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21. Jun 2023

Der Volkspark und die „Garde des Sozialismus“ – im „Dritten Reich“

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Der positive Bezug auf die „Arbeiterjugend“ zur Zeit des Nationalsozialismus

Auf der Titelseite der Saale-Zeitung vom 19. März 1934 ist zu lesen, dass Baldur von Schirach – der sogenannte „Reichsjugendführer“ – bei einer „Riesenkundgebung der Hitler-Jugend“ im „Reichshof“, wie der Volkspark zur Zeit des Nationalsozialismus hieß, eine Rede hielt. Das Thema seiner Rede war die Jugend: „Von seinem Aufenthalt im Ruhrgebiet ausgehend, wo er in Essen in eine Zeche eingefahren war und dort die Hitler-Jugend bei der Arbeit unter Tage beobachtet hatte, bezeichnete er als das Wesentlichste an dieser Jugend die Tatsache, daß sie eine Arbeiterjugend sei“. Später im Artikel liest man wie er davon sprach, dass diese Jugend die „Garde des Sozialismus“ bilden würde. Die Hitlerjugend als Arbeiterjugend, gar als „Garde des Sozialismus“? Dies sind Formulierungen die im Volkspark, bis 1933 das Zentrum der Arbeiter_innenbewegung in Halle, – zuvor nur von der entgegengesetzten politischen Richtung zu erwarten gewesen wären. Warum bezieht sich Schirach bei seiner Rede vor der Hitlerjugend also gerade an diesem Ort positiv auf die „Arbeiterjugend“ und den Sozialismus?

Schirach bei seiner Rede im „Reichshof“, März 1934.
Quelle: Mitteldeutschland/ Saale-Zeitung vom 19.03.1934

Der Arbeits- und Sozialismusbegriff der Nationalsozialisten

Fangen wir von vorne an – mit einem Blick in die „geistige Geburtsstunde des Nationalsozialismus“. In Texten aus der Zeit der Gründung der nationalsozialistischen Bewegung finden sich Hinweise darauf, warum Schirach 1934 vom Sozialismus redete. Bereits im November 1918 definierte Gottfried Feder, Wirtschaftstheoretiker und Ideologe der frühen NSDAP, den „Mammonismus“ als das Problem der Zeit. Mit „Mammonismus“ meint er eine „Geistesverfassung“ der „unersättliche[n] Erwerbsgier“, welche das „internationalen Großkapital“ kennzeichnen würde. Diese „Erwerbsgier“ würde mühelos und ohne Anstrengung „auf Kosten der schaffenden Völker und ihrer Arbeitskraft“ ausgetragen. Hier wird ein Gegensatz zwischen konkret „schaffenden Völkern“ auf der einen und mühelos erwerbendem Finanz- bzw. Leihkapital auf der anderen Seite konstruiert. Das „industrielle Großkapital“, beispielsweise die deutsche Industrie, wird dabei ebenfalls der „schaffenden“ Seite zugeordnet. Das Leih- bzw. Finanzkapital erscheint dagegen abstrakt . Während diese (scheinbar) abstrakte Seite von Feder also als „Mammonismus“ herabgesetzt wird, bezeichnet er ihr Gegenteil als „Sozialismus“. Sozialismus bedeutet für ihn die Idee, „daß der Mensch nicht für sich allein auf der Welt ist, daß jeder Mensch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber der ganzen Menschheit hat“. Feder knüpft dabei bewusst an die Sprache der Marxist_innen an, versucht aber gleichzeitig nachzuweisen, dass ihr Lösungsvorschlag nicht funktionieren kann, da sie die wahre Ursache nicht erkennen würden. Während die Marxist_innen den Kapitalismus abschaffen wollen, bekräftigt Feder, dass ausschließlich der „Mammonismus“ das Übel sei, welchen er nach antisemitischer Manier in jüdischen Familien verkörpert sieht. 1920, zur Gründungsveranstaltung der NSDAP, stellte Adolf Hitler das „25-Punkte-Programm“ vor. Dieses unterschied sich zwar kaum von anderen völkischen Programmen der Zeit, ein Alleinstellungsmerkmal zeichnet es aber doch aus: der offene und radikale Antisemitismus. Juden_Jüdinnen sollten aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden. Hitler verdeutlicht dies in seiner Rede im Münchner Hofbräufestsaal im August 1920 noch einmal und erklärt, dass die Volksgemeinschaft durch Arbeit erzeugt und erhalten werden soll. Arbeit heißt für ihn – und da finden wir einen deutlichen Bezug zu Feder – eine „Tätigkeit, die nicht um meiner selbst willen (…), sondern auch zu Gunsten meiner Mitmenschen“ ausgeübt werde. Da die Juden Arbeit bloß als Zwang und Mühsal wahrnehmen würden und diese, im Sinne des „Mammonismus“, bloß für ihren Eigennutz ausführen würden, könnten sie niemals Teil der Volksgemeinschaft sein. Hitler setzt ihnen das „Ariertum“ entgegen, welches von Gemeinsinn und „Gemeinnutz vor Eigennutz“ also zusammenfassend vom „Sozialismus“ geleitet würde. Arbeit solle also aus Pflichtgefühl getan werden und der Volksgemeinschaft dienen – dies versteht Hitler als „sozialistisch“.

