Der Krieg hatte Mamas Augen, rot und geschwollen vom Weinen.

Er hatte eine verrauchte Küche und einen vollen Aschenbecher mit dem Wappen des Fußballvereins Željezničar, den mein Vater früher nicht benutzt hatte.

Ich würde eher aufhören zu rauchen als meine Kippe auf diesem Wappen auszudrücken“, sagte er immer.

Der Krieg hatte gekochte Eier zum Frühstück, die graue Farbe des Himmels und dauernden Regen.

Er hatte auch vier Sporttaschen, alle mit Wappen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Alle mit Vu

ko und Zagi, den Maskottchen der olympischen Spiele in Sarajevo und der Universiade Zagreb. Die größte gehörte meinem Vater, die kleinere meiner Mutter, die noch kleinere meinem Bruder und die kleinste mir.

Der Krieg trug hässliche Gummistiefel, Regenjacken, die mir und meinem Bruder zu groß waren, Mama ein wenig zu weit und für Vater gerade passend; der Krieg hatte auch altes Brot, Wasser, das wie trüber Saft anmutete, und seine eigenen Wörter.

Beeil dich“, sagte Mama, während mein Vater im Badezimmer war. „Musst du dich ausgerechnet jetzt rasieren?“

Beeil dich, verdammt“, sagte Papa zu Mama; während sie im Badezimmer war. „Dem Wald ist es egal, ob du geschminkt bist.“

Beeil dich, wir sind spät dran“, sagten Mama und Papa zu meinem Bruder. Ich weiß nicht, was er im Badezimmer gemacht hat.

Beeil dich“, sagte Papa zu mir.

Bitte!“ fügte Mama hinzu. „Wenn du jetzt nicht kommst, gehen wir“, drohte mein Bruder. Ich zitterte und las einen Comic über Kapitän Mickey. Hier ist es nicht wie in unserer Wohnung, wo jeder Raum gleich warm ist.

Sie sagen, dass mein verstorbener Großvater, als Genosse Tito starb, sagte: „Alles wird den Bach herunter gehen, glücklicherweise werde ich das nicht mehr miterleben.“

Sie sagten, dass meine verstorbene Großmutter, die wir Mütterchen nannten, meinem Großvater entgegnete: „Das sagst du seit dreißig Jahren und nichts ist passiert.“

Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich wurde kurz nach Titos Tod geboren, sie starben fünf Jahre später. Opa und ich haben nie miteinander gespielt. Wir haben nur miteinander geredet.

Du hättest ihn ja mal umziehen können, sieh, er schaut aus wie ein nasser Pudel“, sagte einmal meine Oma, die wir Mütterchen nannten.

Ich hätte mich auch den Partisanen anschließen können und ich habe es getan. Ich hätte 45 zu Fuß aus Zagreb nach Kakanj zurückkehren können und ich habe es getan. Ich hätte bis zu meiner Rente in der Grube verbringen können und ich habe es getan. Und ich habe gegraben. Ohne Fehltag. Ich hätte allein das Haus bauen können und ich habe es getan. Ich hätte allein den ganzen Garten umgraben können und ich habe es getan. Wirklich, ich kann nicht mehr, und selbst wenn ich könnte, mache ich nichts mehr“, sagte er.

Seit ihrem Tod im selben Jahr, er im Februar, sie im April, sind wir nicht mehr nach Kakanj gefahren. Der Bruder meines Vaters, den wir nicht Onkel nannten, sondern Muho – obwohl er Adnan hieß – schlug vor, ihr Haus zu verkaufen und das Geld aufzuteilen. Er schlug auch vor, Grundstücke zu kaufen und Ferienhäuser darauf zu bauen.

Später sind wir, statt nach Kakanj, in ein Dorf gefahren, das wir unseres nannten. Muho hat jemandem sein Grundstück verkauft, der es nicht brauchte und noch nicht mal ein Haus drauf gebaut hat.

Er war immer ein schwieriger Charakter und wird es auch immer bleiben“, sagte Papa zu Mama. „Du hättest auch keinen Finger gekrümmt, wenn ich dir nicht Feuer unterm Hintern gemacht hätte“, sagte Mama.

