Virtuelles Corona-Museum: Stille

Objekt

Stille

Dieser Beitragt steuert dem virtuellen Corona-Museum des Blogs zum Seminar Museumsrundgang virtuell der MLU das Objekt Stille bei.

Wieso Stille? Die COVID-19-Pandemie hat Kommunikation verändert. Weltweit konnten Menschen durch Lock-Downs und Kontaktbeschränkungen weniger direkt mit anderen Personen kommunizieren. Digitale Lösungen um den analogen menschlichen Kontakt zu ersetzen wurden in Deutschland vielerlei gefunden. Stille steht an dieser Stelle für alle die Worte, die durch die COVID19-Pandemie nicht gesagt werden konnten.

Embodiment und Limits: Das Objekt Stille wird im Folgenden teilweise sehr persönlich von mir beschrieben werden. Ich habe jedoch nicht nur bei diesen Punkten eine Perspektive, die fest in meiner Person und Position verankert ist. Ich bin eine weiße, hetero-, cis-Frau und Studentin in Deutschland. Die Beschreibung von Stille ist eine unvollständige Auswahl an Punkten, die mir in meiner Position eingefallen sind. Ich kann nicht in allen Punkten aus persönlicher Erfahrung sprechen. Für Hinweise auf Punkte, um die ich die Beschreibung des Objekts Stille ergänzen und ausbauen kann um eine diversere Sicht einzunehmen bin ich sehr dankbar.

Beschreibung

Stille steht an dieser Stelle für alle die persönlichen Worte, die mit Sterbenden nicht gewechselt werden konnten. In den Monaten April bis Juli sind in Deutschland 304400 gemeldete Todesfälle (aller Todesursachen, nicht nur COVID19-Tote) in Deutschland aufgetreten. Einer dieser Todesfälle war mein Großvater. Er hatte 4 Kinder, 10 Enkel und 4 Urenkel. Außerdem hatte er Asthma. COVID19-bedingt haben nur wenige der genannten Personen vor seinem Tod noch einmal persönlich mit ihm sprechen, oder ihn besuchen können.

Abbildung: Arbeitsplatzverlust durch Corona
designed by freepik über: https://de.freepik.com/vektoren-kostenlos/arbeitsplatzverlust-durch-coronavirus_8616718.htm

Stille steht an dieser Stelle für die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Die COVID19-Pandemie hat weltweite Ängste vor Arbeitsplatzverlust ausgelöst. Besonders betroffen von coronabedingtem Arbeitsplatzverlust und Kurzarbeit sind Frauen und Personen in prekären Arbeitsverhältnissen.

Stille steht an dieser Stelle für „fehlende“ Leistung. An der Martin-Luther-Universität erschien im Mai der Blogpost Es ist okay, nicht alles zu schaffen. Ein Zwischenfazit zum digitalen Semester an der MLU. Er ist ein Zugeständnis dazu beim digitalen Studieren an Grenzen zu gelangen und nicht die übliche Leistung zu bringen und fand enormen Zuspruch. Die Diskussion über pandemiegerechte Lehre – nicht nur in Hochschulen – fand neue Formen von Lehre. Doch in meinem persönlichen Umfeld wurde im akademischen Kontext unglaublich oft von Stress und Frustation gesprochen. Zu ähnlichen Schlüssen kommen diverse Berichte über verschiedenste deutsche Hochschulen. Weitere Belastungsfaktoren von Studierenden sind z.B. Kinderbetreuung, die digitale Lehre als solche, oder die Pflege von Angehörigen. Sie werden in der Pandemie noch verschärft.

Stille steht an dieser Stelle für Einsamkeit. Lock-Downs und Aufenhaltsbeschränkung haben die Menschen nachweisbar einsamer gemacht. Diverse internationale Paper warnen vor den Folgen von Einsamkeit auf die Menschen.

Abbildung: Aufruf zur Fridays For Future Demo
über: https://de-de.facebook.com/fridaysforfuturemuenster/photos/wir-sind-hier-wir-sind-laut-weil-ihr-uns-die-zukunft-klaut-am-freitag-ist-es-sow/1225281610954718/

Stille steht an dieser Stelle für die Unmöglichkeit auf die Straße zu gehen. Teilnehmer:innen von Bewegungen wie FridaysForFuture und #BlackLivesMatter haben in den Pandemiemonaten Schwierigkeiten bei der Entscheidung für oder gegen die Teilnahme. Die Beteiligung an Fridays For Future ist durch einen pandemiebedingten Einbruch gekennzeichnet. Stille steht an dieser Stelle für stille Protestformen wie den Netzstreik fürs Klima. Skandierten die Fridays For Future in präpandemischen Zeiten noch: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsre Zukunft klaut“ sind es in COVID19-Zeiten besorgniserregendere Demonstrationen die laut auf sich aufmerksam machen.

