Kriegswaise

In diesem Moment sank Stille herab. Die Flugzeuge dröhnten noch über dem Wald, aber die Erschütterungen hatten aufgehört, so dass es mir schien, als ob sie ermüdet waren und jetzt Atem holten. Noch hatte ich mich nicht getraut, mich zu bewegen. Die eisernen Vögel flogen und kreisten weiter über dem Wald, aber das war nichts gegen das Krachen zuvor. Ich hockte noch ein wenig zusammengekauert auf der Erde, dann atmete ich tief ein und wischte mir den Schweiß von der Stirn.

Aber was ist das jetzt wieder? Im Gebüsch, nicht weit von mir, höre ich das leichte Rascheln kleiner Zweige, als ob sich ein Tier auf mich zu bewegt. Wieder fürchtete ich mich. Was, wenn es ein Wolf ist? Oder vielleicht ein Bär, den die Bomben aus der Höhle gejagt hatten. Dragan sagt zwar, dass es in den slawonischen Wäldern keine Bären gibt, aber sind diese Wälder denn so klein? Groß sind sie und dicht und da kann es alles Mögliche geben. Während ich so spekulierte, kam das Rascheln näher und wurde lauter, dann hörte es auf. Ich aber schaute weiterhin unbeweglich in diese Richtung. Was ist das? Vielleicht träume ich? Ich rieb mir die Augen, dann öffnete ich sie wieder. Nein, ich habe nicht geträumt! Hinter dem Baum erschien ein schönes, sanftes Tierchen, das ein gelbliches Fell, überschüttet mit hellen, runden Flecken, und schlanke, schmale Beinchen hatte. Es hob sein schwarzes Schnäuzlein in die Luft, drehte beunruhigt seinen Kopf, und der Blick seiner großen, feuchten Augen, in denen sich auch jetzt noch die gerade durchlebte Angst sehen ließ, blieb plötzlich an mir hängen. Mir wurde von diesem sanften, zärtlichen Blick sofort leichter ums Herz. In dieser wunderlichen Stille sahen wir einander unbeweglich an. Ja, das ist ein kleines Rehkitz, genauso eines wie das in dem Bilderbuch, das Papa mir aus der Stadt mitgebracht hatte. Wie lange ist das her! Wie eine andere Welt.

So sahen wir einander an und bemerkten nicht, dass die Flugzeuge zurückgekehrt waren. Aber eine neue Bombe, die hinter dem Rehkitz einschlägt, zerschneidet die Stille und holt uns in die Wirklichkeit zurück. Das Rehkitz springt weg, als wäre es von einer Peitsche getroffen, schüttelt sein Köpfchen, schaut, als wüsste es nicht, wohin es soll, dann stürzt es eilig zu mir, lässt sich auf die Erde hinab und schmiegt sich an mich. Meine Arme schlossen sich wie von selbst um seinen zitternden Körper.

Wie ist das passiert? Nein, träume ich das auch nicht? Ich spüre den warmen, zerbrechlichen Körper des Tierchens. Ich spüre unter den Händen sein sanftes, weiches, kurzes Fell, ich sehe in den flackernden Schein seiner feuchten Augen. Auf einmal scheint es mir, als ob ich nicht mehr der Junge bin, der einsam durch den Wald irrt. Als hätte mich dieses kleine Tier irgendwie verwandelt. Aber so war es ja auch. Ich war nicht mehr allein. Es war jemand gekommen, der meinen Schutz suchte. Ich war nicht mehr, wie bisher, der kleinste und schwächste, jetzt habe auch ich jemanden, um den ich mich kümmern, den ich beschützen werde. Jetzt wird es auch für mich leichter sein, denn wenn der Mensch nicht nur an sich denkt, wird auch das Gefühl der Angst kleiner.

Endlich flogen die Flugzeuge Richtung Voćin weiter. Vielleicht wieder über Macute und Čeralije, aber ich traute mich immer noch nicht, mich zu bewegen. Über den Wald legte sich eine seltsame Stille. Wo ist seine Schönheit von heute Morgen, die mich ganz erfasst hatte. Abgebrochene Äste hängen herab, Blätter fallen in die Gruben, traurig liegt die junge Eiche auf dem Boden, die nun nie so groß wird, wie ihre hochgewachsenen, schweigsamen, weitverzweigten Freunde. Es erschien mir, als ob der Wald tieftraurig seufzte.

Ich hätte mich gerne unter dem Gebüsch hervor bewegt, wo ich mich versteckt hatte, aber ich fürchtete mich, das zu tun. Bewege ich mich und nehme meine Arme von dem Rehkitz, das sich noch an mich drückt, wird es von mir weglaufen. Aber so kann ich nicht hocken bleiben. Also machte ich es mir ein bisschen gemütlicher und beruhigte mich wieder.