Der Onkel, den niemand so nannte, sondern Muho, ging nach Dänemark. Er hat auch uns eingeladen. Er sagte: „Solange noch Zeit ist.“

Du lieber Himmel“, sagte meine Mama, während sie in den Nachrichten sah, wie eine Granate auf eine kroatische Stadt mit dem Anfangsbuchstaben V fiel.

Tu bi kontinjud“ fügte mein Bruder hinzu.

Zimmer! Buch!!“, befahl ihm mein Vater. „Und lies laut!“ „Bitte nicht, wir wollen die Nachrichten hören“, sagte Mama. Ich wurde nicht rausgeschmissen. Sie erlaubten mir, auf dem Teppich zu sitzen und mit den Autos zu spielen.

Wenn der Krieg nur nicht zu uns kommt“, flüsterte Mama.

Zu uns? Nach Sarajevo?“ fragte Papa.

Ja“, bestägte Mama.

Dich muss keiner mehr einweisen… Krieg in Sarajevo… Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank“, murmelte Papa.

Mama und Papa sagten, dass ich nicht zur Schule gehen werde, weil ich erst am Nachmittag dran bin. Meinem Bruder befahlen sie, nach der Schule nach Hause zu kommen und unbedingt die Bücher aus der Bibliothek auszuleihen.

Wir erreichten unser Dorf mit der beginnenden Dämmerung. Mama schloss die Haustür auf, während wir die Sachen aus dem Golf luden. Mir gaben sie nur einen Schulranzen und ließen mich mit leeren Händen im Weg rumstehen.

Mein Vater schaltete drei Heizungen und zwei Radiatoren ein und die Sicherung sprang heraus. Mein Bruder folgte ihm mit der neuen grünen Taschenlampe zum Holzstapel. Die alte, rote, war kaputt gegangen.

Nachdem er in der Küche Feuer gemacht hatte, tauschte er die Sicherung aus und schaltete einen Radiator im Schlafzimmer und einen in unserem Zimmer ein. Die Badezimmertür ließen wir offen.

Hat euch der Krieg vertrieben?“, fragte Abdulahs Vater, der Babo genannt wurde.

Abdulah kam mit einem Fußball in der Hand und einem Fleck Ajvar auf dem Trainingsanzug aus dem Haus.

Vor dem Krieg war ich in dem Dorf Torwart, weil ich nicht spielen konnte. In der Stadt war ich Stürmer, weil ich einen echten Lederball besaß, den ich vergessen habe mitzubringen, obwohl meine Mutter zum ersten Mal sagte, dass ich das darf, sie machte mir nicht mal Angst, dass der Ball von Dornen zerpikst wird. Als auch die anderen Kinder kamen, wollten zwei von ihnen Torwart sein. Abdulah sagte, ich könne Abwehr spielen.

Am Montag ging ich wieder nicht zur Schule. Auch nicht am nächsten Tag. Auch nicht am übernächsten. Mein Bruder musste jeden Tag lernen. Ich nicht. In der dritten Klasse gibt es nicht viel Lernstoff.

Lass ihn in Ruhe, in Gottes Namen. Er wird vor dem Herbst sowieso nicht mehr in die Schule gehen.“ Mama bat Papa, meinen Bruder nicht abzufragen.

Es wird alles nachgeholt, wenn der Krieg vorbei ist. Wer sagt, dass die Kinder den ganzen Sommer frei haben müssen“, entgegnete Vater und fragte meinen Bruder weiter in Chemie ab.

In der Stadt musste ich immer um zehn ins Bett.

Wenn ich früh Schule hatte, um mich auszuschlafen, wenn ich erst spät Schule hatte, um die Gewohnheit nicht zu verlieren. Im Dorf zwang mich niemand.

Mein Vater ging abends immer zur Nachtwache mit den anderen Erwachsenen, meine Mutter las Pearl Buck und mein Bruder sah fern. Nach Einbruch der Nacht durfte ich nicht mehr draußen sein. Wenn es regnete, machte mich die Langeweile schläfrig. Wenn es nicht regnete, wurde ich müde vom Fußball spielen, Verstecken oder Klis spielen und vom Klettern auf den Bäumen, wo wir ein Baumhaus bauten.

Abdulahs Onkel brachte ein in Nylon gewickeltes geschlachtetes Lamm. Vater gab ihm zwei Winterreifen vom Golf.

