Klang und Identität

Distorted Sounds – Verzerrte Klangidentitäten

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Christoph Wald

Bei Pop­musik wird gern gefragt, ob ein Lied oder ein Album denn auch authen­tisch sei. Der Begriff der Authen­tiz­ität wird dabei mit unter­schiedlichen Bedeu­tun­gen ver­wen­det, z.B. im Sinne ein­er Unver­fälschtheit des kün­st­lerischen Aus­drucks. Ganz offen­sichtlich ste­hen nun aber zwis­chen Musik­er und Hör­er unzäh­lige Dinge: Abspiel­geräte, Stream­ing­di­en­ste, Plat­ten­fir­men, Com­put­er, Mikro­fone, Laut­sprech­er und nicht zulet­zt Instru­mente. Auf­gabe des Musik­ers wäre es also, seine „Botschaft“ nicht von diesen Appa­rat­en kor­rumpieren zu lassen. Dieses hier sehr pointiert skizzierte Span­nungs­feld hat zu eige­nar­ti­gen Abstu­fun­gen in der Bew­er­tung musikalis­ch­er Tech­nolo­gie geführt: LPs seien authen­tis­ch­er als mp3s, Röhren­ver­stärk­er authen­tis­ch­er als Tran­sis­torver­stärk­er, Akustikgi­tar­ren authen­tis­ch­er als E‑Gitarren. Das vari­iert in den unter­schiedlichen Gen­res, denn selb­stver­ständlich sind E‑Gitarren in der Rock­musik und Drum-Machines im Hip-Hop unverzicht­bar – man muss halt die „richti­gen“, also die tra­di­tionell bewährten Instru­mente und Geräte ver­wen­den. Die Grun­didee ein­er Unter­schei­dung in mehr oder weniger ver­fälschende Tech­nolo­gie bleibt dieselbe. Dahin­ter ste­ht ver­mut­lich die Besorg­nis, dass die entschei­den­den Merk­male des klin­gen­den Ergeb­niss­es nicht mehr voll­ständig auf Aktiv­itäten des Musik­ers zurück­ge­führt wer­den kön­nten. In let­zter Kon­se­quenz würde das schließlich seine Aus­tauschbarkeit bedeuten.

Ich möchte als Beispiel einen Blick auf das wichtig­ste Effek­t­gerät des E‑Gitarristen wer­fen, den Verz­er­rer. Hier wird ein­er­seits beson­ders deut­lich, wie stark die Klangverän­derun­gen sein kön­nen, für die Musik­er let­z­tendlich nur einen (Fuß-)Schalter bedi­enen müssen. Ander­er­seits kann beobachtet wer­den, wie die Effek­te von den Musik­ern trotz­dem nicht als Bedro­hung ihrer kün­st­lerischen Iden­tität ver­standen werden.

Was ist ein Verzerrer?