Was ist in der Intendantur passiert? Ist jemand ums Leben gekommen? Bestimmt sind sie besorgt um mich und Tante weint… Vielleicht ist auch Papa zurückgekommen und unterdrückt jetzt schwere Tränen bei dem Gedanken, dass mir etwas passiert ist. Diese Vorstellungen machten mich erneut sehr unruhig.

Nein, ich darf nicht länger hierbleiben. Ich muss sobald wie möglich zur Intendantur zurück. Ich wollte aufstehen, doch das Rehkitz wurde unruhig und fing an, seinen Kopf unter meinem Arm hervorzuziehen, den ich ihm um den Hals gelegt hatte. Es hätte mir Leid getan, wenn ich jetzt ohne es zurück bleiben müsste. Deshalb beruhigte ich mich. Auch das Rehkitz beruhigte sich. Jetzt vergnügte ich mich damit, es sorgfältig zu beobachten und ihm seinen seidenen Rücken zu streicheln. Wo sind seine Eltern? Wie konnte so ein kleines, zartes Wesen den Eltern verloren gehen? Schau, wie schön es ist! Schwarze Schnauze, feucht und kalt, ein Köpfchen so lieblich, das man es sich lieblicher nicht vorstellen kann. Es liegt auf seinen Beinchen und bewegt unaufhörlich die kleinen Öhrchen, als ob sie Geräusche einfangen. Aber dann wurde es auf einmal wieder unruhig unter meinen Händen. Was heißt das? Hört es etwa wieder etwas? Auch ich horchte und ließ einen sorgfältigen Blick über den Himmel kreisen. Aber der Himmel war friedlich, ohne eine Spur von Flugzeugen, und außer einem leichten Wind in den Baumkronen hörte ich nichts. Das Rehkitz wurde immer unruhiger, und ich überlegte, dass es etwas hört, was ich nicht hören kann. Tiere haben ja ein schärferes Gehör als Menschen. Dann erreichten auch mich Geräusche, die immer deutlicher wurden. Ich hörte auch das Murmeln menschlicher Stimmen. Ich beruhigte mich völlig und hörte genau hin. Nein, ich täusche mich nicht! Die Stimmen näherten sich. Schon kann ich die tiefe, leicht singende Stimme von Jovo gut heraushören und stelle mir vor, wie er mit schlenkernden Schritten durch den Wald eilt. Joža ist auch da. Das erkenne ich gut, weil mir nicht entgangen ist, dass er laut ruft: „Zum Teufel“. Er kann keine fünf Wörter aussprechen, ohne diese Wendung einzufügen. Ich hörte auch Tantes zitternde Stimme. Sie unterdrückte Tränen, als sie sagte:

„Der arme Kleine, wo ist er hingegangen? Oh, dass ihm nur nichts zugestoßen ist!“

„Aber wir werden ihn finden, Tante… Soll es etwa ausgerechnet den Krümel in diesem riesigen Wald getroffen haben?“ beruhigte sie Jovo, aber auch seine Stimme hatte sich verändert.

Schon sehe ich sie gut. Sie gehen traurig, wie auf eine Beerdigung, sind aufmerksam und bücken sich unter jeden umgestürzten Baum, schauen darunter. Mit ihren Händen wühlen sie durch das Gebüsch und räumen abgebrochene Äste zur Seite. Die Sonne beschien sie, die, befreit, mit ihren Strahlen jeden Grashalm im verwundeten Wald reichlich begoss.

„Nein, wir werden ihn nicht finden“, Tante heulte fast und ich konnte nicht mehr schweigen. Mit den Armen umschlang ich fest den Körper des Rehkitzes und während es versuchte, sich zu entwinden, schrie ich aus voller Kehle: „Tante, Joža, hier bin ich!“

Meine Stimme reichte bis zu ihnen und sie hielten inne. Verblüfft drehten sie sich nach allen Seiten, bemerkten mich, im Gebüsch versteckt, aber nicht.

Tante rief verängstigt:

„Željko, warum zeigst du dich nicht? Bist du etwa verletzt?“

„Nein, ich bin nicht verletzt! Kommt her! Ich bin rechts von euch!“

Sie gingen in Richtung meiner Stimme und endlich bemerkten sie mich, wo ich auf der Erde unter den Haselnusssträuchern hockte. Vor Verwunderung blieben sie stehen. Tante stürzte zu mir und in ihren blauen Augen strahlten große Freude und Glück, dass sie mich wieder gefunden hatte, Freude vermischt mit noch größerer Verwunderung. Jovo und Joža schauten mich und das kleine Rehkitz in meinen Armen an. Ihre Gesichter und weit aufgerissenen Augen waren so komisch, dass ich von Herzen lachen musste.

