8. Jul 2016
Geld, Lebensstil und Relativität
Das abschließende Kapitel der Philosophie des Geldes hat in der Simmel-Rezeption eine besondere Rolle gespielt. Jürgen Habermas etwa schrieb, dass
Simmel seine erstaunliche, wenn auch vielfach anonyme Wirkung jener kulturphilosophisch begründeten Zeitdiagnose verdankt, die er zuerst im Schlußkapitel der Philosophie des Geldes (1900) entwickelt hat.
Auch der Historiker Paul Nolte gründete seine Deutung Simmels als Vordenker einer „Historischen Anthropologie der Moderne“ in weiten Teilen auf dieses abschließende Kapitel. Wie also sieht die „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ (Habermas) aus, die Simmel hier entwirft? Und kann man wirklich von einer Theorie, im Sinne eines erklärungsorientierten Systems von Aussagen sprechen?
Im Kern des Kapitels steht der Begriff des Lebensstils. Die vielfältigen Überlegungen, die Simmel in der Philosophie des Geldes im Hinblick auf die wert- und wirklichkeitsstiftende, objektivierende und subjektivierende, nivellierende und individualisierende Funktion des Geldes darlegt, werden unter diesem Begriff noch einmal zusammengeführt, um zu einem „verständlichen Bilde“ (S. 656) zu gelangen und die Mannigfaltigkeit von Kulturerscheinungen, die sich im Geld zum Ausdruck bringen, zusammenzufassen.
Drei Modi des Verhältnisses zwischen den Dingen und dem Ich macht Simmel dabei aus: 1. Distanz, 2. Rhythmus, 3. Tempo.
DISTANZ
Geld, so behauptet Simmel, schafft innerliche Distanz bei äußerlicher Annäherung. Es verbindet, indem es trennt. Diese Distanzierung im Aneinander-Gedrängtsein ermöglicht erst die moderne Lebensform, sinnbildlich verkörpert im urbanen Dasein – das Simmel in dem bekannten Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) noch pointierter in seiner nervenaufreibenden Wirkung sezieren und problematisieren sollte. Doch auch hier schreibt Simmel schon davon, dass das Kennzeichen der modernen Zeit ein von äußerlichen wie von innerlichen Gegebenheiten bewirktes „Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen“ sei – als „sollte die Hauptsache erst kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge“ (S. 670). Diesen zentralen Punkt bildet nun das Geld, ein Ausdruck für die Überlagerung der Zwecke des Lebens durch die Mittel (ähnlich wie das Militär). Davon handelte auch schon Simmels 1896 veröffentlichter Vortrag „Das Geld in der modernen Cultur“. Das Geld ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern ein Mittel als Mittel, es besitzt eine Doppelrolle: Es ist Teil des Aufstiegs der modernen Mittelinstanzen wie z.B. der Technik zum Selbstzweck, liegt diesen Techniken aber zugleich zugrunde und ermöglicht sie erst. In der modernen Kreditwirtschaft steigert sich die verbindende und zugleich trennende Wirkung des Geldes, die Zweck- und Vorstellungsreihen werden ausgedehnt, Vertrauen wird vorausgesetzt und zugleich Reservierung bewirkt.
RHYTHMUS
Geld schafft einen gleichmäßigen Fluss, es ist ein Medium der „Vergleichmäßigung“ (S. 680). Ist sein erstes Auftreten noch von chaotischer Zufälligkeit geprägt, so gelangt es danach zu einer Stufe der sinnvollen Ordnung und schließlich zu einer Kontinuität des Sich-Darbietens. Nun braucht das Individuum sich bei seiner Bedürfnisbefriedigung an keinen transindividuellen Rhyhtmus mehr zu halten, es kann sich alles zu jeder Zeit kaufen. Die großen Banken sind es, die laut Simmel durch die Konzentrierung des Geldverkehrs diesen des periodischen Zwanges zur Anhäufung und Drainierung entheben und Zins- und Liquiditätsprobleme lösen können. Den Kritikern der Wirtschaftsordnung seiner Zeit, die auf den Wechsel von Überproduktion und Krisen verwiesen (man denke nur an die amerikanischen Bankenkrisen des 19. Jahrhunderts), hält er entgegen, dass diese damit gerade das „noch „Unvollkommene“ (S. 680) der gegenwärtigen Zustände beschrieben. Die von ihm angenommene Entwicklung sei auch keineswegs einfach. Der Kapitalismus bedinge Unsicherheiten. Die angenommenen Stadien der Entwicklung böten sich in einem „Zugleich“ von Gegensätzen dar; das Geld könne dem Liberalismus ebenso wie dem Despotismus dienen, es sei in sich völlig „indifferent“, ein „wesensloses Wesen“ (S. 691). Es leihe sich insofern auch weiterhin den früheren Entwicklungsstadien, sofern die „Verhältnisse oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hindrängt[en]“ (S. 691). Es habe die individualistische Sozialform Englands ebenso ermöglicht wie es zum Vorläufer sozialistischer Formen werden könne. Auch hier also wieder: Eine Doppelstellung.
