Daniel Tiemeyer
Franz Schreker gehörte zu den einflussreichsten Komponisten seiner Generation[1]. Bereits mit seiner ersten Oper, Der ferne Klang, die 1912 in Frankfurt uraufgeführt wurde, konnte er sensationelle Erfolge für sich und sein Werk verbuchen. Schreker hat mit seiner Musik gewissermaßen den Nerv seiner Zeit getroffen – in einer Rezension heißt es beispielsweise, „solche Klänge liegen in der Luft“[2] – und ist zu einem der bedeutendsten Vertreter der Musik der Wiener Moderne avanciert. In diesem Blogbeitrag möchte ich den Fokus auf Schrekers klangästhetische Konzeption und deren kompositorische Umsetzung legen. Begleitet wird der Text von zwei Musikbeispielen, die allerding nur eine Ahnung von der Faszination und Sinnlichkeit des Schreker’schen Klanges geben können.
Schrekers ästhetische Konzeption des Klanges
Um das Phänomen des Klanges in Schrekers Opern genauer zu fassen, möchte ich zunächst einen kurzen Einblick in die ästhetische Konzeption seines Schaffens geben. Obwohl Schreker sich schriftlich nur äußerst widerstrebend zu seiner künstlerischen Agenda äußerte, gibt es vereinzelt aufschlussreiche Aussagen von ihm. Nach seiner musikdramatischen Idee gefragt, schrieb er im Jahre 1919 Folgendes: „Geheimnisvoll-Seelisches ringt nach musikalischem Ausdruck. Um dieses rankt sich eine äußere Handlung, die unwillkürlich schon in ihrer Entstehung musikalische Form und Gliederung in sich trägt. Mit der Vollendung der Dichtung steht in großen Umrissen der musikalische Bau des Werkes vor mir.“[3]
Diese Zeilen sind entscheidend für das Verständnis von Genese und Struktur seiner Werke. Das „Geheimnisvoll-Seelische“ gerinnt als Kern seiner Opern in Gestalt von vielschichtigen und differenziert gestalteten Klangereignissen zur dramatischen Form. Die Ausdrucksmöglichkeiten des reinen Klanges, so Schreker weiter, seien so mannigfaltig, dass dieser eines der „wesentlichsten musikdramatischen Ausdrucksmittel“[4] überhaupt sei. Entscheidend für die Entwicklung der Opern ist, dass eine zentrale „Klangvision“[5] den Kern des jeweiligen Werkes bildet. In einem kurzen Text über die Entstehung seiner Opernbücher deutet Schreker an, dass ganz konkrete Erlebnisse und Stimmungen den Ausgangspunkt für seine künstlerische Imagination darstellten, aus denen heraus er Handlung und Musik entwickelte. Die Inspirationsquellen reichen dabei von einem sonderbaren Abend in einem fantastisch möbliertem Gästezimmer am Semmering bis hin zu dem merkwürdigen Klang eines Ortsnamens[6].
Kein Geringerer als der bedeutende Musikkritiker Paul Bekker setzte sich von Beginn an für die Verbreitung und theoretische Rechtfertigung der Opern Schrekers ein. In seinem Essay „Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper“ attestiert er diesem sogar, dass es sich bei ihm um „den Musiker, der als erster nach Wagner wieder musikalisch und dramatisch vollblütige Opern geschaffen hat und der seiner Begabung nach berufen scheint, einen neuen, selbständigen Operntypus zu schaffen“[7], handele. Bekker erkennt in dem musikdramatischen Werk Schrekers bis zur Zeit der Veröffentlichung seiner Broschüre, die nach der Premiere der Gezeichneten (25. April 1918) publiziert wurde, nicht weniger als einen möglichen Nachfolger Richard Wagners. Ebenso wie dieser schrieb Schreker seine Libretti selbst, wobei der Kern der jeweiligen Opern eine spezifische Imagination des Klanges darstellt, um die herum sich die Gesamthandlung entwickelt. So konstatiert Bekker: „Die musikalische Vision steht am Anfang, ihre Versinnlichung formt sich in dramatischer Gestalt und dieser Gestaltungsprozeß erst fördert die Dichtung zutage.“[8]
Kompositionstechnisch setzt sich der Orchesterklang in den Opern Schrekers aus einer einzigartigen Verflechtung von einer fein austarierten Mischung individueller Instrumentalfarben, avancierter aber noch Dur-/Moll-tonal fixierter Harmonik sowie einer eingängigen Melodik zusammen. Zudem greift Schreker verstärkt auf die Wirkungen von hinter oder neben der Bühne positionierten Fernorchestern und Chören zurück. In kompositorischer Hinsicht entfernt sich Schreker von der „Leitmotivtechnik“ Wagners, dessen Partituren von einem symphonischen Gewebe durchzogen sind. Vielmehr nutzt Schreker die ältere Form des freier gehandhabten „Erinnerungsmotives“, mit dem er ganze Szenen und Akte gestaltet. Der Unterschied zwischen beiden mit diesen Begriffen nur grob erfassten Kompositionsweisen liegt darin, dass bei Wagner die Musik evolutionär aus kleinsten motivischen Elementen erwächst, so dass durch die semantische Konnotation der einzelnen Motive ein vielschichtiges musikalisches wie dramatisch bedeutungsvolles Beziehungsgeflecht entsteht, das die einzelnen Musikdramen vollkommen durchdringt. Das Erinnerungsmotiv wiederum, das eher auf den älteren Operntypus der deutschen romantischen Oper zurückgeht, verknüpft Melodik und Inhalt, jedoch ohne das musikalische Fundament der Oper darzustellen. Motive werden ebenfalls verarbeitet, indem sie an Handlung und Stimmung angepasst werden, jedoch ohne direkt in den motivisch-thematischen Verarbeitungsprozess einzugreifen.
