24. Okt. 2025
Scharf getrennt
Gastbeitrag von Anselm Weidner; Erstveröffentlichung in: Der Freitag, vom 11. September 2025
1920: Die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) spalten sich in Halle über die Frage des Beitritts zur III. Internationale. Ihre Tage als eigeständige Partei sind gezählt.
Die Novemberrevolution ist gescheitert, der Versailler Vertrag in Kraft getreten, der Kapp-Putsch von ultrarechts wird im März 1920 durch reichsweite Massenstreiks beendet und die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) werden bei den Reichstagswahlen am 6.Juni mit 81 Mandaten hinter der SPD (112) zweitstärkste Partei. Die ‚Weimarer Koalition‘ aus Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrum ist am Ende.
In diesem politisch turbulenten unsicheren Jahr hält die USPD vor gut 105 Jahren im Halleschen Volkspark einen Sonderparteitag ab. Sie gilt als die damals „größte und bedeutendste revolutionäre Arbeiterorganisation außerhalb Sowjetrußlands … seit der Revolution … fraglos der dynamischste Faktor ihrer Zeit “, so der Historiker Robert F. Wheeler. Der einzige Tagesordnungspunkt dieses Kongresses lautet: Beitritt der USPD zur III. Internationale, die von den Bolschewiki beherrschten Komintern (KI). Am 16. Oktober 1920 spätnachmittags verkündet der Parteitagsvorsitzende Otto Braß das Abstimmungsergebnis: „236 Delegierte stimmten mit Ja, 156 Delegierte mit Nein.“3 Alle im Saal wussten, das bedeutete die Spaltung der USPD. Laut Parteitagsprotokoll verlassen die Delegierten der Rechten unter Zurufen und Pfiffen von der Tribüne den Saal, die Linke singt die Internationale.
Nach der Abstimmung wird dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Komintern Gregorij Sinowjew (1883 – 1936) das Wort erteilt: „Genossen, wenn von der Arbeiterklasse ein Teil der bürgerlichen Elemente weggeht, so ist eine solche Spaltung nützlich für die Arbeiterklasse… Ihr seid jetzt Mitglieder der gesamten internationalen Arbeiterklasse, ihr seid Teil der Kommunistischen Internationale, und das soll unser allergrößter Stolz sein. Es lebe die USPD, wie sie jetzt in einer wirklich kommunistischen Partei dem Proletariat vorangeht.“ Das Protokoll verzeichnet Bravorufe Hoch! Hoch! Hoch!
Sinowjew, ein enger Vertrauter Lenins, ist nach Halle geschickt worden, um die von Moskau betriebene Spaltung der USPD zum Abschluss zu bringen. Dadurch sollte die damals noch völlig unbedeutende, aber moskautreue Splitterpartei KPD gestärkt werden. Das war das Kalkül – und es scheint aufzugehen. – Vieles spricht dafür, dass der später sog. Hallenser ‚Spaltungsparteitag‘ eine Inszenierung der Bolschewiki war. In seiner Schrift ‚12 Tage in Deutschland‘, eine Art politisches Tagebuch seiner Reise, schreibt Sinowjew: „In Stettin empfangen uns deutsche Genossen: der Vorsitzende des Verbandes der Seeleute, ein Anarcho-Kommunist, Genossen aus der Kommunistischen Partei Deutschlands und Kurt Geyer, Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Partei. Die erste Frage, die wir an Kurt Geyer richten, lautet: „Wer hat die Mehrheit auf dem Parteitage, wir oder sie, die Linken oder die Rechten? ‚Wir haben die Mehrheit‘, antwortet Genosse Geyer, ‚unsere Fraktion steht felsenfest.‘ Diese Nachricht stimmte uns von vornherein optimistisch“, so der Autor.
Zur Sitzordnung im Großen Saal des Volksparks notiert der Emissär der Bolschewiki: „Also, wir sind auf dem Schlachtfelde. Der Sitzungssaal ist in zwei scharf getrennte Hälften geteilt, als wenn ihn jemand mit einem scharfen Messer entzweigeschnitten hätte. In einem Raum sind zwei Parteien… auf der Konferenz selbst gibt es nur noch zwei unversöhnliche Feinde …“ ‚Die Linke‘, die für den Anschluss und ‚die Rechte‘, die dagegen ist, sitzen strikt getrennt. Die USPD war längst gespalten. Und genau darauf hatte Moskau seit Monaten hingearbeitet. In Halle ging es nur noch darum, dies formal zu besiegeln.
