Simmel ist uns heute auf eigentümliche Weise fern und nah zugleich.
Dieses Zitat von Jürgen Habermas in der an dieser Stelle betrachteten Vorrede zum Sammelband Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Kriese der Moderne; Berlin 1998 fasst meinen Leseeindruck gut zusammen.
Die Fremdheit entsteht für mich durch Simmels bildungsbürgerlichen Hinter-grund und der daraus resultierenden Ausdrucksweise und Begriffswahl. Er steht in der Tradition des Fin de siècle und vertritt eine expressivistisches Bildungsideal (= Bildung und das Schaffen von Werken dient der Persönlich-keitsbildung; starker Subjektfokus). Es ist unumgänglich diese fremde Begriffs-welt für sich selbst in eine zugänglichere Ausdrucksweise zu übersetzten, sofern man sich nicht die genannte Ästhetik im Vorfeld aneignen möchte.
So ist für Simmel Kultur ein Prozess, der zwischen zwischen der „Seele“ und ihren „Formen“ abhänge. Leider erklärt Habermas diese Terminologie nicht weiter. Was er aber weiter sagt ist folgendes: „Kultur meint beides: sowohl die Objektivationen, in die sich ein der der Subjektivität entspringendes Leben entäußert, also den objektiven Geist, als auch umgekehrt die Formierung einer Seele, die sich aus der Natur zur Kultur emporarbeitet, also die Bildung eines subjektiven Geistes.“ Diesen Satz lese ich heute so: Die Jugendbuch-Reihe „Harry Potter“ ist eine Geschichte aus der Feder und der Gedankenwelt der Autorin J.K. Rowling, also objektivierter Geist der Autorin. Die in dieser Geschichte verwebten Moral- und Wertvorstellungen der Autorin nimmt der Leser wiederum auf. So macht sich der Leser unbewusst die Moralvor-stellungen des Buches unbewusst zu eigen, es kommt zur Bildung eines subjektiven Geistes.
Ein zweites Element bezüglich der Fremdheit von Simmels Texten ist die starke Abstraktion auf die Metaebene, die sich aller historischer Kontex-tualisierung entzieht und rein analytisch bleibt. Dies ist ein Kritikpunkt von Habermas, da so „der Zeitdiagnose die Kraft und [der] Mut zu politisch-praktischen Schluß-folgerungen [sic!]“ genommen werde. Jedoch sehe ich gerade in diesem Punkt die hohe Attraktivität und stete Aktualität für die Untersuchung unserer Gesellschaft, die sich in den metaphysischen Tiefen-strukturen nur wenig von Simmels Diagnose seiner Zeit unterscheidet.
Aus dieser Ähnlichkeit zu unserer Zeit entsteht wiederum Nähe. Es ist bezeichnend für mich, dass 100 Jahre alte, zeitgenössische Essays zur Gesellschaft heute wenig von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Dazu muss aber festgehalten werden, dass sich Simmel hauptsächlich auf die urbanisierte und industrialisierte Metropole Berlin als Erfahrungsraum bezieht. Da solche Räume heutzutage in unserer Gesellschaft ehr die Regel sind, fühlt sich Simmels Erfahrungsumfeld seltsam vertraut an. Aus dieser Vertrautheit der Analysen und Denkanstöße in seinen Essays lädt er mich zum Nachdenken und zur eigenständigen Problemlösung ein.
Eine ehr unangenehme Vertrautheit ergreift mich wiederum in Bezug auf Simmels Biographie. Da er ein Querdenker war und nicht der wissenschaftlichen Mode seiner Zeit folgte, sondern mit seinen Themen und seinem Stil, salopp gesagt, sein eigens Ding machte, hatte er stehts ein schwieriges Verhältnis zur damaligen deutschen Universitätslandschaft. Antisemitische Vorbehalte gegen Simmel spielten dabei oft auch eine Rolle. Das Grundproblem der Zurückweisung von Menschen, die als andersartig wahrgenommen werden ist leider eine nachwievor bestehende Geißel unserer heutigen Gesellschaft, die zur Zeit nur allzu deutlich beim Flüchtlingsthema spürbar ist.