Albert Dietz
Wenn man vom „Alten Orient“ spricht, könnte man meinen, es handele sich um eine geografisch-kulturelle Einheit. Doch tatsächlich prägen zahlreiche Stile und Vorlieben aus über 10.000 Jahren und etlichen Regionen und Reichen die Hinterlassenschaften des Alten Orients. Hierzu zählt auch, neben zahlreichen anderen geistes- und kulturgeschichtlichen Errungenschaften des Vorderen Orients, die Musik. Doch lassen sich hierin heute noch Identitätsaspekte eines altorientalischen Volkes ausmachen? Und unter welchen Umständen arbeiteten Musiker vor 4000 Jahren? Hierfür soll im folgenden Blogbeitrag ein kleiner Einblick in die Welt des Alten Orients gewährt werden.
Mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden europäischen Ausgrabungen in Städten wie Nimrud, Ninive und Ḫorsabad und den herausragenden Funden, die sich heute in den großen Museen Englands, Frankreichs und Deutschlands bewundern lassen, stieg auch das Interesse der europäischen Gesellschaft an den Kulturen des Alten Orients. Vor allem die imposanten Palastreliefs und Skulpturen der neuassyrischen Könige zogen die Aufmerksamkeit auf sich und bald waren die Ausstellungsräume des British Museum (London), des Musée du Louvre (Paris) und des Vorderasiatischen Museums (Berlin) damit gefüllt. Auf einigen solcher Wandreliefs befanden sich auch Musikinstrumente, die die ersten Ansätze für die Erforschung der vergangenen Musik lieferten. (Abb. 1)
Abb. 1: Elamitische Hofkapelle, Alabasterrelief aus dem SW-Palast in Ninive, Assurbanipal (669–627 v. Chr.), BM 124802 (© Trustees of the British Museum)
Da Klänge eine sehr flüchtige und lebhafte Kunst darstellen, ist es äußerst schwierig und daher sehr umstritten, diese zu rekonstruieren. Nach mehreren Jahrtausenden bleiben nur bildliche Darstellungen von Musikern und Instrumenten, Texte verschiedenster Art und einige wenige tatsächliche Instrumente.
Der Vordere Orient gilt als Ursprungsgebiet vieler Musikinstrumente, da man dort die ersten Funde von Instrumenten oder Darstellungen dieser machte. Leider sind die Voraussetzungen für die Erhaltung organischer Materialien wie Holz, Tierhäuten und Darmsaiten, in diesen Regionen sehr schlecht, weshalb sich nur bestimmte Instrumentengruppen tatsächlich erhielten.[1]
Abb. 2: Rekonstruktion der goldenen (r.) und der silbernen (l.) Leier aus dem Königsfriedhof von Ur (I. Dynastie von Ur, um 2450 v. Chr.), BM 121198 a und ME 121199 (© Trustees of the British Museum)
Das Leben und die soziale Stellung eines Musikers konnte aufgrund politischer, kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen sehr unterschiedlich sein. Auch Tänzer, Schausteller, Gaukler und Akrobaten, meist unter dem Begriff „fahrendes Volk“ zusammengefasst, beschäftigten sich mit Musik. Im Alten Orient machte man keinen Unterschied zwischen Sängern und Instrumentalisten; zur Ausübung eines musikalischen Berufes musste beides beherrscht werden. Diese Berufsgruppe war durchaus angesehen; vor allem die Musiker der Tempel und an den Höfen von Herrschern bekleideten, da sie zur Repräsentation, dem Ansehen und der Unterhaltung beitrugen, teils sehr mächtige und prestigereiche Positionen. Musiker des fahrenden Volkes hingegen, wurden zwar für ihre Unterhaltung geschätzt, doch galt ihre Profession nicht als ehrbar und trug einen schlechten Ruf.[2] Es existierte natürlich auch private Musik, doch ist darüber sehr wenig bekannt, weil rein Alltägliches so gut wie gar nicht in Textform dokumentiert wurde. Somit bleiben „der Arbeitsgesang auf dem Felde, der Gesang in den Tavernen oder auch das einsame Lied des Hirten auf der Weide“[3] für immer verstummt.
Die Ausbildung zum Musiker nahm mehrere Jahre in Anspruch, da neben fachlichem Wissen zahlreiche Spieltechniken und Gesangsvorträge beherrscht werden mussten. Weiterhin mussten Texte und der Melodienschatz auch an Berufsmusiker schriftlich weitertradiert werden. Bei Familien von Musikern war meist der Vater der Lehrer, doch gab es auch Musikerschulen, die sich der Ausbildung annahmen. Diese konnten Tempeln oder Palästen angeschlossen sein oder auch komplett unabhängig in Städten vorkommen. Daneben gab es auch Schüler, die das Spiel und den Gesang bei erfahrenen Musikern in der Praxis erlernten.
Abschließend soll nun noch ein Blick auf den Beruf des Hofmusikers[4] speziell geworfen werden, um der eingangs gestellten Frage der Identität durch Musik nachzugehen. Die Musiker im Palast stellten keinesfalls eine Randgruppe dar. Sie gehörten dem Umfeld des Königs an und genossen folglich auch gewisse Vorteile in materieller Hinsicht sowie größere Zugeständnisse beispielsweise bei der Bewegungsfreiheit.