Endlich fasste sich Jovo. Er bückte sich, nahm das Rehkitz, hob es hoch und fragte mich:
„Na, woher hast du das jetzt?“

„Zugelaufen…“

„Von alleine?“

„Na klar, von allein. Ich habe es ja wohl nicht gejagt!“ Ich lache, während ich große Zufriedenheit spüre, dass gerade mir etwas wirklich Außergewöhnliches passiert ist.

Endlich sagt auch Joža etwas:

„Schön ist es, zum Teufel! Das ist dem besten Jäger noch nicht passiert. Aber wie ist das gelaufen, erzähl mal!“

Während mir Tante die Haare säuberte und mir Krümel und Holzspäne von der Kleidung schüttelte, habe ich ihnen alles der Reihe nach erzählt: Wie ich mich unter dem Gebüsch zusammengekauert habe, während um mich herum alles zerstört wurde; dann, wie ich auf einmal dieses Rehkitz bemerkte, dass mich mit feuchten Augen ansah und zu mir stürzte, damit ich es beschütze. Alles habe ich ihnen erzählt, nur über die unheimlich große Angst die ich gespürt hatte, als die Bomben fielen, habe ich nicht mit ihnen gesprochen. Was geht sie das übrigens auch an!

Jovo kratzte sich, während er zuhörte, am unrasierten Kinn und Joža drehte in den Händen einen Zweig, den er aus meinen Haaren gezogen hatte.

Am Ende rief er hocherfreut:

„Zum Teufel, das ist ja wie in einer Geschichte! Ein Junges kuschelt sich an ein Junges und sucht Hilfe!“

„An dich oder mich hätte es sich nicht gekuschelt“ sagte er und drehte sich zu Jovo um. „Das kannst du mir glauben! Es hätte gedacht, dass wir Bären sind.“, lachte Jovo, das verängstigte Tierchen an sich ziehend.

„Aber was machen wir jetzt mit ihm?“ fragte Tante, die mich endlich von der Erde gesäubert hatte.

„Wie, was? Natürlich werde ich es mitnehmen“, rief ich schnell aus Angst vor einer anderen Entscheidung.

Tante sah mich an und ich fühlte, dass sie in sich einen Gedanken verbarg, der mich traurig machen wird. Ich kenne sie ja, sie und ihr weiches Herz!

Und ich habe mich nicht geirrt! Sie sprach mit merkwürdiger Stimme, nachdenklich auf das schöne Köpfchen des Rehkitzes schauend:

„Wir müssen es laufen lassen. Es hat auch eine Mutter. Du hast nicht all unseren Schmerz und unsere Unruhe gespürt, während wir dich im Wald gesucht haben. Deshalb verstehst du das auch nicht.“

„Tante, ich kann es nicht hergeben!“, schrie ich auf mit dem Gefühl, dass ich gleich anfangen werde zu weinen.

„Nun, ich zwinge dich nicht, Željko“, sagte sie ruhig „aber denke darüber nach, wie deine Mama sich fühlen würde, hätten wir dich nicht gefunden.“

Im gleichen Augenblick schoss mir meine Mutter durch den Kopf und ich erinnerte mich deutlich an ihr bleiches Gesicht, als wir in einem kleinen, einsamen Walddickicht mein Brüderchen begraben hatten. Ich erinnerte mich an ihre trockenen Augen und den versteinerten Blick und verstand, weshalb ich das Rehkitz nicht behalten konnte. Bitter aufseufzend sagte ich:

„Aber die Mama von dem Rehkitz ist ein Tier“, das war kein Kampf mehr, sondern eine Aussöhnung mit der Tatsache, dass ich das Rehkitz verliere.

Und als die Tante sagt: „Auch Tiere haben ein Herz!“ stürme ich auf Jovo zu, der ruhig herumstand und uns beobachtete, während wir uns unterhielten, und schreie: „Was hältst du es fest? Lass es schon los! Lass es gehen, wohin es will und warum ist es überhaupt zu mir gekommen?“ Aus Angst, dass ich anfangen würde zu weinen, schließe ich den Mund und beiße die Zähne fest zusammen.

Jovo schaut die Tante an, dann wieder mich, zuckt mit den Schultern und wollte schon das verwirrte Tierchen los lassen, als sich Joža meldet, der jetzt alle Zweige aus meinen Haaren in kleine Teile zerlegt hatte: „Zum Teufel, was habt ihr es eilig! Aber nachdenken könnt ihr nicht. Wir müssen herausfinden, wo das Reh ist. Vielleicht ist es irgendwo in der Nähe und sucht das Rehkitz. Wir müssen sicher sein, dass es das Rehkitz finden wird.“

Ich atme erleichtert auf und schaue dankbar zu Joža, der mich anlächelte. Ja, er hatte immer Verständnis für mich. Und so gab er mir jetzt die Möglichkeit, das Rehkitz, das auf so eine wundersame Weise zu mir gekommen war und das ich schon in mein Herz geschlossen hatte, noch ein wenig zu behalten. Ich nahm es aus Jovos Armen und zog es an meine Brust. Es war gar nicht schwer. Oder es schien mir nur so.

