Morgens halb acht. Die Weckfunktion des Handys klingelt. Noch mit geschlossenen Augen hört man die Vögel in den Alleebäumen zwitschern, dazu eilige Schritte auf Stöckelschuhen. Ein Müllauto rumpelt über das Kopfsteinpflaster, die Straßenbahn quietscht um die Kurve. Kurz darauf dringen Lachen und Rufe von Kindern durchs Fenster, die zur nahegelegenen Schule gehen. Wenige Minuten später begrüßt mich die Stimme des Morningshow-Moderators aus dem Küchenradio, während daneben die Kaffeemaschine blubbert…
Wir sind täglich umgeben von einer Welt aus Klängen und Geräuschen, natürlichen und künstlich erzeugten. Diese Klanglandschaften (auch Soundscapes genannt)[1] sind individuell und kulturgebunden – in einem anderen Viertel, in einer anderen Stadt, auf dem Land, in anderen Ländern und Kulturen würde das Erwachen am Morgen ganz anders klingen und, je nach Hörbiografie, auch anders wahrgenommen werden.[2] Viele Klänge und Geräusche, aus denen sich unsere vertrauten Klanglandschaften zusammensetzen, entstehen dabei nicht „einfach so“. Sie werden in den verschiedensten Bereichen bewusst genutzt, strategisch modifiziert und eingesetzt – unter anderem, um Identifikationsprozesse zu gestalten.
Dazu lassen sich zahlreiche Beispiele finden:
So wird Sounddesign etwa in die Stadt- und Verkehrsplanung mit einbezogen. Im Bereich des Sonic Branding oder Audiobranding soll mithilfe akustischer Mittel eine kohärente Markenidentität eines Produkts oder eines Unternehmens erzeugt werden. Zu diesen Mitteln zählen nicht nur Soundlogos (ein sehr bekanntes ist z.B. das von der Telekom), auch das satte, zufrieden schnurrende Motorengeräusch von Luxusklassewagen wird nicht dem Zufall überlassen.
Radioschaffende versuchen, ihrem Programm eine typische, unverwechselbare Anmutung oder Channel Identity zu verleihen. In diese ästhetische Gesamterscheinung eines Radioprogramms gliedern sich die einzelnen klingenden Elemente vom Jingle, über die Musikfarbe, das Soundprocessing bis hin zur Ansprechhaltung und zum Stimmklang des Moderators ein.
Musiker arbeiten auf einen eigenen Sound hin, sei es mittels einer markanten, teilweise sogar „kaputten“ Stimme wie man sie von Louis Armstrong oder Bonnie Tyler kennt, sei es die individuelle Spielweise, Filterung und Verstärkung eines Instruments oder die Art der Produktion, wie z.B. der „Wall of Sound“ des Musikproduzenten Phil Spector.[3] Die so konstruierten Identitäten werden wiederum nachgeahmt, mit anderen Stilen vermischt und spielerisch überformt. Diverse Szenen und Subkulturen definieren sich zum großen Teil über Musikstile, die man gemeinsam hört, zu denen man tanzt, in denen man selbst musikalisch aktiv wird.[4] Dabei werden bestimmte Arten von Musik auch mit bestimmten Ethnien assoziiert. Die Identität ganzer Staaten kann über ihre Nationalhymne vermittelt werden. Doch auch in einem kleineren, ganz intimen Rahmen können Klänge zur Identitätsfindung beitragen, etwa in der Musiktherapie, wo Klienten Teile ihrer eigenen Identität entdecken und ausleben können, zu denen sie sonst vielleicht keinen Zugang finden. Solche Wirkungen lassen sich teilweise auch in der Stimmtherapie finden.[5]
Im Film werden die dargestellten Figuren mit auditiv wahrnehmbaren Mitteln charakterisiert. Das kann etwa auf musikalischem Wege erfolgen, wie z.B. im Film „Spiel mir das Lied vom Tod“, in dem jede Figur ein eigenes musikalisches Leitmotiv bekommt. Eines dieser Leitmotive wurde wiederum zum Markenzeichen des ganzen Films. Große Bedeutung haben aber auch die Stimmen der Schauspieler, wobei sie von den Schauspielern selbst sowie durch Bearbeitung in der Postproduktion in Szene gesetzt werden. Deutlich wird dieser Einfluss unter anderem, wenn man sich jahrelang an die Synchronstimme eines Seriendarstellers gewöhnt hat, und ihn dann plötzlich im Original zu hören bekommt – zumindest im ersten Moment wirkt die Stimme nicht „echt“.