Wofür zur Hölle brauchen wir ein Lamm in dieser Situation?“, fragte Mama.

Weil ich aus Erbsen keinen Spieß machen kann“, entgegnete mein Vater. „Erster Mai bleibt erster Mai“.

Das Fleisch, das übrig blieb, haben wir in Folie gepackt und mitgenommen. Mama machte sich Sorgen, dass es verdirbt. Vater war nicht überzeugt. Mein Bruder fragte, ob es Lyoner gibt. Wir aßen im Wald, versteckt unter dichten Ästen, wo der Wind die nassen Blätter bewegte, so dass unser Essen feucht wurde.

Warum sind die anderen nicht gegangen?“, erkundigte sich mein Bruder.

Idioten. Sie glauben, sie sind sicher“, antwortete ihm Papa. „Und du hast dasselbe gedacht“, entgegnete Mama.

Ich erinnere mich nicht daran, dass es im Mai jemals so kalt war“, sagte mein Vater.

Er sagte noch, dass wir in einer Wohnung schlafen werden, wenn wir uns nicht verlaufen. Wir haben uns nicht verlaufen.

Das war keine Wohnung in einem Gebäude, sondern eine kleine Holzhütte auf einer Lichtung, von der aus wir unser abgebranntes Dorf sahen.

Mama schickte mich und meinen Bruder erst mal zum Umziehen. Dann gingen sie und Papa in die Hütte, die nach Schaf stank. Danach wurden wir wieder nass und sahen zu, wie Granaten auf das Dorf fielen.

Soviel zu – sie sind sicher“, sagte Papa.

Gottbehüteundbewahre“, sagte Mama schnell.

Was machen wir jetzt?“, fragte mein Bruder.

Wegen der Kälte zitterten meine Hände und Beine und klapperten meine Zähne.

Wir werden übernachten und bei Sonnenaufgang weitergehen“, sagte Papa und versuchte, uns alle zu umarmen. Aber seine Arme waren zu kurz.

Wir hörten den ganzen Tag Explosionen und nachts die Maschinengewehrsalven. Vater hielt Wache und schlief nicht. Mama lag neben mir und meinem Bruder und weinte. Mein Bruder schniefte zweimal und furzte einmal, bevor ich einschlief.

Stinkt’s sehr?“, fragte er Mama.

Spielt keine Rolle“, antwortete sie.

Als ich aufwachte, wurde der Regen stärker und die Granaten lauter. Alle sagten wieder zu allen, dass sie sich beeilen sollen.

Der Pfad neigte sich vor uns. Je steiler der Weg wurde, desto mehr Dreck gab es, in den unsere Füße einsanken, und dann wurde es rutschig.

Gibt es einen größeren Tollpatsch als dich?“, sagte Papa, als Mama auf den Rücken stürzte.

Idiot“, sagte mein Bruder, als ich auf dem nassen Boden saß.

Pass auf, wo du stehst“, sagte Mama meinem im Schlamm stehenden Bruder. Vater fiel als letzter hin und alle schwiegen.

Wir hielten nicht mal zum Mittagessen an. Keiner erinnerte sich daran, dass er Hunger hatte.

Ich wollte sagen, dass meine Beine schmerzten, als mein Bruder im Tal Häuser und Gebäude erspähte und fragte, ob das Goražde sei. Papa und Mama sagten, dass das stimmt, und fügten hinzu, dass wir uns beeilen sollen, damit wir vor der Dunkelheit ankämen.

Aus der Schule, in deren Turnhalle wir schliefen, stahl ich ein in Leder gebundenes Notizbuch, auf dessen Einband „Sarabon“ stand. Ich entschied mich Tagebuch zu führen, in welchem jeder Kriegstag seine eigene Seite erhalten sollte. Auf der ersten Seite schrieb ich im Voraus das Datum: 04. Mai 1992.

Ich schrieb das gesamte Tagebuch voll und nicht nur dieses. Für eintausend sechshundert sechsunddreißig Tage braucht man viel Papier.

Übersetzt von Jason Domzalski und Nermana Arnautović

Emir Imamović Pirke: „Rat govori požuri“ aus Trenutak kad je meni počeo rat (2022)

 

Lesung des bosnischen Originals von Nermana Arnautović