TEMPO
Die Inhalte des Lebens werden durch das Geld schließlich auch in ihrem Tempo beeinflusst. Quantitätstheoretische Ansichten greift Simmel hier zwar auf, differenziert deren regelhafte Annahmen aber aus. Er betont die psychologische Dimension der umlaufenden Geldmenge, die das Wirtschaftsleben beeinflusse: Der Umlauf an Waren vermehre sich, und dies bewirke Gefühle des „Chocs“ (S. 698). Geld ist auch bei Simmel eine relative Größe, jedoch keine neutrale; es mag objektive Effekte haben, doch diese werden subjektiv ausgebildet. Diese Wirkung entdeckt Simmel besonders dort, wo der Substanzwert des Geldes durch dessen Funktionswert abgelöst wird, etwa am Beispiel des schlechten Papiergeldes und der dadurch bedingten plötzlichen Veränderung von Besitzverhältnissen in Nordamerika vor dem Unabhängigkeitskrieg. Der beschleunigte und beschleunigende Umlauf des Geldes bewege die Verhältnisse, weil er Ungleichheit und damit verbundene „erregende“ (S. 701) Differenzempfindungen erzeuge (im Übrigen auch dann, wenn sich der Geldumlauf nicht vermehre, sondern vermindere, und somit retardierend wirke). Auch hier aber kehrt Simmel wieder zur Ambivalenz zurück: Geld verkörpere den „Doppelaspekt des Seienden“ (S. 711) – dessen beharrende Einheit und permanente Formung. Es sei als greifbare Einzelheit das flüchtigste Ding der äußerlich-praktischen Welt, ein Träger dauernder Bewegung – und zugleich seinem Inhalte nach das beständigste, da es als Indifferenzpunkt zwischen allen sonstigen Inhalte stehe und allen wirtschaftlichen Dinge ihr Maß gebe.
Daran schließt Simmel auf den letzten Seiten seines Buches grundsätzliche Überlegungen zum inneren Zusammenhang der modernen Welt an:
Nur weil die Realität sich in absoluter Bewegtheit befindet, hat es einen Sinn, ihr gegenüber das ideelle System zeitlos gültiger Gesetzlichkeiten zu behaupten; umgekehrt: nur weil diese bestehen, ist jener Strom des Daseins überhaupt bezeichenbar und greifbar, statt in ein unqualifiziertes Chaos auseinanderzufallen. Die allgemeine Relativität der Welt, auf den ersten Blick nur auf der einen Seite dieses Gegensatzes heimisch, zieht in Wirklichkeit auch die andere in sich ein und zeigt sich als Herrscherin, wo sie eben nur Partei zu sein schien“ (S. 716).
Geld also macht den relativistischen Charakter des Seins erkennbar, zumindest insoweit, als die relativistische Weltsicht der Entwicklungsstufe der Gegenwart am ehesten entspricht. Eine Relativitätstheorie der modernen Gesellschaft also? So könnte man Simmel lesen. Aber sicher nur dann, wenn man damit auch den Begriff der Theorie relativiert und Simmels Philosophie des Geldes mit Aldo J. Haesler als einen „gigantischen Essai“ begreift, der „unangemessen maskiert durch das Spiel der formalen Symmetrie seiner Kapitel […] trotzdem ein unerschöpflicher Steinbruch“ ist.