Kleine Zusammenfassung dessen, was für mich als relevant erschien:
Röm 11,11-24 ist eine komplexe und grammatikalisch aufgeladene Bibelstelle. Für die Exegese grundlegend ist die Frage „Sind sie etwa gestolpert, um zu fallen?“. Paulus versucht, dem „Stolpern“ einen Sinn beizumessen. Das Subjekt der Frage bezieht sich auf die in Röm 11,7 genannten „Übrigen“. Je nachdem wie die Konditionalsätze in den folgenden zwei Versen in ihrer grammatikalischen Funktion gedeutet werden, entsteht ein unterschiedlicher Sinnzusammenhang. Einerseits kann der Konditionalsatz als irrealis fungieren. Dies bedeutet, dass Paulus die Möglichkeit sieht, die Juden zum Heil zu führen, was er aber als sehr unwahrscheinlich einschätzt. Andererseits kann das konditionale Satzgefüge dahin gehend gedeutet werden, dass Israel eine reale Perspektive zur Heilserlangung hat.
Die Frage, nach dem Heil und Unheil und wem welches gilt, wird mit dem Ölbaumgleichnis (Röm 11,17-24) aufgenommen. Es handelt sich um eine dialektische Darstellung des wilden, mit ungenießbaren Früchten bestückten Ölbusches und des kultivierten, edlen Ölbaumes, sowie dessen Wurzel und Zweige. Paulus nutzt in seiner Schilderung das Erstaunen des Lesers für sich, denn, im Gegensatz zur gängigen Veredelungspraxis eines Ölbaumes, beschreibt er das Einpropfen eines wilden Ölbaumes in einen edlen. Ihm geht es hierbei vordergründig, entgegen den Erwartungen des Lesers, nicht um das Veredeln, sondern um die Auswirkungen des Einpropfens und Abschneidens von Zweigen.
Auf der Sachebene stellt sich nun die Frage, wer die Bestandteile der Ölbaume sind.
Die Wurzel des Ölbaumes ist das Volk Israel, das vor der Wahl steht, welche Art von Ölbaum aus dessen Wurzel sprießt. In den sprießenden Baum werden nun von Gott wilde Ölzweige eingepfropft, die stellvertretend für die Heidenchristen stehen, und diejenigen, die des Heils nicht würdig erscheinen in den Augen Gottes, werden von ihm herausgeschnitten. Gott handelt aktiv. Der Ölbaum schließlich repräsentiert, gemäß einer von vielen Möglichkeiten, das Volk Israel, denn es ist die Wurzel, aus dem der Ölbaum wächst (vgl. Jer 11,16; Hos 14). Das israelische Volk soll die Heidenchristen in ihr Heil aufnehmen (der Ölbaum soll die Zweige des wilden Ölbusches annehmen).
Als letzten Punkt muss nun auf die Textpassage παρα φυσιν (Röm 11,21ff.) Bezug genommen werden, damit der Sinnkreis geschlossen und die Intention Paulus´extrahiert wird. Paulus argumentiert gegen das triumphierende Auftreten der Juden, die das Heil haben und versuchen, eine Exklusivität den Nationen gegenüber zu bezeugen. Triumph aber ist eine Emotion, die im Kontext der Erwählung durch Gott nicht zulässig ist (vgl. Röm 11,18). Triumphieren darf man, wenn man selbst etwas erreicht hat, hier jedoch nimmt Gott die aktive Rolle ein, indem er erwählt und einpfropft bzw. ausschließt und abschneidet. Den Erwählten wird eindringlich das Abkehren vom Triumphieren geboten.
Was ich mir aus der Sitzung vom 13.5. mitnehme:
-Situation der Juden in Rom: wohl viele Freigelassene; 2 Vertreibungen im 1. Jh., aber Möglichkeit zur Rückkehr nach Rom
– „Israel“ in Röm. 9-11: historische Beschreibung und theologische Argumentation vermischen sich und gehen ineinander über
– Ölbaumgleichnis: nach menschlicher Logik und Praxis macht es keinen Sinn, den wilden Zweig in die edle Pflanze einzupfropfen – umso mehr wird die Besonderheit des Wirken Gottes hervorgehoben, Nichtjuden in das Gottesvolk aufzunehmen; Gottes Wirken wird gerühmt und wir Menschen sind zur Demut aufgerufen
Antwort Annette Weissenrieder: Leider kann ich den Namen der Verfasser*in des Beitrags nicht sehen.
