Wohin sind die Wasserskifahrer verschwunden, fragte sich Marija, Marijola an jenen Tagen, an denen wie aus dem Nichts Cousin Nikša mit einer großen adidas-Tasche auftauchte. Schon eine Weile hatten sie nichts mehr von den Bosniern gehört, der Krieg hatte die Leitung gekappt. Manchmal klingelte nachts um drei das Telefon, und alle rannten aus ihren Schlafzimmern die Treppe hinauf in die Küche, wo das Telefon stand. Verrückt, die Leitung rauschte, und manchmal, in den frühen Morgenstunden, waren Schweigen und Drohungen aus dem Apparat zu hören, überhaupt, es war eine Zeit der unheimlichen Telefonate bei Marija zu Hause, die schließlich in anonyme und etwas mutigere Anrufe interessierter junger Männer übergingen. So hat es zumindest Marija in Erinnerung.
Cousin Nikša war für die Sommerferien gekommen, bis sich die Situation etwas beruhigte, und war nie nach Travnik zurückgekehrt. Später stellte sich heraus, dass eine muslimische Familie in seine Wohnung gezogen war. Hamza, Nikšas bester Freund, hatte es geschafft, einen Fernseher und eine Stereoanlage aufzutreiben und sie nach Kroatien zu bringen. Aber auch das war später, lange nachdem Nikša vom Touristen zum Deserteur und vom Deserteur zum Flüchtling geworden war und Hamza zum Kellner auf Hvar.
Wo sind die Wasserskifahrer hin, fragte auch Nikša, als er ankam. Er bemerkte ebenso wie Marija, dass es keine roten oder gelben Sportboote mehr gab, die sie über das Meer zogen, und auch keine Surfer. Diese unerreichbaren Schönlinge waren noch nicht da, obwohl der Sommer bereits in den Juli reichte und Marija die Mathenachprüfung schon hinter sich gebracht hatte. Um sie herum wütete der Krieg, ihre Welt verengte sich zu einer kleinen Küsteninsel des Friedens, immer kleiner, immer mehr Tote.
Es gab keine Ausländer und auch keine Lazare aus serbischen Erholungsheimen. Die Fabriken in der Bucht lärmten und qualmten, das verschmutzte Meer war oft dick und undurchsichtig, und im Sommer kamen meist nur serbische Kinder über das Rote Kreuz sowie einige Post- und Eisenbahner, die hier auch ihre Erholungsheime hatten.
Trotzdem liebte Marija diese Sommer in der Bucht: Sie hatten ihre eigenen Wasserskifahrer, ihre Surfer, Schwimmerinnen mit Wellen im Haar, Italiener und Holländerinnen, Tanzabende im Palace Hotel mit einer Band, die ausländische Hits spielte, sie hatten einen Barden des Schwimmens, der jeden Sommer von der Mole heruntersprang und die halbe Adria durchschwamm, oberkörperfreie Touristinnen an jedem Strand, das kleine Luxuspaket eben, das die Küste und der Tourismus mit sich brachten. Über Nacht verschwand das alles, der Sommer hatte die Zeit angehalten, und als sie ihren Lauf wieder aufnahm, ahnte Marija, sie tat das nur, um Bomben zu werfen.
In diesem süßen, beklemmenden Juli lernte sie die Einsamkeit kennen – dann erschien Cousin Nikša mit seinen überspielten Kassetten von Bands aus einem früheren Leben, Liegestützen und Gewichten, Geschichten über eroberte Frauen und schicken T-Shirts mit Streifen, die er štrafte nannte. Er brachte ein Notizbuch mit Gedichten seines Freundes Hamza aus Travnik mit. Es waren gereimte Gedichte über Mädchen, in die Hamza verliebt war – über hundert Namen, von denen sich einige wiederholten. Mit Erstaunen, aber amüsiert, las Marijola diese Sammlung des Kavaliers von Travnik, die Erotik, Pathos und Humor verband. Hamza liebte sie alle, diese Mädchen, alle hundert und mehr. Verrückt!
