Die unmittelbare Androhung einer Militäraktion löste unheimlichen Lärm und Unglauben aus. Jeden Abend flehte ich Ana an, den Fernseher auszuschalten. Sie wollte die Nachrichten auf jedem Kanal hören. Mit der Fernbedienung in der Hand verfolgte sie die Tagesthemen, schauderte und rollte mit den Augen; sie erinnerte mich in diesem Moment an meine Mutter, die das einst auf dieselbe Weise getan hatte.
– Klick, Klick, Klick! – Mit der Fernbedienung in der Hand starrte Ana auf den Bildschirm, so, als würde sie versuchen zu erraten, wie ernst die Drohungen, die jeder auf seine Art und Weise interpretierte, gemeint sind.
Machen sie’s? Machen sie’s nicht? Klick, Klick!
„Wir sind zu kleinen Figuren auf dem Spielbrett der Welt geworden.“, sagte ich. „Wenn wir die Regierung gestürzt hätten, wäre all das nicht passiert. Aber wir beide haben es nicht geschafft, auf die Demos zu gehen, und nun ist es, wie es ist. Ohne uns hatten sie keine Chance.“
„Du machst dich wohl lustig, aber sie werden uns wirklich fertigmachen!“, antwortete Ana ernst.
„Sie könnten uns sofort aus dem Weg räumen, denn im Vergleich zu ihnen allen sind wir lächerlich schwach.“, antwortete ich ihr.
„Glaubst du wirklich, sie werden uns …?“, fragte Ana, ohne das Wort bombardieren zu erwähnen, so als würde es wahr werden, wenn sie es laut ausspricht.
„Dein magisches Denken wird uns nicht retten“, antwortete ich. „Mihajlo hat mir gesagt, dass er in den letzten Tagen die Militärvorbereitungen in Deutschland mit eigenen Augen gesehen hat und dass er sich Sorgen macht… Das sind wirklich keine leeren Worte mehr.“
„Und wenn Mihajlo das sagt, dann ist das auch so!“, spottete Ana und setzte ihr masochistisches Spiel mit der Fernbedienung fort.
Klick, Klick.
An diesem Abend, und noch viele weitere Male, erinnerte ich mich an Opa Drak
es Worte: – In der Gegenwart sind die Menschen nicht in der Lage zu verstehen, was vor sich geht. Lasst das ein oder andere Jahrzehnt vergehen, dann wird uns alles klar werden.
Liebe alte Schildkröte,
wie recht er doch hatte.
Wir lebten nicht lange mit der Drohung.
Nach einigen Tagen, genauer gesagt, eines Abends bei hellem Mondschein, herrschte seit Mittag eine seltsame Stille in der Stadt. Es sah aus, als legte sich jeder Windhauch, so als erstarrten die Blätter am Baum in Erwartung eines heftigen Gewitters. Der glasklare Mondschein trug zur unangenehmen Stille bei, so wie ein häufig benutztes Oxymoron aus Opa A
ims Vokabular es beschrieb: ein Sturm aus heiterem Himmel. Plötzlich durchschnitt das Aufheulen der Sirenen das Licht und die Stille. Das Fernsehprogramm wurde unterbrochen und auf dem Bildschirm erschien die Meldung, dass neunzehn Länder damit begonnen hatten, eines zu bombardieren, unseres. Dann ertönte eine Stimme, die uns Anweisungen gab, uns ohne Panik in die Luftschutzkeller zu begeben und wie wir uns weiter verhalten sollten.
Ana verlor die Nerven und begann zu schreien: „Mann, was sollen wir mitnehmen? Was sollen wir nur mitnehmen?!“
„Nur die Geigen, für sie sind wir verantwortlich.“, sagte ich ruhig und fügte unbesorgt hinzu, wie Opa A
im es früher getan hatte: „Auch das wird vorübergehen!“
Ich erkannte meine eigene Stimme nicht. Ich dachte an Mihajlo und musste lächeln. Weit weg, in Berlin, war er meine Stütze. Ich war einfach zu glücklich, um jetzt bombardiert zu werden. Aber ich erinnerte mich an die Geschichte über die Geschwister Hass und Angst.
„Nur die Geigen, Ana, das ist alles, was wir brauchen“, wiederholte ich entschlossen, als Ana wieder in Panik zu geraten begann.
„Was ist mit Essen? Wasser?“, fragte sie, während sie sich noch einmal einen Pferdeschwanz machte. Ich kannte diese überflüssige nervöse Bewegung nur zu gut.
„Ruhig“, sagte ich.
Ana begann, stur ihren Rucksack zu packen. Sie schmiss ohne nachzudenken Dinge hinein und stopfte sie unordentlich zusammen. Ihre Hände waren sichtlich am Zittern.
Doch dann warf sie ihn plötzlich auf den Boden.
„Ich werde doch nichts mitschleppen!“, beschloss sie wütend.