Der USPD-Parteivorsitzende Artur Crispien (1875 – 1946) hatte den Parteitag mit den Worten eröffnet: „Genossinnen und Genossen! … Es muss die Aufgabe des klassenbewussten Proletariats aller Länder sein, dem Kapitalismus die politische Macht zu entreißen und eine starke internationale proletarische Macht zu errichten, um die Menschheit durch die Verwirklichung des Sozialismus zu einer höheren Kulturstufe zu führen. Daran erkennen wir, dass die Notwendigkeit einer proletarischen Internationale wächst und wir müssen zu dieser Frage Stellung nehmen.“
Vier Tage lang streiten die gut 400 Delegierten – sie haben sich zuvor in einer Urwahl als Befürworter oder Gegner eines Beitritts zur Komintern festgelegt – in Halle über nichts anderes. In Grundsatzfragen wie Parlament und Räte, Demokratie und Diktatur, Vergesellschaftung und Enteignung von Banken und Schwerindustrie oder Putsch und Gewalt lassen sich in der USPD trotz oft konträrer Positionen Kompromisse finden, über den Beitritt zur III. Internationale offenbar nicht. Die Weltrevolution und deren organisatorische Voraussetzung, eine Internationale des Klassenkampfes, hatte für die USPD seit der niedergeschlagenen Revolution in Deutschland oberste Priorität. ‚Proletarier aller Länder vereinigt Euch!‘, das war der drängende praktische Imperativ für die gesamte Partei. Der Streit ging darum, ob die Komintern diese Internationale wäre.
In Leipzig, auf dem ‚Parteitag der Klärung‘, hatte man sich im Dezember 1919 mit der Formulierung „Die USPD … erstrebt die Schaffung einer revolutionären aktionsfähigen Internationale der Arbeiter aller Länder“ noch auf eine Kompromissformel geeinigt, ohne dass damit zwingend die Moskauer Internationale gemeint war. Genau auf die Festlegung aber drängten die Bolschewiki. Vor dem Hallenser Parteitag hatte der II. Weltkongress der Komintern auf Betreiben Wladimir Iljitsch Lenins (1870 – 1924) am 6.August 1920 den Beschluss über die „21 Aufnahmebedingungen“ zur Internationale angenommen. Unter Punkt 1 wurde verlangt, dass die tagtägliche Propaganda und Agitation „wirklich kommunistischen Charakter“ tragen müsse. Bedingung 14 reklamierte „periodische Säuberungen“ der KI-Parteien, Punkt 17 sah vor, „alle Resolutionen der Kommunistischen Internationale als bindend anzuerkennen.“ Das leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus hielt sich an autoritäre Vorstellungen von Partei und Revolution, die der rätedemokratischen Tradition eines Großteils der USPD-Mitglieder widersprachen. Warum sich die USPD – seit ihrer Gründung 1917 mehr eine dezentrale freiheitliche sozialevolutionäre Bewegung unterschiedlicher politischer Strömungen als eine disziplinierte ideologisch festgelegte Partei – in Halle doch für einen Beitritt zur Komintern entschloss, bleibt historisch letztendlich ungeklärt. Offenbar galt drei Jahre nach der Oktoberrevolution immer noch der, auch unter vielen linken Intellektuellen verbreitete Glaube ‚von der Oktoberrevolution und den Bolschewiki lernen, heißt über den Kapitalismus siegen lernen‘. Zudem gab es die Überzeugung, dass die Weltrevolution unmittelbar bevorstehe.