Stille steht an dieser Stelle für fehlendem Zugang zu digitalen Ersatzangeboten. Durch infrastrukturelle Mängel haben die Schulen in Deutschland mit sehr unterschiedlicher Qualität auf die Pandemie reagieren können. Stille ist an dieser Stelle gleichzusetzen mit der Stille, die eintritt, wenn Kinder keine private Technik, Eltern keine Drucker und Lehrer:innen keine entsprechenden Voraussetzungen haben um in einem digitalen Raum angemessen zu kommunizieren. Es ist weiterhin die Stille älterer Personen, denen z.B. entsprechende Bedienkompetenz digitaler Geräte fehlt. Auch in dieser Altersgruppe sind fehlende Ausstattung und z.B. auch fehlendes WLAN infrastrukturelle Mängel. Es ist auch die Stille ländlicher Regionen, denen digitale Kommunikation durch schnelles Internet noch nicht ermöglicht ist.

Stille steht an dieser Stelle für mangelnde Bildungschancen. Die Pandemie ist ein Brennglas: Soziale Ungleichhheit wird pandemiebedingt verschärft. Mangelnde Chancen in der Bildung ergeben sich nicht nur aus fehlendem technischen Zugang. Sie ergeben sich auch aus finanziellen Sorgen der Familien, aus fehlender Betreuung der Kinder und z.B. auch aus dem Phänomen der ausverkauften Supermärkte, die die ersten Sorgen verschärfen.

Ist Kultur systemrelevant?
über: https://www.ln-online.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-im-Norden/Systemrelevanz-Ist-Kultur-wirklich-wichtig

Stille steht an dieser Stelle für ruhende Kulturangebote. Die Kulturbranche ist durch die Corona-Pandemie besonders stark betroffen. Dies hat zur Folge, dass Kulturinstitutionen und die Menschen, die in ihnen oder selbstständig als Kulturschaffende arbeiten in ihrer Existenz gefährdet werden. Dabei wird immer wieder die Debatte geführt ob Kultur systemrelevant sei. Stille steht an dieser Stelle deshalb für Museen und Theater, in denen kein Wort gesprochen wird, Bibliotheken und Archive, in denen kein Wort gelesen wird und Kulturschaffende, die das Gefühl haben ihren Worte würde nicht gehört werden.

Stille steht an dieser Stelle für Rückschläge bei emanzipatorischen Fragen. Durch eine krisentypische Verstärkung althergebrachter Muster kommt es zu einer Retraditionalisierung. Frauen reduzieren pandemiebedingt ihre Arbeitszeit und Wissenschaftlerinnen veröffentlichen weniger um auf Phänome wie die Schließung von Schulen und Kindergärten zu reagieren.

Stille steht an dieser Stelle für fehlende Möglichkeiten der Wohnung zu entkommen. In der Pandemie gab es von Beginn an Warnungen vor einem Anstieg an häuslicher Gewalt durch Lock-Downs. Es gibt eine hohe Dunkelziffer bei der häuslichen Gewalt gegenüber Frauen. Deren Kommunikation ist nicht nur pandemiebedingt eingeschränkt, durch den Umstieg auf digitale Formate sind sie der Kontrolle durch den Partner auch stärker ausgesetzt. Konkrete mit Pandemie und Lock-Down in Zusammenhang stehende Risikofaktoren für häusliche Gewalt gegen Frauen sind zum Beispiel Arbeitsplatzverlust und Kinder. Fehlende Möglichkeiten der Wohnung zu entkommen haben neben Opfern häuslicher Gewalt auch Personen, die eines besonderen Austauschs durch bestimmte Netze und Safe Spaces benötigen. Dazu gehören z.B. queere Personen.

Stille steht an dieser Stelle für fehlende Wohnmöglichkeiten. Pandemiebedingt fallen Strukturen weg, die wohnungslose Menschen unterstützt haben. Durch diese fehlenden Netzwerke kommt es zu einem Anstieg an Wohnungslosigkeit. Neben diversen anderen Problemen stellen sich wohnungslose Personen in der Pandemie zwei Fragen stellen: „Was bedeutet Corona für den sozialen Zusammenhalt? Wenn eine Rezession kommt – wendet sich die Gesellschaft vermehrt gegen arme Menschen?“


Anmerkung zum Absatz „Leistung“: Ich betrachte unsere „Leistungsgesellschaft“ und die Wertigkeit von „Leistung“ in dieser äußerst kritisch. Dennoch ist „fehlende Leistung“ etwas, das durch die Corona-Pandemie bedingt zur Belastung von Personen führt. Daher führe ich diesen Punkt auf, obwohl ich auch abseits der COVID19-Pandemie die gesellschaftliche Einstellung zu (fehlender) Leistung kritisiere.

weiterführende Informationen

Loneliness: A signature mental health concern in the era of COVID-19, Psychiatry Research 290 (2020) 113117
Bericht über Stress von Studierenden in COVID-19-Zeiten von der HTW Leipzig 

Bericht über Stress von Studierenden in COVID-19-Zeiten an der Hochschule der Künste Berlin.

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