Im Folgenden möchte ich zwei Beispiele der für die „Wiener Opern“ Schrekers so charakteristischen „Klangvisionen“ aufzeigen.
1. Waldszene[9] in Der ferne Klang
Die Protagonistin Grete ist von ihrem Geliebten, dem Komponisten Fritz, der sich auf die Suche nach dem „fernen Klang“ begeben hat, verlassen worden und versucht ihm zu folgen. In einem Wald erkennt sie die Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens und will sich in einem nahegelegenen See ertränken, als sich eine fantastische Wandlung vollzieht. Das Mondlicht dringt durch die Wolkendecke und taucht die Szene in eine eigentümliche Sphäre: „Schwüle Lüfte umfangen das Mädchen. Nächtlicher Waldzauber. – Die Natur atmet Liebe und Verheißung“ lautet die Regieanweisung an dieser Stelle. In diesem Moment erwächst in Grete eine einzigartige Sehnsucht nach ihrem Geliebten.
Das silbern schimmernde Mondlicht wird durch die Instrumentation (Harfen, Celesta, Triangel) Schrekers eindrucksvoll eingefangen, während die Sanftmütigkeit der Natur durch den weichen Fluss der Melodik in der ersten Violine sowie durch die parallel verschobenen Akkorde der Mittelstimmen (Bratschen, später Hörner) generiert wird. Grundiert wird das Naturereignis mithilfe des profunden Instrumentalbasses, der sich in Gestalt eines Orgelpunkts (Violoncello, Kontrabass) manifestiert. Repräsentativ sowohl für das Waldweben als auch für Schrekers Kunst der instrumentalen Verarbeitung ist, dass diese vier musikalischen Schichten frei miteinander kombiniert werden bzw. die jeweiligen Funktionen von anderen Instrumenten übernommen werden und es somit zu einer leichten beständigen Modifikation des musikalischen Farbeindrucks kommt. Die wohlige Stimmung der Szene wird also nicht nur durch den Gang der floralen Motivik erzeugt, sondern vor allem auch durch die einzelnen fein austarierten Schattierungen der Klangfarbe.
2. Carlottas Hymnus an die Nacht
Ein ähnlicher Eindruck in ganz anderem Kontext bietet Carlottas Hymnus an die Nacht aus dem dritten Akt von Die Gezeichneten[10]. Auch hier sind verschiedene Instrumentallinien zu einem eindrucksvollen sinnlichen Gesamteindruck miteinander verwoben, allerdings treten bei diesem Beispiel noch die vokalen Linien im Sopran und im Chor hinzu. Der Klang setzt sich wiederum aus einer verlockenden Melodie, die von einem satten Instrumentalbass unterlegt wird, zusammen, während das eigentümliche Schimmern und Funkeln der Musik durch die differenziert gestalteten Mittelstimmen erzeugt wird.
Diese Ausdifferenzierung zwischen den einzelnen musikalischen Ebenen sowie die dadurch mögliche Kombination der verschiedenen Linien können als ein wesentliches kompositorisches Merkmal für die instrumentale Kunst Schrekers gelten. Musikanalytisch wäre diese Vorgehensweise mit dem Terminus der „Texturtechnik“[11] zu umschreiben, nach der der komplexe Orchestergesamtklang sich in unterschiedliche Ebenen und Funktionen aufspaltet und diese frei miteinander kombiniert werden. Dieses Verfahren lässt sich bereits bei Wagner erkennen, wird jedoch von Schreker zur Vollendung geführt.
Daniel Tiemeyer, Jahrgang 1985, arbeitet an der Universität Wien und schreibt seine Dissertation zum Thema “Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern Franz Schrekers“. Die Arbeit wird gefördert durch ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er hat in den Fächern Musik/Musikwissenschaft und Geschichte einen Bachelor von der Universität Osnabrück und jeweils ein Diplom von der Universität Wien.
[1] Zur Biografie Franz Schrekers vgl. Hailey, Christopher Hailey (1993): Franz Schreker 1878–1934. A cultural biography. Cambridge.
[2] Bie, Oskar: Rezension der Oper „Der ferne Klang“. In: Berliner Börsenkurier vom 1. April 1914, zit. nach Musikblätter des Anbruch, Jg. 1 (1919), 53.
[3] Schreker, Franz (1919): Meine musikdramatische Idee. In: Musikblätter des Anbruch, Jg. 1 (1919), 6.
[4] vgl. ebd., 6.
[5] vgl. Bekker, Paul (1919): Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper. Berlin, 24.
[6] Schreker, Franz (1920): Über die Entstehung meiner Opernbücher. In: Musikblätter des Anbruch, Jg. 2 (1920), 547–549. Bei dem Ortsnamen handelt es sich um Schrekers fünfte Oper Irrelohe.
[7] Bekker, Paul (1919): Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper. Berlin, 8.
[8] vgl. ebd., 22.
[9] Eine ausführliche Darstellung der Waldszene findet sich bei Kienzle, Ulrike (1998): Das Trauma hinter dem Traum. Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“ und die Wiener Moderne. Schliegen, 151–174.
[10] Weiterführend zur Oper „Die Gezeichneten“ vgl. Klein, David (2010): „Die Schönheit sei Beute des Starken“. Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“. Mainz.
[11] vgl. hierzu Janz, Tobias (2006): Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“. Würzburg, 70f.
Dies war ein Beitrag von Daniel Tiemeyer im Vortragsblock “Komposition” der Tagung “Klang und Identität”.