Wozu Griechisch

Altgriechisch?! – Altgriechisch!

Oder: Ein Leben ohne Griechisch
ist möglich – aber (fast) sinnlos.

An einem Sommertag treffen sich Theodor, der nach den Ferien in die zwölfte Klasse kommt, und Sophia, die bereits vor einigen Jahren an Theodors Gymnasium Abitur gemacht hat und nun in Halle Altgriechisch studiert…

Sophia:
Hallo Theodor! Schön, dich mal wieder zu sehen. Wie geht´s dir denn so?

Theodor:
Gut! Sommer, Sonne, Ferien – was kann es Schöneres geben? Gerade, da es im nächsten Schuljahr richtig zur Sache gehen wird… Im Frühjahr stehen die Abiturprüfungen an, und danach möchte ich gern studieren. Natürlich habe ich mich auch schon informiert, welche Unis es so gibt und welche Fächer dort angeboten werden… und bin dabei auch auf Altgriechisch gestoßen.
Das klingt ja exotisch! Aber irgendwie kann ich mir kaum etwas darunter vorstellen… Außer, dass es bestimmt eine noch „totere“ Sprache als das Lateinische ist, in der man staubtrockene jahrtausendealte Texte liest und daran irgendwelche komplizierten grammatischen Erscheinungen erlernen soll…

Sophia:
Ganz im Gegenteil! Natürlich musst du erst einmal die Grundlagen der Sprache erlernen, also Vokabeln und wichtige grammatische Erscheinungen, aber das geht in zwei Semestern relativ schnell, und dann steigst du schon in die Lektüre längerer Originaltexte ein. Dabei liegt der Fokus auf der kombinierten Beschäftigung mit der Sprache, Literatur und Kultur des antiken Griechenlands.
Und von wegen staubtrocken! Du wirst hier alle wichtigen Epochen und Werke der griechischen Antike kennenlernen, von der archaischen Zeit über die Klassik und den Hellenismus bis hin zur römischen Kaiserzeit.
Aus der Frühzeit der griechischen Literatur lesen wir beispielsweise gern die berühmten Epen Homers um den Trojanischen Krieg und die hindernisreiche Heimkehr des Odysseus, der ohne seine nicht minder clevere Frau Penelope teilweise ganz schön alt ausgesehen hätte. Wir beschäftigen uns auch mit den zeitlos aktuellen Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides mit all ihren Verstrickungen – man denke nur an den unschuldig zum Spielball der Götter gewordenen Ödipus, der ohne sein Wissen seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und seine Heimatstadt ins Unglück stürzt, oder an dessen Tochter, die standhafte Antigone, deren leidenschaftlicher Ausruf „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ gerade in der heutigen Zeit einiges an Diskussionspotential bieten dürfte… Mitreißend zu argumentieren lernt man am besten mit den Rednern um Demosthenes, Aischines und Lysias, die selbst die unmöglichsten Situationen mit Scharfsinn, Schlagfertigkeit und Witz zu meistern scheinen. Aber auch die „Philosophen“ unter uns kommen beim Studium des Griechischen voll und ganz auf ihre Kosten, wenn wir zum Beispiel von Platons „Seelengespann“ mit dem folgsamen weißen und dem widerspenstigen schwarzen Pferd lesen, die in jedem von uns wohnen, oder wenn wir uns zusammen mit Sokrates von der weisen Diotima über das Wesen des Eros belehren lassen… Hast du zum Beispiel gewusst, dass Eros eigentlich gar nicht der junge hübsche Liebesgott ist, als der er gern dargestellt wird, sondern ein armer, unscheinbarer Obdachloser, der sich nicht einmal einen Mantel leisten kann, um sich zu bedecken, wenn er vor den Türen im Freien übernachtet?

Theodor:
Tatsächlich?! Dabei dachte ich immer, dass ein Gott schön und mächtig sein müsse… Aber sag´ mal, lest ihr nur solche ernsten Sachen?