Die Mädchen, mit denen sie damals rumhing, Lela und Alenka, schwammen am Strand von Novi mit zwei jungen Männern, Brüdern, die ihnen gut gefielen, obwohl Marija nicht verstand, warum solche Mädchen solche Idioten mochten, verrückt. Brankica und ihre Schwester Zorica waren wie vom Erdboden verschluckt, sie versuchte vergeblich, etwas über die beiden herauszufinden. Marijas Schwester Tonka machte mit ihrer Clique einiger ehemaliger Achtklässlerinnen eine Gothic-Phase durch, in der sie sich nicht wuschen und jeden Tag high waren. Manchmal kam ihre Clique kreidebleicher, schwarz gekleideter Mädchen an einen schattigen Tisch am Vesely Beach und spielte Karten, Kniffel, oder einfach gar nichts. Sie waren eben zu cool für das Leben. Tonka sah ihre ältere Schwester mit Verachtung an, sie ging ihr auf die Nerven mit ihrem streberhaften Enthusiasmus und ihrer Tendenz zum Moralisieren, außerdem hatte sie Angst, dass Marija ihrem Vater erzählen würde, dass sie Gras rauchte, obwohl Marija das nie getan hätte.
Damals war Marijola kurzzeitig in ein Mädchen verliebt, das Motorrad fuhr und am Bačvicer Strand Eis verkaufte, und das alle Pascha nannten, allerdings wurde ihr, mehr wegen der Mathenachprüfung und weniger wegen Geschichten über Scharfschützen, verboten, nach Split zu fahren. Sie hatte also keine andere Wahl, als jeden Tag einen anderen Badeanzug anzuziehen, ein Handtuch über ihre Schultern zu hängen, einen Hut aufzusetzen, Scholochow, Nabokov, Zwetajewa oder Turgenew, oder wer auch immer gerade dran war einzupacken und unter einer Kiefer zu lesen.
Sie entschied sich für den Vesely Beach, wo sie bisher selten gebadet hatte. Einmal bemerkte sie, dass dort junge Männer im flachen Wasser eine menschliche Pyramide bauten. Dieses Wunder von Schönheit, Geschicklichkeit und muskulösen Gliedmaßen raubte ihr den Atem, und sie hoffte, dass es sich wenigstens einmal wiederholen würde. Nun, sie wurde nicht enttäuscht!
Sobald sich genügend junge Männer gefunden hatten, kletterten sie einander wie Turner auf die Schultern und führten später eine Parade von Sprüngen ins flache Wasser oder von der Mole vor, verrückt. Zwischen den Sätzen schaute sie über ihr Buch hinweg zu ihnen hinüber, ihre Augen verschlangen dieses glückliche Knäuel und sie saugte die salzigen Tropfen von der sonnengebräunten Haut ihrer Schultern und Bäuche ein, und dann ging sie selbst auf die Spitze der Mole und sprang ihren Lieblingssprung: einen halben Salto, ging zurück zum Strand und band sich einen Turban. Aber der Strand war nicht beeindruckt.
In diesem Sommer lernte sie die Einsamkeit kennen und liebte sie so sehr, dass sie nicht mehr ohne sie konnte – aber das war nicht das Einzige, was sie kennenlernte. Letzten Winter hatte sie versucht, etwas in den langen Küssen zu empfinden, die sie mit einigen Jungs erlebte, und sie spürte, dass sie sich manchmal so in der Aufregung und Benommenheit verlor, dass ihr die fleischige Zunge, die Zähne, der Speichel und der frisch gewachsene Bart, der ihr im Gesicht und an den Lippen kratzte, nicht mehr bewusst waren, sodass es ihr ab und an sogar gefiel. Einer von ihnen, der Gitarrist, sagte: Ich habe dich sehr gern, Marija, aber du küsst schlecht. Du musst lernen, besser zu küssen.
Das versetzte Marijola einen Stich ins Herz.
Sie mochte Küssen nicht besonders, aber aus irgendeinem Grund war sie stolz auf ihre Technik, die darin bestand, dramatische Hollywood-Küsse nachzuahmen und ihren Mund gerade so zu öffnen. Noch mehr zu geben als beim Küssen den nackten Rücken unter dem T-Shirt zu berühren, kam für sie nicht in Frage. Sie wunderte sich, warum sie nach zwei Monaten fanatischer Liebe verlassen wurde, aber sie verstand es erst später. Es gab genug Mädchen, die bereit waren, mehr zu geben oder anzubieten als Lippen und Rückenstreicheln, nämlich konkrete Liebe. So etwas kam Marija nie in den Sinn, sie dachte nicht einmal daran, geschweige denn, dass sie Lust darauf hatte.