Doch nicht nur die Stimme, auch die Sprechweise kann als Mittel zur Identitätskonstruktion verwendet werden. Mediensprecher und Politiker setzen beispielsweise bewusst Dialekt und dialektale Färbungen ein, um ihre regionale Identität und Solidarität zu unterstreichen.[6]
Um diese Vielzahl an akustisch-auditiven, gesellschaftlichen, technisch-medial vermittelten Phänomenen zu beschreiben und greifbar zu machen, haben sich NachwuchswissenschaftlerInnen vom 7. bis 9. November 2014 zur interdisziplinären Stipendiatentagung „Klang und Identität“ in Naumburg getroffen. Die Tagung wurde in der Reihe „Stipendiaten machen Programm“ der Studienstiftung des deutschen Volkes organisiert. Während der Tagung wurde von Theorien und Methoden sowie aus der Praxis berichtet. Der Blickwinkel reichte dabei von Musik‑, Medien- und Sprachwissenschaft über Geschichte, Theologie und Markenrecht bis hin zu Performance-Kunst, Tontechnik und Audio Branding. An die grundlegende Überlegung, wie Identität mit Hilfe auditiver und akustischer Mittel (re-)konstruiert werden kann, schlossen sich als Tagungsimpulse folgende Fragen an: Wie wird über akustische Mittel Identität erzeugt? Was für Identitäten sind das? Wie kann über verschiedene Geräusche und Klänge hinweg ein Eindruck von Kohärenz entstehen? Wann und warum nutzt man akustische Mittel zur Identitätsbildung? Wie läuft dieser Identifikationsprozess ab und für wen? Im Rahmen der Tagung konnten diese und weiterführende Fragen auf verschiedenste Zugänge zum Thema beleuchtet und diskutiert werden.
In den kommenden Monaten werden hier jeden zweiten Montag Artikel von Teilnehmenden zu Forschungsarbeiten und Praxisberichten zum Thema „Klang und Identität“ veröffentlicht. Diese Beiträge sollen einen Einblick in verschiedenste Herangehensweisen zum Thema gewähren, zu regem Gedankenaustausch einladen sowie zu innovativen, klangvollen und interdisziplinären Projekten anregen. Wir freuen uns, wenn dieser Blog auch über die Tagungsbeiträge hinaus eine Plattform rund um das Thema „Klang und Identität“ wird.
[1] Dieser Begriff wurde eingeführt von Schafer, Murray (1977): The Tuning of the World. New York.
[2] Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie anders Klänge, Geräusche und ihre Wahrnehmung in anderen Kulturen sein können, liefert Steven Feld in seiner Untersuchung der Klangwelt der Kaluli, die im Regenwald Papua Neuguineas leben. Steven Feld (2000): Sound Worlds. In: Kruth, P., Stobart, H. (Hg.): Sound. The Darwin College Lectures. Cambridge, 173–200.
[3] vgl. Schulze, Holger (2008): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate: Eine Einführung. Bielefeld, 116ff.
[4] Eine interdisziplinäre Übersicht dazu bieten z.B. die verschiedenen Beiträge des Kapitels „Jugend und ihre musikalischen Welten“ (S. 473–512) im Tagungsband von Altenburg, Detlef/Bayreuther, Rainer (2004): Musik und kulturelle Identität. Bd1: Öffentliche Vorträge, Roundtables und Symposien A.
[5] vgl. Merkel, Anna/Voigt-Zimmermann, Susanne (2011): Potential von Stimmübungen zur Aktivierung psychischer Ressourcen – eine qualitativ-empirische Studie. In: Bose, Ines/Neuber, Baldur (Hg.): Interpersonelle Kommunikation: Analyse und Optimierung. Frankfurt a.M., 261–268.
[6] vgl. z.B. Coupland, Nikolas (2007): Style, Language Variation and Identity. Cambridge, 156ff.