Sophia:
Nein, natürlich nicht. Wir bieten zum Beispiel auch etwas Passendes für Fantasyliebhaber und Freunde ausgefallener Erzählungen, sei es, dass wir mit ebenjenem Platon ins versunkene Atlantis tauchen, uns mit dem Geschichtsschreiber Herodot im Orakel von Dodona von sprechenden schwarzen Tauben die Zukunft weissagen lassen oder mit Lukian zum Mond fliegen und dort zusammen mit einer Pilzarmee gegen den König der Sonne Krieg führen. Pech nur, dass wir gleich nach unserer Rückkehr zur Erde von einem zweihundert Meter langen Wal verschluckt werden… Tja, manchmal haben es eben auch die größten Abenteurer nicht leicht… Da ist es gut zu wissen, dass es auch mal wieder etwas ruhiger und besinnlicher zugehen wird, zum Beispiel, wenn wir schon im Graecumskurs die Weihnachtsgeschichte im Original lesen: immerhin ist ja auch das Neue Testament in Griechisch verfasst! A propos Neues Testament – bei Interesse unserer Studenten beschränken wir uns selbstverständlich nicht nur auf die Lektüre der „großen Klassiker“, sondern beziehen auch spätere und weniger gelesene Dinge mit ein. So dürfen sich theologisch Interessierte auf ausgewählter Werke der frühchristlichen Schriftsteller freuen, und Liebhaber der Moderne auf die tiefgründigen Werke der Humanisten, die es doch tatsächlich gewagt haben, selbst auf Altgriechisch zu dichten. Selbst heute entstehen ja noch spannende Bücher auf Altgriechisch – man denke nur an den tschechischen Schriftsteller Jan Křesadlo, dessen postmodernes Science-Fiction-Epos Astronautilia erst 1994 veröffentlicht wurde!

Theodor:
Wow! Das ist ja eine ganze Menge, und bietet für fast jeden Geschmack etwas Passendes… Aber du hast ja auch von der „kombinierten Beschäftigung mit der Sprache, Literatur und Kultur des antiken Griechenlands“ gesprochen – was heißt das denn konkret?

Sophia:
Wir übersetzen und interpretieren Texte in Seminaren und Lektüreübungen. In den Vorlesungen erhalten wir interessante weiterführende Informationen zu ausgewählten Werken, Autoren oder literarischen Gattungen. In Referaten und Hausarbeiten beschäftigen wir uns schließlich intensiver mit dem Inhalt eines Textes, seiner Interpretation und Einordnung in den kulturhistorischen Hintergrund und erlernen dabei auch den richtigen Umgang mit unverzichtbaren Hilfsmitteln wie Lexika und Grammatiken, Textausgaben und wissenschaftlicher Sekundärliteratur.

Theodor:
Um zu übersetzen, muss ich ja erst mal die Sprache können. Gibt es da irgendwelche Voraussetzungen, die ich für das Studium erfüllen muss?

Sophia:
Wie gesagt, in den ersten drei Semestern werden dir in sogenannten „Graecumskursen“ die Grundlagen der griechischen Sprache vermittelt, du kannst dich also für ein Griechischstudium immatrikulieren, ohne irgendwelche sprachlichen Voraussetzungen aus der Schule mitbringen zu müssen. Am Ende dieser drei Semester absolvierst du dann die Graecumsprüfung, die wie die Latinumsprüfung aufgebaut ist. Diese bildet die →Voraussetzung für das weitere Studium
Nur ein kleines Latinum musst du zu Studienbeginn vorweisen können. Besser ist es aber, schon ein Latinum zu haben, denn dieses muss bis spätestens zum vierten Studiensemester vorliegen und eigenständig organisiert nachgeholt werden.
Außerdem bringt dir eine vertiefte Kenntnis der lateinischen Sprache auch einige Vorteile beim Erlernen des Griechischen: Den AcI gibt es zum Beispiel auch im Griechischen, und statt eines Ablativus absolutus haben die Griechen ihren Genitivus absolutus…

Theodor:
Und womit kann ich diesen Studiengang sinnvoll kombinieren?

Sophia:
Zum einen kannst du Griechisch natürlich auf Lehramt studieren, wobei es besonders naheliegend ist, es mit Latein zu kombinieren. Aber weitere sinnvolle Kombinationsfächer sind auch Geschichte, Philosophie, evangelische oder katholische Religion oder eine moderne Fremdsprache. Zum anderen kannst du dich auch für ein Bachelorprogramm entscheiden, und auch hier eröffnet sich ein breites Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten. Üblicherweise wird die Gräzistik aber mit einer oder mehreren der anderen Klassischen Altertumswissenschaften, das heißt der Latinistik, der Alten Geschichte oder der Klassischen Archäologie →kombiniert.