Bei der gewöhn­lichen Wieder­gabe von Musik gilt Verz­er­rung (Dis­tor­tion), wie sie etwa bei über­be­lasteten Lap­top-Laut­sprech­ern auftritt, als deut­liche Trübung des Hörvergnü­gens. Auch bei der Ver­stärkung von E‑Gitarren war dies zunächst ein unge­wolltes Phänomen. Wenn die Laut­stärke des Ver­stärk­ers erhöht wird, erre­icht dieser irgend­wann seine Leis­tungs­gren­ze. Dadurch kön­nen die umge­wan­del­ten Schall­wellen nicht mehr 1:1 ver­stärkt wer­den. Jew­eils an den Hoch- und Tief­punk­ten des Drucks wer­den die Wellen beschnit­ten und es entste­hen neue Wellen­for­men, die ein erweit­ertes Klangspek­trum aufweisen[1]. Gitar­ris­ten gefällt an diesem neuen Spek­trum vor allem zweier­lei: Es ist dichter („fet­ter“) und die Töne klin­gen länger aus, was man z.B. in den als weg­weisend ange­se­hen Auf­nah­men Eric Clap­tons von 1966 hören kann. Zur Akzep­tanz dieser neuen Klan­glichkeit hat zu Beginn unter anderem die Ähn­lichkeit mit kräftig gespiel­ten Sax­o­pho­nen geführt[2]. Im weit­eren Ver­lauf der tech­nisch-musikalis­chen Entwick­lung gab es nun das Prob­lem, dass man für das größer wer­dende Pub­likum lautere Ver­stärk­er benötigte, die man dann aber auch wieder ganz laut stellen musste, um die gewün­schte Verz­er­rung zu bekom­men. Ein Lösungsver­such war die Kon­struk­tion von kleinen Geräten mit weni­gen Drehre­glern und einem Fußschal­ter, die zwis­chen Gitarre und Ver­stärk­er geschal­tet wur­den und den Verz­er­rungsklang unab­hängig von der Laut­stärke des Ver­stärk­ers repro­duzieren soll­ten. Tat­säch­lich klan­gen sie aber anders, wie dieses Wer­be­v­ideo von 1962 für das erste in Serie pro­duzierte Gerät zeigt. Deut­lich erkennbar ist das Bemühen, die Klang­farbe zu verorten:

Für die sägende Klang­farbe dieser ersten Verz­er­rer hat sich der Begriff „Fuzz“ etabliert. Seit­dem hat sich struk­turell eigentlich nichts wirk­lich Entschei­den­des verän­dert. Nach wie vor wer­den neue Geräte entwick­elt, die bekan­nte Verz­er­rungstypen imi­tieren und opti­mieren, sel­tener auch welche, die neue Verz­er­rungstypen etablieren wollen. Nach wie vor ori­en­tieren sich Gitar­ris­ten am Klangide­al des über­s­teuerten Röhren­ver­stärk­ers und nutzen die unüber­schaubare Vielfalt der Effek­t­geräte als Baukas­ten für das Fein­tun­ing des eige­nen Sounds.

Die Verz­er­rer verän­dern die Musik

Zwei Beispiele für die unmit­tel­bare Verän­derung des Klangs, die durch das Anschal­ten eines Verz­er­rers entste­ht. In den Klang­beispie­len erklin­gen abwech­sel­nd Klänge ohne und mit dem Effekt[3]:

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„Big Muff“ „Geiger Counter“

Der „Big Muff“, ein gut 45 Jahre altes Gerät, ist eines der am weitesten ver­bre­it­eten Verz­er­rer. Eine recht über­sichtliche Bedi­enung ermöglicht Anpas­sun­gen des Grund­klangs, der aber immer zu erken­nen bleibt und eine etwas untyp­is­che Vari­ante des Fuzz darstellt. Der „Geiger Counter“ der Fir­ma WMD stammt aus dem Jahr 2012. Es han­delt sich um einen Bit Crush­er, der Verz­er­run­gen mit der Reduk­tion von Sam­ple- und Bitrate pro­duziert. Zahlre­iche Bedi­enele­mente und 252 gespe­icherte Waveta­bles ermöglichen eine große Band­bre­ite an Klän­gen, deren dig­i­tale Herkun­ft zumeist sehr deut­lich zu hören ist. Die Klangverän­derun­gen sind umfassend, um unver­fälscht­en Klang geht es wohl eher nicht. Mit dem „Big Muff“ kön­nte man sich immer­hin auf den in der Rock­musik als pro­to­typ­isch ange­se­henen Klang der 70er Jahre berufen, Authen­tiz­ität als Tra­di­tion also. Außer­dem beste­ht der „Big Muff“ im Grunde nur aus einem Schal­ter, so dass er den Kün­stler nicht sein­er artis­tis­chen Kon­trolle berauben kann – schließlich hat ein Lichtschal­ter ja wohl auch keinen Ein­fluss darauf, ob er bedi­ent wird oder nicht[4]. Anders beim „Geiger Counter“, der für die aller­meis­ten eine Black Box sein wird. Es existiert zwar eine Tabelle aller Waveta­bles, aber was genau diese eigentlich mit dem resul­tieren­den Klang zu tun haben, bleibt ohne gründlich­es Vor­wis­sen völ­lig unklar. Die Her­steller geben fol­gende Infor­ma­tion: „The wave table stage takes your sig­nal and destroys it with math.“. Die Klange­in­stel­lung erfol­gt hier also fast auss­chließlich nach dem Gehör in ein­er Feed­backschleife mit dem Gerät. Wer eine eigene Klangvorstel­lung real­isieren will, muss bere­its einen Lern­prozess mit dem „Geiger Counter“ durch­laufen haben, der sein­er­seits aber wieder die Klangvorstel­lun­gen bee­in­flusst haben wird.

