Hallische Höllenqualen: Sterben in Halle

Gestorben wird IMMER!

Der schwierige Umgang mit dem Anderen

| Keine Kommentare

Noch im 18. Jahrhundert notierte der berühmte Chronist Halles Johann Christoph von Dreyphaut sämtliche Wetter- und Himmelserscheinungen, Kometen oder Missgeburten. Er folgte damit dem Erbe der protestantischen Prophetie, die besonders im späten 16. Jahrhundert solche Prodigien als Vorzeichen des baldigen Weltendes deutete und daher eifrig zusammentrug. Auch wenn sich Dreyhaupts Interesse vermutlich nicht mit dieser religiösen Erwartung verband, notierte er für das Jahr 1738 den Tod einer „Missgeburt“ mit 4 Füssen und 4 Armen aber nur einem Kopf. „Vorwarts die ordentliche Bildung an Augen, Nasen und Ohren“, hinten am Kopf aber befanden sich die Geschlechtsorgane der Kinder.

zwi

Nicht nur diese außergewöhnliche Fehlbildung fand im 18. Jahrhundert großes wissenschaftliches Interesse. Der Königliche Leib- und Feld-Medico Lesser nahm den Leichnam an sich, um in „zu Berlin in Spiritu verwahrlich“ zu halten. Etwa 8000 solcher Präparate befinden sich mit der Meckelschen Anatomischen Sammlung heute auch in Halle [http://www.meckelschesammlungen.uni-halle.de/entstehung-und-werdegang/].

Während in den letzten Jahren zahlreiche historische Forschungen zur Prodigienliteratur, Monster-Darstellungen und die Wahrnehmung von Missgeburten erschienen sind, nähert sich die Forschung erst allmählich an das Thema des Umgangs mit behinderten Menschen und ihren Familienangehörigen. Dreyhaupt jedenfalls ließ keinen Zweifel, was die tragische Metamorphose des Zwillingspärchens auslöste: Die liederliche Dirne, so führt er aus, hätte sich bei einer Schlittenfahrt, an einer Maske „versehen“. Sowohl der Schreck wie auch die unterstellte moralische Schwäche des Mädchens führten damit zur Zeichnung der Frucht. Es bedurfte noch etlicher anatomischer und biologischer Forschungen, bis Behinderung nicht mehr als Strafe menschlicher Sünde verstanden wurde.

Literatur:

Dreyhaupt, Johann Christoph von, Pagus Neletici et Nudzici, oder, Ausfuehrliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den westphaelischen Friedens-Schluss secularisirten Hertzogthum Magdeburg gehoerigen Saal-Creyses : und aller darinnen befindlichen Staedte, Schloesser, Aemter, Rittergueter, adelichen Familien, Kirchen, Cloester, Pfarren und Doerffer, insonderheit der Staedte Halle, Neumarckt, Glaucha, Wettin, Loebeguen, Coennern und Alsleben, Halle 1755, S. 645.

Hammerl, Michaela: Prodigienliteratur. In: Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, hrsg. v. Gudrun Gersmann, Katrin Moeller und Jürgen-Michael Schmidt, in: historicum.net, URL: http://www.historicum.net/themen/hexenforschung/lexikon/sachbegriffe/art/Prodigienlitera/html/artikel/5523/ca/1992779a75c14cda95f725854952bffa/.

 

Autor: Katrin Moeller

Als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Historischen Datenzentrums Sachsen-Anhalt bin ich an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Insititut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg tätig. Nicht nur im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit sondern auch in Lehrveranstaltungen gibt es so viele Berührungspunkte rund um das Thema "Digital Humanities, Methoden in der Geschichtswissenschaften und Forschungsdatenmanagement". Mit Leidenschaft bin und bleibe ich aber vor allem Historikerin der Frühen Neuzeit!

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.