„Sozialismus“, ein Wort welches die NSDAP ja bereits im Namen trägt, bedeutet für die Nationalsozialisten also eine Gesellschaft, in der alle aus Pflichtgefühl für diese Gemeinschaft arbeiten. Aus dieser als Volksgemeinschaft begriffenen Gesellschaft werden demnach nicht nur Juden_Jüdinnen ausgeschlossen, auch alle anderen im ideologischen Sinne der Nationalsozialisten nicht für die Volksgemeinschaft Arbeitenden können kein Teil von ihr sein. Mit dieser Definition von Sozialismus grenzen sie sich eindeutig von allen kommunistischen, sozialdemokratischen und im eigentlichen Sinne sozialistischen Ideen ab. Diese Abgrenzung verdeutlicht Hitler noch einmal in „Mein Kampf“, indem er erklärt, dass der Jude, welcher ein „Parasit im Körper anderer Völker“ sei, „den Arbeiter“ benutze „um der nationalen Wirtschaft zu schaden“ – demnach also auch „hinter dem Marxismus“ stünde. Indem Arbeit allein über ihren Nutzen für die Volksgemeinschaft definiert wird, zählen plötzlich alle, die der Volksgemeinschaft dienen, zur Arbeiterschaft:

„Volksgemeinschaft heißt Gemeinschaft aller wirkenden Arbeit, das heißt Einheit aller Lebensinteressen, das heißt Überwindung von privatem Bürgertum und gewerkschaftlich-mechanisch-organisierter Masse, das heißt die unbedingte Gleichung von Einzelschicksal und Nation, von Individuum und Volk.“

Die 1934 im „Reichshof“ gehaltene Rede von Schirach schließt an dieses Verständnis von Sozialismus nahtlos an. Neben den bereits genannten Stellen spricht Schirach ebenfalls davon, dass diese Arbeiterjugend „zurück zur Heimat, zu unserer Gemeinschaft gefunden“ habe und „wieder zu Hause (…) in unserem Deutschland“ (Hallische Nachrichten) sei. Diese Jugend sei „fanatisch bereit“, „ihr sozialistisches Erlebnis gegen alle zu verteidigen“ und in „dieser Garde des Sozialismus (…) [würden] die Kräfte der Zersetzung niemals wieder eine Stätte“ finden (Hallische Nachrichten). Schirachs Perspektive ist also jene, in der der Mechanismus der Integration über die Arbeit bereits stattgefunden habe. Die Jugend sei bereits in der angestrebten Volksgemeinschaft angekommen. Schirach machte auch deutlich, gegen was dieses „sozialistische Erlebnis“ im Nationalsozialismus verteidigt werden soll. Er spricht davon, dass es „niemals mehr (…) einen 9. November 1918 (…) geben“ werde, da im Nationalsozialismus „eine Generation aufgestanden“ sei, „die bedingungslos ‚Wir‘ sagt und das ‚Ich‘ aus ihrem Denken ausgelöscht“ habe (Mitteldeutschland/ Saale-Zeitung). „Schuld am Niedergange“ sei der Marxismus, so Schirach (Mitteldeutschland/ Saale-Zeitung). Die Abgrenzung zum und Abwehr des Marxismus, welche über die Idee der Volksgemeinschaft stattfinde, findet sich hier also auch wieder. Auffällig an Schirachs Rede ist jedoch, dass die antisemitische Komponente dieses Arbeits- und Sozialismusbegriffs völlig ausgeklammert wurde. Wie bereits angeklungen geht Schirach in seiner Rede nun von einem nochmals anderen Standpunkt aus: die Volksgemeinschaft wurde bereits etabliert, ihre Mitglieder werden nun dafür gelobt.