In Zeiten, in denen die Beherrschung von Schrift in der Gesellschaft nur bestimmten Menschen gegönnt war, stellte Musik ein Medium dar, das es ermöglichte, gesellschafts- und kulturspezifische Identitäten zu erhalten und weiterzugeben. Das geschah in Form von Geschichten, Liedern oder Hymnen. Auch machten sich Herrscher dies zu Nutze, weshalb Musiker mitunter äußerst wertvoll für mächtige Personen waren. Könige sahen diese Künste als Bereicherung für ihren Hof an und förderten daher Musiker und Musikerinnen gerne. So war Musik zwar auch ein Medium der Unterhaltung, aber vor allem ein Instrument der Wissensvermittlung und sollte Emotionen bei Festen und Prozessionen wecken. Musizierenden oblag also eine vermittelnde Funktion; sie trugen Erinnerungen und Ereignisse weiter und bewahrten diese. Indem sie zur Darstellung eines Herrschers beitragen konnten, beteiligten sie sich auch an der Erschaffung der Identität eines Staates. Weiterhin darf angenommen werden, dass Musiker und Musikerinnen gezielt damit betraut wurden, Lieder, Hymnen und andere lyrisch-musikalische Werke zu entwerfen, womit sie nicht nur an der Schaffung einer Identität eines Kulturkreises beteiligt waren, sondern diese sogar beeinflussen konnten.
Die internationalen Verbindungen vieler Herrscherhäuser im Alten Orient trugen ebenfalls sehr zum Austausch musikalischen Repertoires bei. So war „exotische Musik“ aus fremden Ländern oder Städten an Königshöfen sehr beliebt. Auch gibt es schriftliche Belege dafür, dass man Musiker an andere königliche Höfe schickte, um sie dort in einer bestimmten Musikart ausbilden zu lassen. Hierdurch konnte sich auch das musikalische Erbe einer Stadt oder eines Reiches verbreiten und mit anderen Musikrepertoires vermischt werden. Weiterhin waren Musiker auch sehr hoch angesehene „Geschenke“ von Königen an andere Herrscher, wobei man gute Musiker nur äußerst ungern entbehrte. Doch auch der Besitz von Musizierenden aus fernen Gebieten trug zum Prestige des Königs bei. Von diesem regen Austausch haben sicherlich alle Königshöfe profitiert und die Kulturen des Vorderen Orients haben sich auf diese Weise gegenseitig bereichert.
Die Kernaussage von Musik lässt sich nun am Ende dieses Beitrages mit einem Zitat aus einem Brief des Obermusikers an seinen König aus dem 2. Jt. v. Chr. erkennen:
„Was die ashtâlum-Musiker betrifft: sie sind bereit!
Bei seinem Kommen wird mein Herr [sie] hören und vor Freude strahlen!“(Der Obermusiker Rishiya an den König von Mari, Yasmah-Addu; A.3074:7–10)[5]
Denn wie sehr sich Musik auch in unterschiedlichen Kulturen unterscheiden und verändern mag, bleibt sie für die Menschen ein unerschöpflicher Quell der Freude und ein Teil der Identität eines jeden.
Albert Dietz, Jahrgang 1988, studiert Vorderasiatische Archäologie und Altorientalistik an der JGU in Mainz. Zwei Semester studierte er über das Erasmus-Programm an der Sorbonne I in Paris, wo er ebenfalls ein Praktikum am Musée du Louvre absolvierte. Durch Praktika und Ausgrabungen arbeitete er bereits in Syrien, Iran, Irak/Kurdistan und Libanon.
[1] Siehe allgemein zu Musikinstrumenten und ihrer Darstellung auf Bildwerken: Rashid S. A. (1984): Mesopotamien, Musikgeschichte in Bildern 2 Musik des Altertums. Leipzig.
[2] Für eine ausführliche Betrachtung der Musikerberufe und ihrem vokalen Repertoire in der ersten Hälfte des 2. Jt. v. Chr. siehe Shehata, D. (2009): Musiker und ihr vokales Repertoire. Untersuchungen zu Inhalt und Organisation von Musikerberufen und Liedgattungen in altbabylonischer Zeit, Göttinger Beiträge zum Alten Orient 3. Göttingen.
[3] Shehata, D. (2007): Privates Musizieren in Mesopotamien? In: Kohbach, M. et al. (Hg.): Festschrift Hermann Hunger. Zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden, Kollegen und Schülern. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgendlandes 97. Wien, 521.
[4] Für eine Fallstudie der Hofmusiker und deren Leben an einem Palast anhand von überlieferten Texten, siehe Ziegler, N. (2007): Les Musiciens et la musique d’après les archives de Mari. Florilegium marianum IX, Mémoires de N.A.B.U. 10.
[5] Ziegler, N. (2006): Die ‘internationale’ Welt der Musik anhand der Briefe aus Mari (Syrien, 18. Jh. v. Chr.). In: Hickmann, E./Both, A. A./Eichmann, R. (Hg.): Studien zur Musikarchäologie V. Musikarchäologie im Kontext: archäologische Befunde, historische Zusammenhänge, soziokulturelle Beziehungen. Vorträge des 4. Symposiums der Internationalen Studiengruppe Musikarchäologie, Kloster Michaelstein 19.–26. September 2004. Orient-Archäologie Bd. 20. Rahden, 351.
Dies war ein Beitrag von Albert Dietz im Vortragsblock “Atmosphäre” der Tagung Klang und Identität.
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