Aus der Kurze­in­führung in die His­to­rie der Verz­er­rungsklänge dürfte deut­lich gewor­den sein, dass auch hier keine lin­earen Ver­hält­nisse vor­liegen. Die Bedürfnisse der Musik­er und die Möglichkeit­en der Instru­mente inter­agieren vielmehr. Mal ste­hen die Bedürfnisse an erster Stelle (Laut­stärke), mal die Möglichkeit­en der Geräte (Verz­er­run­gen). Tat­säch­lich verän­derte die neue Klang­farbe auch die Spiel­weise der Gitar­ris­ten. Wer bei hoher Verz­er­rung Akko­rde mit mehreren unter­schiedlichen Tönen spielt, muss fest­stellen, dass nicht nur das Klangspek­trum jedes einzel­nen Tons erweit­ert wird, son­dern auch, dass die Klangspek­tren inter­agieren und Dis­so­nanzen entste­hen. In Inter­ak­tion mit ihren Verz­er­rern spie­len viele Gitar­ris­ten daher nur noch zwei unter­schiedliche Töne gle­ichzeit­ig, hier ein sehr früh­es Beispiel von den Kinks (1964). Damit wird die Dif­feren­zierung der Akko­rde vom Griff­brett in das Effek­t­gerät ver­legt. Diese Spiel­weise ist entschei­dend für neue Spielarten der Rock­musik in den 70ern, Punk und (Heavy) Met­al, so dass man streng genom­men die Geräte hier als Mit­be­grün­der nen­nen müsste.

Hand­lungs­macht

Wie gehen nun die Kün­stler damit um, dass ihre Entschei­dun­gen und Vorstel­lun­gen von den Geräten bee­in­flusst wer­den? Dazu nur einige erste Beobach­tun­gen. Bere­its das Design und die Namen der Geräte geben Hin­weise auf ein Ver­ständ­nis, das der Kon­sument qua­si mitkauft. Die Ver­wen­dung des „Geiger Counter“ scheint man dem (wis­senschaftlichen) Umgang mit gefährlichen Sub­stanzen gle­ichzuset­zen. Dies ist durch die Far­bge­bung und das Atom­sym­bol visuell umge­set­zt. Beim „Big Muff“ ver­weist die Titel­ge­bung[5] auf eine männlich dominierte, an Sex­is­men nicht eben arme Kul­tur der Rock­musik. Wer diese ersten Beobach­tun­gen in der Wer­bung, Reviews der Fach­presse, Inter­views mit Kün­stlern, Foren­beiträ­gen usw. fort­set­zt, wird hier ein generelles Muster ver­muten. Das Ver­hält­nis Künstler–Technologie erscheint als asym­metrisches Herrschaftsver­hält­nis. Dazu wer­den metapho­rische Über­tra­gun­gen aus ein­schlägi­gen Bere­ichen bemüht, beispiel­weise erscheint das Gerät als wildes, ungezähmtes Tier oder gle­ich als Poten­tat. Eben­so häu­fig wird der Verz­er­rer als Hil­f­s­mit­tel zur Steigerung der Potenz („Via­gra für den Amp“), der Schlagkraft oder als wis­senschaftlich­es Instru­ment konzep­tu­al­isiert. Spätestens an dieser Stelle müsste nun genauer unter­schieden wer­den, welche Rolle Kün­stlern, Effek­t­geräten, Ver­stärk­ern sowie dem „Sound“ in den Szenar­ien jew­eils zugeschrieben wird.