Nach der Entscheidung von Halle vereinigt sich Anfang Dezember 1920 der größere Teil des linken Flügels der USPD mit der KPD zur VKPD, was dazu führt, dass deren Mitgliederzahl von 78 715 auf ca. 450.000 steigt. Die Fraktion der Verweigerer besteht noch zwei Jahre als USPD und geht 1922 wieder in der SPD auf. Durch die Spaltung verlor die revolutionäre Arbeiterbewegung aus KPD und USPD mindestens 180.000 Personen oder ein Fünftel ihrer Anhänger. Sinowjew dagegen triumphiert: „Der Vorstoß der Kommunistischen Internationale in Westeuropa ist vollständig geglückt. Der Zweikampf zwischen den Vertretern des Kommunismus und des Reformismus ist zu unseren Gunsten ausgelaufen.“ Die letzten Mohikaner des Opportunismus seien im Kampf der Geister erlegen…. Noch immer gehe durch “die ganze europäische bürgerlich-weißgardistische und sozialdemokratische Presse das heisere Gebell der bürgerlichen Köter gegen die Kommunistische Internationale. Mögen sie bellen!“ Unter den Fahnen der Internationale werde die Arbeiterklasse der ganzen Welt siegen.
Sinowjews verächtlicher Sarkasmus erlaubte einen Vorgeschmack auf die Jahre ab 1928, in denen Sozialdemokraten für die mit Moskau gleichgeschalteten Kommunisten nur noch ‚Sozialfaschisten‘ sind, die es zu bekämpfen gilt – härter als den Klassenfeind. Die sich in Halle spaltende deutsche Arbeiterbewegung macht den Sieg des Faschismus wahrscheinlicher. Die Vorgeschichte beginnt 1914 mit dem Ja der SPD zu den Kriegskrediten und ihrer Burgfriedenspolitik, die den Boden bereitet für die Gründung der USPD drei Jahre später. 1920 schließlich führt der Parteitag in Halle dazu, dass die Arbeiterbewegung an Schlagkraft verliert.
Eine Darstellung in bester deutscher Tradition und ganz im Sinne der „Zeitenwende: „Alles Böse kommt aus Moskau“. Die historischen Fakten sehen anders aus.Kein Wort über die historischen Rahmenbedingungen: die blutige Niederschlagung der Novemberrevolution, die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den Kapp-Putsch und die darauf erfolgten Massakern an den Arbeiterinnen und Arbeitern z.B. an der Ruhr. Alles mit Billigung und Unterstützung der SPD-Führung.
Die KPD in dieser Phase als „moskau-treu“ zu bezeichnen, ist angesichts aller historischen Fakten geradezu absurd. Gerade ihr Vorsitzender Paul Levi war alles andere als ein treuer Vasall Moskaus. Die Tatsache, dass die Vorsitzenden der dann vereinigten KPD Levi und Däumig später wegen der März-Aktion die KPD verlassen haben, spricht auch eine deutliche Sprache über die „moskau-Treue“ ind dieser Phase. Kein Wort darüber, dass beide Flügel der USPD beim Kongress der KI waren und dort auch ihre Positionen deutlich gemacht haben, namentlich durch Däumig und Crispien. In Halle hat nicht nur Sinowjew gesprochen, sondern auch Lenins Gegenspieler Martow und Longuet. Der USPD-Parteitag in Halle und seine deutliche Entscheidung war Ausdruck des demokratischen Willens der USPD-Basis. Hartfried Krause stellt gut dar, wie die Stimmung an der Basis vor dem Parteitag war. Die USPD war längst ein in sich widersprüchliches Wesen, das einfach historisch keine Perspektive hatte. Die Entwicklung der „Rest-USPD“ hat das gezeigt. Aber es ist bis heute schlechte deutsche Tradition in Teilen der Politik und der Geschichtswissenschaft, alles Übel der Welt in Russland zu sehen.
Kritik und Ergänzungen in der Sache sind unbedingt begrüßenswert. Dagegen sind billige Polemiken im Stil von „Alles Böse kommt aus Moskau“ überflüssig, weil ohne Substanz.
In der Sache nur zwei Anmerkungen: Der erwähnte Julius Marov hatte 1920 guten Grund, aus Sowjetrussland zu emigrieren. Und was die Basis der USPD im Herbst 1920 letztlich mehrheitlich dachte, ist nicht so einfach zu rekonstruieren. Wer ging den Weg zur Vereinigung mit der KPD aus Überzeugung, wer ging ihn aus Parteidisziplin? Die Wirkung der letzteren unterschätzen wir in unseren individualisierten Zeiten leicht.