Die Rede vor der Hitler-Jugend im ehemaligen Volkspark

Doch wenn nach der Definition der Nationalsozialisten doch eigentlich alle, egal ob Arbeiter_innen oder Bürgerliche, zur Arbeiterschaft gehören, wieso erzählt Schirach dann in so großen Worten von seinem Besuch in der Zeche in Essen? Warum bezeichnet er gerade in Mitteldeutschland – neben dem Ruhrgebiet das ehemalige ‚rote Zentrum‘ – als das „Wesentlichste an dieser Jugend die Tatsache, daß sie eine Arbeiterjugend sei“? Wieso spricht er ausgerechnet im ehemaligen Volkspark zur Hitlerjugend?

Die Rede von Schirach lässt sich als Teil der Strategie verstehen, mit der die NSDAP-Führung nach der Machtübernahme den Bruch zur Weimarer Republik festigen wollte. Die Reichstagswahlen in den Jahren 1930 bis 1932 machten zwar deutlich, dass die NSDAP von allen gesellschaftlichen Klassen gewählt wurde, dennoch lässt sich eine leichte Tendenz erkennen in der Mittelständler_innen überdurchschnittlich häufig dazu neigen die NSDAP zu wählen, während Angestellte, Arbeiter_innen und vor allem Arbeitslose diese seltener als im Durchschnitt wählten. Hinzu kam, dass zwischen 1930 und 1932 ein latenter Bürgerkrieg zwischen den paramilitärischen Organisationen der Nationalsozialisten und der Kommunist_innen, aber auch der Sozialdemokratie schwelte. Als Ende Januar 1933 dann die Macht an die Nationalsozialisten übergeben wurde, begannen diese ihren politischen Gegnern systematisch den Einfluss zu entziehen. Diese Zeit, in der erst alle kommunistischen Organisationen verboten, später dann auch die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen zerschlagen wurden, wird treffender Weise als „Machtergreifung“ bezeichnet. Trotz dieser Anstrengungen zu Beginn ihrer Herrschaft gilt das NS-System Anfang 1934, also zum Zeitpunkt der Rede Schirachs im „Reichshof“ in Halle, noch nicht als stabilisiert. Um diese Stabilität zu erreichen, setzte die NSDAP-Führung in dieser Zeit auf Disziplinierung, Indoktrinierung und Mobilisierung der „Volksgemeinschaft“. In dieser Linie lässt sich demnach auch Schirachs Rede verstehen. Die kommunistischen (und zum Teil sozialdemokratischen) Arbeiter_innen haben sich also vor der Machtübernahme in einem bürgerkriegsähnlichen Kampf mit den Nationalsozialisten befunden. Alle ihre Organisationen wurden 1933 zerschlagen oder verboten – und nun strengen sich die Nationalsozialisten an, eben diese Arbeiter_innen (solange sie nicht inhaftiert wurden) über die Idee der Volksgemeinschaft, aufgebaut auf Antisemitismus als integrierender Ideologie, zu einem Teil dieser neuen nationalen Gemeinschaft zu machen. Dieses Bestreben kann als Grund dafür angesehen werden, dass die Rede Schirachs an eben diesem Ort gehalten wurde.

