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2. Jun 2016

Habermas zu Simmel als Zeitdiagnostiker

Verfasst von

Simmel ist uns heute auf eigentümliche Weise fern und nah zugleich.

Dieses Zitat von Jürgen Habermas in der an dieser Stelle betrachteten Vorrede zum Sammelband Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Kriese der Moderne; Berlin 1998 fasst meinen Leseeindruck gut zusammen.

Die Fremdheit entsteht für mich durch Simmels bildungsbürgerlichen Hinter-grund und der daraus resultierenden Ausdrucksweise und Begriffswahl. Er steht in der Tradition des Fin de siècle und vertritt eine expressivistisches Bildungsideal (= Bildung und das Schaffen von Werken dient der Persönlich-keitsbildung; starker Subjektfokus). Es ist unumgänglich diese fremde Begriffs-welt für sich selbst in eine zugänglichere Ausdrucksweise zu übersetzten, sofern man sich nicht die genannte Ästhetik im Vorfeld aneignen möchte.
So ist für Simmel Kultur ein Prozess, der zwischen zwischen der „Seele“ und ihren „Formen“ abhänge. Leider erklärt Habermas diese Terminologie nicht weiter. Was er aber weiter sagt ist folgendes: „Kultur meint beides: sowohl die Objektivationen, in die sich ein der der Subjektivität entspringendes Leben entäußert, also den objektiven Geist, als auch umgekehrt die Formierung einer Seele, die sich aus der Natur zur Kultur emporarbeitet, also die Bildung eines subjektiven Geistes.“ Diesen Satz lese ich heute so: Die Jugendbuch-Reihe „Harry Potter“ ist eine Geschichte aus der Feder und der Gedankenwelt der Autorin J.K. Rowling, also objektivierter Geist der Autorin. Die in dieser Geschichte verwebten Moral- und Wertvorstellungen der Autorin nimmt der Leser wiederum auf. So macht sich der Leser unbewusst die Moralvor-stellungen des Buches unbewusst zu eigen, es kommt zur Bildung eines subjektiven Geistes.

Ein zweites Element bezüglich der Fremdheit von Simmels Texten ist die starke Abstraktion auf die Metaebene, die sich aller historischer Kontex-tualisierung entzieht und rein analytisch bleibt. Dies ist ein Kritikpunkt von Habermas, da so „der Zeitdiagnose die Kraft und [der] Mut zu politisch-praktischen Schluß-folgerungen [sic!]“ genommen werde. Jedoch sehe ich gerade in diesem Punkt die hohe Attraktivität und stete Aktualität für die Untersuchung unserer Gesellschaft, die sich in den metaphysischen Tiefen-strukturen nur wenig von Simmels Diagnose seiner Zeit unterscheidet.

Aus dieser Ähnlichkeit zu unserer Zeit entsteht wiederum Nähe. Es ist bezeichnend für mich, dass 100 Jahre alte, zeitgenössische Essays zur Gesellschaft heute wenig von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Dazu muss aber festgehalten werden, dass sich Simmel hauptsächlich auf die urbanisierte und industrialisierte Metropole Berlin als Erfahrungsraum bezieht. Da solche Räume heutzutage in unserer Gesellschaft ehr die Regel sind, fühlt sich Simmels Erfahrungsumfeld seltsam vertraut an. Aus dieser Vertrautheit der Analysen und Denkanstöße in seinen Essays lädt er mich zum Nachdenken und zur eigenständigen Problemlösung ein.
Eine ehr unangenehme Vertrautheit ergreift mich wiederum in Bezug auf Simmels Biographie. Da er ein Querdenker war und nicht der wissenschaftlichen Mode seiner Zeit folgte, sondern mit seinen Themen und seinem Stil, salopp gesagt, sein eigens Ding machte, hatte er stehts ein schwieriges Verhältnis zur damaligen deutschen Universitätslandschaft. Antisemitische Vorbehalte gegen Simmel spielten dabei oft auch eine Rolle. Das Grundproblem der Zurückweisung von Menschen, die als andersartig wahrgenommen werden ist leider eine nachwievor bestehende Geißel unserer heutigen Gesellschaft, die zur Zeit nur allzu deutlich beim Flüchtlingsthema spürbar ist.