Aber in diesem Sommer, als sie nass vom Meerwasser auf einem Handtuch am Vesely Beach neben ihrem muskulösen Cousin Nikša lag, der nicht von seinem Walkman zu trennen war, hob sie den Kopf von Bulgakow und Charms, kehrte, geblendet vom Licht, zu den geschmeidigen Sätzen zurück und dann wieder zu den geschmeidigen Körpern der jungen Männer, die in jenem Sommer am Vesely Beach schwammen und die etwas älter waren als sie. Sie waren gut aussehend und echt und es war so unglaublich, dass so schöne und sicherlich auch interessante und kluge junge Männer an genau diesem Strand schwammen, an dem sie auch war. Verrückt!
Sie bemerkten – wahrscheinlich -, dass Marija sie beobachtete, weil einer von ihnen sie hin und wieder ansah, aber nur kurz, dann lenkten sie ihre Aufmerksamkeit sofort auf etwas anderes und lebten ihr phänomenales Leben gutaussehender Jungs weiter.
Besonders zwei von ihnen erregten ihre Aufmerksamkeit. Einer war frech genug, ihre Bücher kurz zu kommentieren, als sie zur Eismaschine ging, er war nicht so hübsch, aber er war ohne Zweifel der interessanteste Mann, den sie bisher gesehen hatte. Der zweite war die erste Person, die Marija sicher für das hielt, was man einen „attraktiven Mann“ nannte. Alles an ihm war schön und makellos, sein Gesicht, sein Körper, sogar seine Zehen. Dragan und Marko, sie hörte ihre Namen und schrieb sie in ihrer saubersten Handschrift auf, manchmal schlug sie den Block auf und starrte sie an, die Buchstaben.
Beide würden in den kommenden Jahren zu unterschiedlichen Zeiten ihre Liebhaber werden. Aber in jenem ersten Sommer, als sie sich heimlich in beide verliebte, hatten sie sich noch nicht einmal kennengelernt.
Ende August traf sie Lela und Alenka, die ihr erzählten, dass einige Surfer aus Novi ihretwegen öfter in die Nähe vom Vesely Beach kämen, um zu surfen.
Wegen wem? Meinetwegen? Verrückt! Wer würde wegen mir zum Surfen kommen?
Es war eine Offenbarung, wunderbar und beängstigend.
Ja, sagten sie, du gefällst ihnen, sie wollen was von dir, sie schauen dich mit Ferngläsern vom Meer aus an, aber pass auf, Marijola, das sind Schürzenjäger, sie haben uns nach dir gefragt, aber sag mal, sie behaupten, du hast einen Freund, einen richtig muskulösen, alle Mädchen am Vesely Beach sind eifersüchtig.
Nikša, meint ihr? Nikša ist mein Cousin! Sagt ihnen das, sie brauchen echt nicht eifersüchtig sein. Ach verdammt!
Sie rannte allein im Bikini zum Strand und demonstrierte allen aus vollem Herzen: „N i k š a i s t n u r m e i n C o u s i n!“ Aber es war niemand da, um ihr zuzusehen. Dragan ging zur Universität und Marko in den Krieg. Am Strand waren nur noch fettleibige Frauen, die sich von der Ebbe und der Flut auf die Kiesel rollen ließen.
Unter dem Strohhut erfüllte Marija teilweise ihren Plan, russische Klassiker zu lesen und sich zu verlieben. Alenka ging es schlechter, ihre Eltern wollten, dass sie nach Frankfurt kommt, sie wollten nicht nach Kroatien zurückkehren, solange der Krieg nicht vorbei war. Wann sollte das sein? Sie saßen in Marijas Zimmer, blätterten in Erotica, rauchten und unterhielten sich. Das einzig Gute an Erotica sind die Comics und die Werbung, fanden sie. Bei Alenka zuhause wurde vor jedem Essen gebetet, aber Alenka wusste, dass Jesus nichts gegen guten Sex hatte.
Sie rauchten eine alte Packung Lord, vergessen in der Schublade von Alenkas Mutter, und planten Marijas siebzehnten Geburtstag.
Mihaela Drlje hat mich gefragt, warum ich mit dir abhänge, sagte Alenka plötzlich und blies Rauch über die erotischen Anzeigen.
Warum hängst du mit Marijola rum, sie ist Montenegrinerin. Montenegriner sind genauso scheiße wie Serben.