Wir brachen auf. Tante und ich in eine Richtung, Jovo in eine andere und Joža in eine dritte. Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen? Ein seltsames Gefühl legte sich auf mein Herz. Werde ich das Rehkitz verlieren? Wird es seine Mutter finden oder kann ich es vielleicht doch mit mir mitnehmen? In diesem Moment wusste ich nicht, was mir lieber wäre. Hin und wieder hörten wir Rufe aus der Tiefe des Waldes, mal von Jovo, mal von Joža. Tante antwortete ihnen und schaute dabei immer wieder zu mir. Manchmal kräuselten sich ihre Lippen leicht zu einem Lächeln. Worüber dachte sie nach? Sie bückte sich und bog mit ihren Händen die Äste der zerstörten Bäume zur Seite, schaute in jede Mulde, drehte sich nach links und nach rechts. Manchmal half sie auch mir durchzukommen, denn wegen dem Rehkitz, das ich trug, konnte ich meine Hände nicht zur Hilfe nehmen. Oft hielt sie inne und achtete darauf, ob nicht ein Geräusch zu hören wäre. Wieder rief einer der beiden.

„Hey, habt ihr was gesehen?“, schrie Joža aus vollem Hals.

Tante zog wütend die Augenbrauen zusammen und, als hätte sie das genau in diesem Moment gedacht, sagte sie unruhig: „Mit unserem Geschrei werden wir nur den Rehbock und das Reh verjagen.“

Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, als sie plötzlich innehielt und wie vom Donner gerührt unter die alte Eiche starrte, deren Rinde gerade erst vom Maschinengewehrfeuer verunstaltet worden war. Schweigend winkte sie mich heran. Ich kam so schnell, wie die Last in meinen Armen es mir erlaubte. Ich stand direkt neben Tante und spürte, wie mir etwas Bitteres in die Kehle stieg, während meine Augen voller Tränen waren. Krampfhaft umklammerte ich das zitternde Rehkitz und blickte unter die Eiche. Dort lag mit ausgestrecktem Körper, den Kopf an den Stamm gelehnt, der Rehbock. Seine Augen waren erstarrt, halbgeöffnet, als könnte er seinen Blick nicht von diesem Wald lösen, der ihm sein Leben geschenkt hatte und sein Zuhause gewesen war. Von der schwarzen Schnauze streckte sich ein dünner Strahl Blut zum schneeweißen Kinn.

Tante nahm mir das Kitz aus dem Arm und umarmte es, wie ein kleines, hilfloses Kind. Ihr Gesicht verdunkelte sich und Trauer blickte aus ihren Augen. Sie drehte den Kopf zur Seite, um nicht das unschuldige Tier zu sehen, schloss dann eilig ihre Augen und zitterte. Mein Blick folgte ihrem Blick. Einige Schritte entfernt von dem toten Rehbock lag bewegungslos das Reh. Auch seine Augen waren halbgeschlossen, aber aus ihnen strahlte ein entsetzlicher Schmerz. Ja, das verstand ich schon damals – der letzte Gedanke der Mutter galt ihrem Rehkitz, das erschrocken weggesprungen und aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Mir war unermesslich schwer ums Herz. In diesem Moment hätte ich das Rehkitz sofort hergegeben, wenn dann nur seine Mama und sein Papa leben würden. Während ich an Tränen erstickte, für die ich mich nicht schämte, sagte ich zu Tante:

„Nicht doch, Tante, das Rehkitz sieht, wie wir weinen. Das wird es sehr traurig machen.“

Inzwischen hatten uns die beiden Anderen erreicht. Sie sahen uns, wie wir schweigend dastanden, sodass sie schon, bevor sie sich uns ganz genähert hatten, ahnten, was los war. Wortlos standen sie bei uns und starrten regungslos auf die getöteten Tiere. Aus einem seltsamen Drang heraus hob Jovo die Hand und nahm die Mütze vom Kopf. Joža tat es ihm gleich. In diesem Moment herrschte eine tiefe Stille, aber dann seufzte Jovo schwer und setzte seine Mütze wieder auf. Joža streichelte das Rehkitz, schmiegte das Gesicht in sein samtweiches Fell und sagte traurig: „Oh, du arme Kriegswaise…“

           Übersetzt von Rebekah Manlove

Anđelka Martić: Pirgo (1953)