­tität. Bericht über den XIII. Inter­na­tionalen Kongress der Gesellschaft für Musik­forschung Weimar 2004. Bd. 2, Kas­sel u. a., 3–12.

[2] Gut­mann, Bruno (1927): Lieder der Dschag­ga. In: Zeitschrift für Einge­bore­nen-Sprachen 18, 161–195, 163; Fritze, Georg (1931): Die Geschichte eines Gesang­buch­es. In: Evan­ge­lisch-lutherisches Mis­sions­blatt, 296–306, 293.

[3] Widen­mann, August (1899): Die Kil­i­mand­scharo-Bevölkerung. Anthro­pol­o­gis­ches und Ethno­graphis­ches aus dem Dschag­ga­lande. Ergänzung­sheft Nr. 129 zu »Peter­manns Mit­teilun­gen«. Gotha, 47.

[4] Archiv des Evan­ge­lisch-Lutherischen Mis­sion­swerks. Deposi­tum in den Franck­eschen Stiftun­gen. Halle/Saale, ALMW II.32.131, Sta­tion­stage­buch Mam­ba III, Okto­ber 1900.

[5] Alte­na, Thorsten (2003): »Ein Häu­flein Chris­ten mit­ten in der Hei­den­welt des dun­klen Erdteils«. Zum Selb­st- und Fremd­ver­ständ­nis protes­tantis­ch­er Mis­sion­are im kolo­nialen Afri­ka 1884–1918, Münster.

[6] Wen­de­bourg, Dorothea (2011): Mar­tin Luther und das Kirchen­lied im lutherischen Protes­tantismus. In: Berlin­er the­ol­o­gis­che Zeitschrift 28, 230–245; Stal­mann, Joachim (2012): Mar­tin Luther und das Kirchen­lied der Ref­or­ma­tion. In: Timm-Hart­mann, Cor­du­la (Hg.): Weil sie die See­len fröh­lich macht. Protes­tantis­che Musikkul­tur seit Mar­tin Luther, Halle, 13–25.

[7] Knapp, Albert (1837): Evan­ge­lis­ch­er Lieder­schatz für Kirche und Haus. Zit. n. Seibt, Ilse (2013): Kirchen­lied und Gesang­buch. In: Hochstein, Wolf­gang / Krum­mach­er, Christoph (Hg.): Geschichte der Kirchen­musik. Bd. 3: Das 19. und frühe 20. Jahrhun­dert. His­torisches Bewusst­sein und neue Auf­brüche. Laaber, 49.

[8] Gut­mann, Bruno (1925): Das Dschag­ga­land und seine Chris­ten. Leipzig, 27; Korn­der, Wolf­gang (1990): Die Entwick­lung der Kirchen­musik in den ehe­mals deutschen Mis­sion­s­ge­bi­eten Tansa­nias. Erlangen.

[9] Jaeschke, Ernst (1981): Gemein­deauf­bau in Afri­ka. Die Bedeu­tung Bruno Gut­manns für das afrikanis­che Chris­ten­tum. Stuttgart, 60; Fiedler, Klaus (1983): Chris­ten­tum und afrikanis­che Kul­tur: Kon­ser­v­a­tive deutsche Mis­sion­are in Tan­za­nia 1900–1940. Gütersloh, 44–45.

Dies war ein Beitrag von Karolin Wet­jen im Vor­trags­block “Atmo­sphäre” der Tagung “Klang und Iden­tität”.

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