Die Frage nach der Agency oder Hand­lungs­macht von musikalis­ch­er Tech­nolo­gie, Instru­menten und hier konkret den Verz­er­rern ist also min­destens zweis­chichtig. Zunächst sind die Geräte unmit­tel­bar und mit­tel­bar (über eine Beschränkung der Möglichkeit­en) an der Klang­pro­duk­tion beteiligt. Zweit­ens sind sie aber auch Bausteine des Sounds in einem Sinne, der Sound nicht rein physikalisch-akustisch ver­ste­ht son­dern als eine Art Klangi­den­tität, in der auch visuelle oder sprach­liche Fak­toren entschei­dend mitwirken. Die Geräte wer­den nicht nur zur Klanggestal­tung son­dern auch zum self-fash­ion­ing (Stephen Green­blatt) ver­wen­det, was sich zum Beispiel im Netz gut nachvol­lziehen lässt. Auch hier sind also Möglichkeit­en der Pro­duk­tion vorgegeben, dies­mal der Sin­npro­duk­tion. Es ist fraglich, ob die Pro­duk­tion­sebe­nen in der Prax­is zu tren­nen sind.

Christoph Wald, Jahrgang 1982, studierte Musik­wis­senschaft, Philoso­phie und Psy­cholo­gie an der Uni­ver­sität Würzburg. Er arbeit­et als wis­senschaftlich­er Mitar­beit­er am Insti­tut für Kun­st- und Musik­wis­senschaft der TU-Dres­den. Seine dem­nächst erscheinende Dok­torar­beit unter­sucht die Wieder­hol­un­gen in den späteren Instru­men­tal­w­erken Franz Schuberts.


[1] Wer es genauer wis­sen will, find­et hier eine eher tech­nis­che und hier eine anwen­deror­i­en­tierte Einführung.
[2] Vgl. für die par­al­le­len klan­glichen Verän­derun­gen in Stimm­be­hand­lung, Gitar­ren­ver­stärkung und Sax­ophon­spiel Hicks, Michael (1999): Six­ties Rock. Garage, Psy­che­del­ic and, Oth­er Sat­is­fac­tions. Urbana and Chica­go, ins­bes. die Kapi­tel „The Against-the-Grain of the Voice“ und „The Fuzz“.
[3] Für den Big Muff wurde ein Orange OR 120 mit der Mar­shall­box 1960A, für den Geiger Counter ein Sound City B100 mit der dazuge­höri­gen Box ver­wen­det. Aufgenom­men wurde jew­eils mit einem MD 421, gespielt wurde der der Steg-Pick­up ein­er gün­sti­gen Tele­cast­erkopie, auf Drop‑H gestimmt.
[4] Dage­gen sollte man ein­wen­den, dass bere­its Objek­te, die ein­fach nur da sind als Akteure fungieren kön­nen, so etwa die Boden­schwelle zur Reg­ulierung der Geschwindigkeit (vgl. Latour, Bruno (2002): Die Hoff­nung der Pan­do­ra. Unter­suchun­gen zur Wirk­lichkeit der Wis­senschaft. Frank­furt a.M.) oder auch die Innenein­rich­tung von Büros (vgl. Robert Schmidt (2012): Sozi­olo­gie der Prak­tiken. Konzep­tionelle Stu­di­en und empirische Analy­sen. Frank­furt a.M., 130–155).
[5] Vgl. urbandictionary.com “Muff”

Dies war ein Beitrag von Christoph Wald im Vor­trags­block “Jugend­kul­tur” der Tagung “Klang und Iden­tität”.

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