Warum ausgerechnet eine Veranstaltung der Hitlerjugend im „Reichshof“ abgehalten wurde, lässt sich daraus nicht ableiten. Die einfachen Mitglieder der Hitlerjugend kamen zwar bis 1931 zu 70% aus der Arbeiterjugend. Sie wurde bis dahin aber wie ein „fünftes Rad am Wagen“ behandelt, was sowohl an ihrer organisatorischen Ineffizienz lag, als auch daran, dass die Jugend von der NSDAP-Führung bis dahin nicht als zentrale Zielgruppe angesehen wurde, da sie noch nicht wählen durfte. Schirach übernahm die Hitlerjugend 1932, sie wurde nun an bürgerlichen Jugenden orientiert, wodurch sie auch fürs bürgerliche Milieu interessanter wurde. Dennoch zählte sie bis 1933 nur wenige Mitglieder. Mit der Machtübernahme 1933 stieg die Zahl allerdings rasant an und erreicht Ende des Jahres über zwei Millionen. In ihr sammelten sich nun aus allen gesellschaftlichen Klassen kommende Jugendliche; auch, weil es kein alternatives Angebot mehr gab. Die Hitlerjugend speiste sich also nicht maßgeblich aus der Arbeiterklasse. Abgesehen davon sollte die Stabilisierung des politischen Systems aber auch über die Jugend passieren: sie sollten genauso wie der Rest der Gesellschaft auf den Gedanken der „Volksgemeinschaft“ eingeschworen werden.

Das Foto wurde im März 1934 aufgenommen. Der „Wettiner Platz“ ist heute der Rosa-Luxemburg-Platz.
Quelle: Mitteldeutschland / Saale-Zeitung, 19.03.1934.

Darüber hinaus verfolgte die NSDAP-Führung mit der Jugend noch ein weiteres, für sie zentrales Ziel: die Vorbereitung auf einen künftigen Krieg. So schwur auch Schirach die Jugend auf den Krieg ein, wenn er davon spricht, dass „[d]iese Jugend (…) in spartanischer Zucht nichts anderes kennen [soll] als Pflicht und Pflichterfüllung und Opfer“. Und dass „sie weiß, daß größer als die Freuden des Daseins die Freude der unauflöslichen Kameradschaft ist, die Unterordnung unter ein hartes Gesetz“ (Mitteldeutschland/ Saale-Zeitung). Und auch dies bezieht Schirach wieder zurück auf die Volksgemeinschaft: „Sie (die Jugend, Anm. d. Verf.) steht heute vor Volk, Schicksal und Geschichte als der reine und opferbereite Teil unseres Volkes, der sieht nicht das, was trennt, sondern nur das unsterbliche, das ewige Vaterland“ (Mitteldeutschland/ Saale-Zeitung).

Schirachs Rede muss also als Strategie verstanden werden, das politische System durch den Bezug auf die Volksgemeinschaft zu stabilisieren. In ihr sollen Arbeiter_innen, Bürgerliche und alle anderen aufgehen. Diese Integration soll durch den Ausschluss aller (vermeintlich) nicht Arbeitenden aus der Gesellschaft möglich werden. Die Jugend spielt in dieser Zeit eine wichtige Rolle, da sie einerseits als unbeschriebenes Blatt angesehen wird, dem man die nationalsozialistische Ideologie einschreiben kann. Und andererseits weil sie als zukünftige Soldaten bereits 1934 auf den zukünftigen Krieg eingestimmt werden sollten. Ob die Arbeiter_innenjugend, welche eben noch mit ihren kommunistischen und sozialdemokratischen Eltern zu Veranstaltungen in den Volkspark ging, sich durch die Wortwahl und den Ort der Veranstaltung überzeugen ließ, dürfte heute kaum noch zu beantworten sein.

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