Zunächst: Der Beitrag ist ganz hervorragend! Können Sie nochmals erläutern, wie sie den Zusammenhang der Juden in Rom zu den christlichen Nicht-Juden oder auch Juden deuten. Wie lässt sich Ihre erste Bemerkung nochmals im Gesamtbild des Ölbaumgleichnisses verstehen?
Dann würde mich interessieren: Wie definieren Sie jetzt „Rest“? Welche theologische und soziologische Funktion kommt dem „Rest“ zu und aus welcher Gruppe speist er sich?
Was meinen Sie: Wo ist Paulus zuzuordnen: Spricht er hier als Jude oder als bekehrter Christ?
Danke!!
Gedanken von Charlotte Wagner:
Ich habe den ersten Beitrag nicht verfasst, möchte mich aber weiter mit dem Gedanken des „Ölbaums“ und des „Restes“ beschäftigen. Ich habe Agamben und Taubes gelesen.
Vielleicht kann man dem Bild der eingepfropften Zweige mit der Idee des Restes näher kommen. Ich finde interessant, wie Agamben den messianischen Rest, der zur Erlösung führt, als eine in sich selbst geteilte Entität versteht, durch die weder Juden noch Heidenchristen zu sich selbst Bezug nehmen können und beide gleichermaßen in einer Spannung in sich selbst und zueinander stehen, sich also „selbst unendlich fehl[en]“ (Agamben: 65). In diesem Sinne kann der Ölbaum eine Möglichkeit bieten, Israel zu „den Griechen“ in Beziehung zu setzen und andersherum: so wie beide Gruppen, „am“ wie „gojim“, auf göttliche Erlösung (die sich menschlicher Ethik entzieht) hoffen und von ihr abhängig sind, sind sie es auch voneinander, da die Erfahrung des „Rest-Seins“ gegenüber der verheißenen Einheit bei und durch Gott eine menschliche ist.
Die Frage, ob Paulus in Röm 9-11 als bekehrter Christ oder Jude spricht, wage ich nicht abschließend zu beantworten. Interessant finde ich aber Taubes Idee, Paulus wolle sich von Mose absetzen und sei daher der eigentliche Begründer der messianischen Gemeinschaft (später des Christentums) mit einer neu gewonnenen Autorität (Taubes: 57f.). In seinem Verständnis lese ich Paulus als „jüdischen Apostel“, der, angestoßen durch das Geisterleben und die Konstituierung einer neuen Gemeinde im eschatologischen Jetzt seiner Zeit und vor dem Faktum der Erwählung Israels (Taubes: 67), ein fundamentales Verständnis von Gesetzlichkeit und Glauben zu festigen sucht. In seinem Verständnis der Messiasfigur als – zuerst und zuletzt – Erlöser Israels predigt er den Heiden, um Israel auf dessen eschatologische Bedeutung für die Völker der Welt aufmerksam zu machen. Gleichwohl bekräftigt seine Missionstätigkeit, dass sie „Geliebte um der Väter willen“ (Taubes: 72) sind und bleiben. Es steht und fällt also gewissermaßen alles mit Israel – ohne es verliert der Gedanke von Mission fundamental an Bedeutung und wird zu einer leeren Hülle dessen, was Glaube und Gemeinschaft in Christus für Paulus bedeutet.
Soweit meine Gedanken zu den von mir gelesenen Texten. Es wird wahrscheinlich noch sehr lange in mir dazu arbeiten. Mir erschließt sich bei Weiten nicht alles, aber ich bin dankbar für die neue Sensibilität für das Thema, die ich durch die alternativen Lesarten und Kommentare immer mehr spüre.
Annette Weissenrieder:
Vielen Dank für Ihre weiterführende Lektüre. Können Sie nochmals stärker herausstellen, inwieweit sich Taubes und Agamben in ihrem Bezug auf den „Rest“ unterscheiden?
Antwort Fr. Wagner: Nach der Sitzung heute (20.05.) verstehe ich den Restbegriff bei Taubes in einem allumfassenderen Ausmaß als bei Agamben. Möglicherweise etabliert sich der messianische Rest, indem das paulinische Liebesgebot im „Zugeständnis der Bedürftigkeit“ ausgelebt wird – ein Zugeständnis an sich aber vor allem an den Nächsten als eine Art neuen Lebensstil – und sich so eine neue Gemeinde etabliert. Der Messias ist das Zentrum, von dem aus Paulus auf „Heiden“ wie Juden zugeht und in dessen Folge ein neues Verständnis von Gesetz, das im pneuma tou theou gegenüber des pneuma tou kosmou (Taubes: 62) vermittelt wird, erwächst.