„Los, komm!“, sagte ich und griff nach meiner Jacke. „Wir machen das Licht und den Fernseher aus! Du hast gehört, was dieser Typ im TV gesagt hat“, scherzte ich und dachte wieder an Mihajlo. Ob er wohl in den Nachrichten von uns erfahren wird? Ob er sich Sorgen macht?
„Mann, mir zittern die Knie!“, sagte sie auf dem Weg nach unten Richtung Keller. Dort waren schon viele Leute.
An diesem ersten Abend im Luftschutzkeller, umgeben von Nachbarn, die wir jetzt zum ersten Mal wirklich bemerkten, saßen Ana und ich auf einem zusammengefalteten Stück dicker Pappe. Wir waren viele im Keller, die Leute schwiegen. In der Ferne war Donner zu hören, ein junger Mann lief als Letzter hinunter und rief, dass die Bomben bereits auf den nördlichen Teil der Stadt gefallen seien und er ein Feuer gesehen habe.
Ana fing inzwischen an, Chips aus einer großen Tüte zu essen, sie aß nervös, voller Angst stopfte sie sich eine Handvoll in den Mund.
„Das beruhigt die Nerven“, sagte sie mit einem unsicheren Lächeln.
Auf meinem Schoß lag meine Geige. Ich starrte sie an. Und dann öffnete ich plötzlich den Geigenkoffer, nahm sie heraus und begann zu spielen.
Vivaldis Frühling, was sonst? Was gibt es Lebendigeres als dieses Stück? Das Licht in den Glühbirnen flackerte, als ob es gleich ausgehen würde. Bloß das nicht, murmelte ich in mich hinein. Alles wurde still, alle lauschten meiner Geige. Es war, als ob ich erst mit ihr begann zu atmen.
„Los, Ana“, sagte ich leise und tatsächlich legte Ana die Chipstüte weg und wir begannen das Stück von vorn.
Frühling. Hymne des Erwachens.
Die Leute hörten auf zu sprechen, hörten uns zu und das waren solche Momente…
Im schimmligen, halbdunklen Keller unter den Bomben lief Vivaldi. Diese Aufmerksamkeit baute uns wieder auf und ich spürte, wie ich mich entspannte und wie sich langsam in mir auf bekannte Weise ein Schalter umlegte … Ich spielte, atmete, ich hatte keine Angst, alle hörten uns zu, sie vergaßen ihre Angst und spendeten uns tosenden Applaus.
Der Klang dieses Applauses im Luftschutzkeller übertönte jeden vergangenen und künftigen Applaus, der sich an meine Geige richtete.
– Kind, kannst du auch etwas von uns spielen? – fragte ein Mann. – Irgendetwas Traditionelles, was von uns?
Ich bemerkte, wie Ana begann, aufzutauen und fröhlich sagte: „Jetzt hören Sie ausgebildete Musikerinnen spielen! Sing mit, Tića!“
Und dann, mit der Stimme einer geborenen Lastenträgerin, begann sie das Lied: Die Hähne krähen, Nebel steigt über der Morava auf
„Woher hast du das?“, fragte ich sie erstaunt und sang weiter, und plötzlich liefen Tränen über meine Wangen, sie kullerten, eine nach der anderen. Nebel steigt über der Morava auf, die Morava klingt, sang ich und weinte. Meine Stimme war aber klar. Sie zitterte überhaupt nicht.
Und plötzlich sah ich Opa Drak
e, wie er sich auf seine Angeln stützte, ich sah, wie seine Hose beim Fahren eines uralten Fahrrads mit einer Stecknadel befestigt wurde, ich sah Opa A
im und meine Mutter auf der Terrasse Kaffee trinken, ich sah den Weidenbaum mit Lianen und die Dunkelheit des kleinen Kinos, eine vertraute, abgestandene Dunkelheit, nicht wie diese schreckliche Finsternis hier um uns herum. Ich sah Zagor und das Kätzchen Mrak, alle meine geliebten Pferdchen und sogar Aprilija… und es kam mir für einen Augenblick so vor, als wäre meine Kindheit wieder zurückgekehrt… und ich fühlte, dass es gut so war, dass es so sein sollte, dass sie für immer in mir bleiben sollte.
Es war Nacht geworden und über uns begann der Bombenhagel. Die Stadt brannte, aber wir vergaßen es, weil – ein Wunder geschah. Im kleinen Heldentum der Noten vergaßen wir all das Elend und sangen. Was sollten wir sonst tun?
Am nächsten Abend, als die Sirenen erneut aufjaulten, klopfte jemand an unsere Tür.
Ein Junge von etwa zehn Jahren stand vor uns und sagte:
„Ich bin ein Punk, aber ich möchte, dass ihr vorbeikommt und wieder für uns spielt. Sie haben mich zu euch geschickt! Alle laden euch ein!“
Übersetzt von Lara Voss
Auszug aus: Vesna Aleksić: „Sazvežđe violina“ (2018)