 

Über Hendrik Lobe

  • Student/in

3 Kommentare

  1. Stefanie Middendorf sagt:

    Der Text von Habermas zeigt meines Erachtens auch, wie Simmels Werk aufgrund der ihm eigenen Ambivalenz bis heute sehr unterschiedlichen, sogar widersprüchlichen Aneignungen unterliegt – Habermas verweist ja auf die lange Rezeptionsgeschichte von Weber über Adorno bis Luhmann, und unsere anderen Seminartexte bieten weitere Beispiele. Habermas selbst liest Simmel offensichtlich unter der Prämisse seiner eigenen diskurstheoretischen Überlegungen, wenn er mehr Aufmerksamkeit für die „systemisch induzierte Verformung kommunikativ strukturierter Lebenszusammenhänge“ und den Eigensinn der „Intersubjektivität unserer alltäglichen Verständigungspraxis“ fordert. Mit Bezug auf Harry Potter hieße das: Wie wird Ihre Deutung der „Moral“ von Rowlings Geschichte durch formal organisierte kommunikative Zusammenhänge (also z.B. „die Medien“) und durch ihre eigenen Sprechabsichten bedingt? Und mit Bezug auf unser Seminarthema: Wird die von Simmel konstatierte Objekthaftigkeit des Geldes erst durch einen kommunikativ strukturierten Zusammenhang zwischen den Subjekten erzeugt – und könnte man dann bei dieser „Verständigungspraxis“ ansetzen, um problematische Wirkungen des Geldes in der Gesellschaft zu lindern?

    PS: Habermas deutet Simmel ja als Person des 19. Jahrhunderts, die schon die Fragen des 20. Jahrhunderts stellt – über diese Situation des „Übergangs“ ließe sich noch diskutieren. Vielleicht erklärt sich auch hieraus unser Eindruck der Nähe seiner Zeitdiagnose zu unserer Gegenwart?

    • Hendrik Lobe sagt:

      Ihrem Erklärungsansatz, dass Simmel schon die Fragen des 20. Jahrhunderts stellt und sich so die Nähe ergibt, kann ich beipflichten.

      Dass der Wert bzw. der Glaube an den Wert von Geld durch kommunikative Prozesse entsteht, stimme ich zu. Geld ist heute nicht mehr Edelmetall mit einem Eigenwert, sondern meist virtuell als Bankeinlage vorhanden, wie im Text von Jan-Otmar Hesse zu lesen ist. Daher ist die Verständigung über den Glaube an den monetären Wert ein Zahl auf dem Bankkonto überaus wichtig.

      Ich will dies bis zur Seminarsitzung noch weiter durchdenken, da ich mich Frage, welche Rolle Handlungspraxen von Banken und Regierungen zur Sicherung des Geldglaubens in unsere heutigen Zeit spielen.

  2. Isabel Kampe sagt:

    Der Glaube des Einzelnen spielt bei der Globalisierung keine Rolle mehr, da die Gesellschaft die Annahme trägt, dass Geld ein Stützpfeiler unseres auf Tauschhandel basierenden Systems darstellt. Somit haben Glaube und Grundbaustein des Systems den gleichen Stellenwert. Geld benötigt nur die Zustimmung der Mehrheit. Wie schon angedeutet entsteht diese Akzeptanz und auch der Wert des Geldes durch kommunikative Prozesse. Hierbei wäre Kritik bei Verschleierung und Irreführung in der Werbung zu äußern, insbesondere wenn es sich um multinationale Konzerne handelt, die diese in Auftrag geben, da diese mittels Tochtergesellschaften und NGOs gegen ihre eigentliche Absicht agieren können.

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