Marija spürte, wie sich ihre Wangen, Stirn und Ohren röteten. Ihre Ohren brannten.
Diese blöde Mihaela Drlje! Wie kommt die dumme Kuh dazu zu sagen, wer ich bin? Die geht mir eh die ganze Zeit auf die Nerven, rief Marija. Die soll mal ihren eigenen Nachnamen anschauen!
Das sage ich ja auch, sagte Alenka knapp. Also zurück zu unserem Plan!
Der Plan war großartig, aber die Feier zum siebzehnten Geburtstag fand nicht statt, genau an diesem Tag, am Ende des Sommers, begannen Granaten vom Himmel und vom Meer zu fallen. Das ist verrückt, sagte Marija. Alle kannten die beiden Anführer, von denen sie beschossen wurden, der eine war eine Zeit lang ihr Nachbar, der andere hatte den gleichen Nachnamen wie Marijolas Mutter und stammte aus ihrem Dorf. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass einem das an seinem siebzehnten Geburtstag passiert? Dass dich die Väter deiner Freunde bombardieren? Wenn ich das jemals aufschreibe, dachte sie, werden mir die Leute nicht glauben.
Zum verspäteten Schulbeginn war der Platz neben Marijola leer: Alenka saß in Frankfurt fest und schrieb, sie werde vor ihren Eltern fliehen und in den Krieg ziehen.
In jenem Jahr kehrten mehrere Freunde nicht in die Schulbänke zurück, es wurde lange darüber gemunkelt, was mit ihnen geschehen war, die vorherrschende Meinung war, dass alles vergänglich sei und dass der Gitarrist, Brankica und Zorica zurückkehren würden … Aber sie sind es nicht, niemals.
Eine Lehrerin betrat wütend eine Klasse und fragte: Gibt es hier Serben?
Alle erzählten das auf den Fluren und in den Klassenzimmern, lachten und redeten darüber, was für eine Legende diese Lehrerin war.
Marija machte sich Sorgen darüber, wie sie ihre Situation und die Tatsache, dass sie mit all dem, mit den Granaten, nichts zu tun hatte, erklären würde, wenn in ihrer Klasse wieder etwas Ähnliches passieren würde, aber es geschah nichts. Ihre Familie hat immer in dem Ort gelebt, seit es ihn gab, und die Uferpromenade und die Grundschule waren nach Omas Brüdern benannt, aber die waren auch Partisanen gewesen… Alle in ihrer Familie waren immer Jugoslawen gewesen, das könnte sie sagen, vielleicht wäre das besser? In ihrer Straße schien es niemanden zu interessieren, ihr Haus war eines der wenigen, das renoviert war und in dem man die Holzbalken ersetzt hatte, wodurch das Erdgeschoss zu einem Schutzraum geworden war.
In diesem Raum in Marijolas Haus roch es nach der Angst der alten Nachbarn, nach der dicken Frau, die untröstlich auf einem Stuhl mitten im Zimmer weinte, während Flugzeuge über die zerbrechlichen Steinhäuser flogen, und es wurde immer schlimmer, obgleich die Granaten etwas weiter von ihnen entfernt fielen.
Am ersten Tag der elften Klasse begrüßte die Lehrerin die Schüler und sagte: Schaut euch unsere Marija an! Meine Liebe, ein Kind ist in die Ferien gegangen und eine richtige junge Frau ist zurückgekommen!
Verrückt.
Und Marijola, die mit dem Bus von der Schule in Split zurückkehrte, arbeitete an einem neuen Plan für den kommenden Winter. Wenn ich am Leben bleibe, dachte sie, muss ich alle französischen Klassiker lesen und mich verlieben, aber glücklich. Vielleicht sollte sie mit jemandem schlafen, angesichts des Krieges. Und ausgehen, wenn irgendwo getanzt wird.
Mit diesen Gedanken betritt sie die Küche.
Ihr Vater sitzt am Tisch, von der Tür aus sieht man seinen breiten Rücken in einem Hawaiihemd und den gesenkten Kopf: er hält sein Gesicht in den Händen.
Hey, sagt sie. Hey, Papa, was ist los?
Übersetzt von Lena-Marie Forkel
Olja Savičević Ivančević: „Gorkih šesnaest“, aus Trenutak kad je meni počeo rat (2022)