Das würde auch zu Taubes‘ weiteren Ausführungen passen, die Röm 12 und 13 in die Auslegung miteinbeziehen. Die „Restgemeinde“, geleitet durch das pneuma und das Liebesgebot als Erfüllung des Gesetzes, muss Wege finden, in der Zeit zu bestehen und um die Errettung des „pas israel“ als Teil des einen Leibes in Christus zu erlangen (Taubes: 72f.). Im Hinblick auf das erwartete Kommen des Messias ist es daher für Paulus schlüssig, gegenüber der Obrigkeit Gehorsam zu verlangen und vor allem auf die gegenseitige Agapé zu setzen – zum Einen, um „die Juden“ „eifersüchtig“ zu machen und zum anderen, um dem neuen Gesetz im Geiste gerecht zu werden.
Antwort Frau Mälck:
Ich finde deine Zusammenfassung sehr hilfreich und schlüssig, Charlotte!
Im Folgenden habe ich versucht, Agamben und Taubes gegenüber zu stellen:
Unterschiede:
Für Agamben ist der Restgedanke zentral. Er unterscheidet zwischen Juden, Nicht-Juden und Nicht-Nicht-Juden („wahren“ Juden). Durch den Rest werden die Grenzen zwischen den Juden und den Nicht-Juden aufgebrochen und eine neue Gruppe ensteht. Diese ausgesonderte Gruppe ist ein Teil des großen „Volkes“ Israel. Der Rest ist also nicht das, was übrig geblieben ist, sondern eine weitere Gruppe als Teil des israelischen Volkes.
In diesem Zusammenhang scheint die temporäre Einschätzung dieses Erwählens und Erwählt-Werden signifikant. Es wird zwischen kairos und chronos unterschieden. Unter kairos versteht sich die messianische Zeit und chronos ist die profane Zeitrechung. Im Kontext des „Zeit-raums“ befindet sich der Rest immer nur in der messianischen Zeit und wächst mit ihr. Es geht im Verständnis des kairos nicht um eine Art Apokalypse oder Eschaton, sondern die messianische Zeit wiederholt sich immer wieder, wodurch neue Gruppen entstehen und das Volk Israel sowie der Rest neu definiert wird.
Welche Bedeutung hat der Rest nun für die „Gegenwart“?
Wir befinden uns (mal wieder) in einer Krise, aus der immer Spaltungen hervorgehen. Das Gottesvolk wird qualitativ erweitert. Entscheidend für Agamben ist, dass jede Gruppe aus einer Spaltung nur entsteht, damit die jeweils andere Gruppe, die sich zwangsläufig aus einer Spaltung ergibt, erlöst und Teil des erwählten Gottesvolkes wird.
D.h. die messianische Zeit ist nicht auf einen Zeitpunkt beschränkt, sondern durch den sich wiederholenden kairos hat jeder die Möglichkeit, dem Ruf der messianischen Zeit zu folgen. Diesem Ruf muss man überhaupt nur folgen, weil man sich seiner Erwählung nicht sicher sein kann. Die Rettung der anderen beruht auf meinem Verfolgen des kairos.
Taubes hingegen legt sich eine Pneumatologie und die Begriffe pas/pantes zugrunde. Für ihn ist Röm 8 die Schlüsselstelle. Das Gesetz Gottes wird durch den Geist, der durch Christus vermittelt wird, in den menschlichen nous gegeben. Der Geist ist das Verbindungsglied zwischen den Juden und Nicht-Juden, die versöhnt werden sollen. Es findet eine Umwertung der Werte bzw. eine „Aufwertung“ der anderen Gruppe statt. Es geht nicht mehr um bestimmte Gruppenzugehörigkeiten, sondern um die Gesamtheit derjenigen, die einst Gruppenanhänger waren (vgl. Eph 2), die nun erlöst werden können.
Taubes und Agamben geht es daher beiden um die Erlösung des Gottesvolkes und nicht um eine individuelle Erlösung (lutherisch). Es werden die Werte neuakzentuiert, denn das Gottesvolk nimmt nun auch die Nicht-Juden und die Nicht-Nicht-Juden bei sich auf. Die Rettung des anderen ist zentral, einerseits durch das Verfolgen des kairos (Agamben), andererseits durch den pneuma (Taubes).