Theodor:
Das ist ja vielfältig! Sind die späteren Berufsfelder denn ebenso breit gefächert?

Sophia:
Bei Lehramtsstudenten liegt es natürlich auf der Hand, wobei auch hier noch die Möglichkeit – und Chance! – besteht, später in die wissenschaftliche Arbeit einzusteigen und ein Promotionsstudium anzuschließen. Den Bachelor- beziehungsweise Masterstudenten stehen nach ihrem Abschluss verschiedene Bereiche in der Wissenschaft offen. Je nach Gewichtung, die unter anderem das Nebenfach angibt, kannst du zum Beispiel als Philologe, Epigrafiker, Papyrologe, Archäologe, Historiker, im musealen Bereich, in Bibliotheken und Archiven, im Verlags- und Medienwesen oder im theologischen Bereich arbeiten. Und in neuester Zeit scheinen gerade die „Soft Skills“, die man durch ein Studium der alten Sprachen erwirbt, für die Personalmanager und -recruiter großer Wirtschaftsunternehmen zunehmend interessant zu werden…

Theodor:
So viele Möglichkeiten… aber bis man da angekommen ist, stehen einem ja einige Jahre Studium bevor. Das bringt natürlich viel Arbeit mit sich. Kann ich trotzdem darauf hoffen, dass die Freude am Studentenleben nicht zu kurz kommt?

Sophia:
Na klar! Du wirst im Studium schnell merken, dass das Klima an unserem Institut sehr angenehm und persönlich ist. Du wirst keine anonyme Immatrikulationsnummer in einem Massenstudiengang sein. Stattdessen kannst du dich auf eine familiäre Lernatmosphäre in überschaubaren Seminargruppen und einen unkomplizierten und persönlichen Kontakt mit den Dozenten freuen, die gern individuell auf dich eingehen und über die Sprechzeiten hinaus ein offenes Ohr für deine Fragen und Anliegen haben. Und da alle vier Altertumswissenschaften in einem Gebäude vereint sind, besteht auch ein intensiver Zusammenhalt zwischen den Studenten, der sich in regelmäßigen gemeinsamen Unternehmungen und Feiern ausdrückt. So werden die „neuen“ Studierenden traditionell mit einer „Dachbodenfeier“ begrüßt, auf der man in einem einmaligen Ambiente – unter anderem umgeben von lebensgroßen Gipsabgüssen antiker Statuen – entspannt mit Kommilitonen, älteren Studenten und Dozenten ins Gespräch kommen kann. Daneben gibt es in regelmäßigen Abständen die Möglichkeit, an Exkursionen nach Italien oder in den Mittelmeerraum teilzunehmen – wenn du Griechisch mit Latein als Erstfach kombinierst, ist eine solche Exkursion sogar schon in deinem Studienprogramm enthalten! –, oder während einer Tagesfahrt interessante Museen in ganz Deutschland zu besuchen.
Und wer die neue Sprache nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch erleben und kreativ umsetzen möchte, für den sind die meist in studentischer Eigenregie organisierten und verwirklichten Theaterprojekte die richtige Adresse. In den letzten Jahren wurden sowohl klassische als auch selbstverfasste moderne Stücke eingeübt und aufgeführt – unter anderem sogar vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der Wissenschaften!

Theodor:
Das klingt ja vielversprechend! Bleibt nur noch eine unbeantwortete Frage, die mich umtreibt. Was bringt mir das Griechischstudium persönlich?

Sophia:
Zunächst einmal muss ich einmal mit einem weit verbreiteten Vorurteil aufräumen, das du auch am Beginn unseres Gesprächs angeführt hast: Altgriechisch ist bei Weitem keine tote Sprache! Im Gegenteil – es ist die einzige europäische Sprache, die hinsichtlich des verwendeten Alphabets, vieler Wörter und einiger grammatischer Erscheinungen ein Kontinuum von rund drei Jahrtausenden bis ins heute gesprochene Neugriechische hinein aufweist – und zugleich schon in der Antike durch eine faszinierende Lebendigkeit und Anpassung an die jeweilige Lebenswirklichkeit gekennzeichnet ist.
Wenn du dich auf die Feinheiten – und Schönheiten – der Sprache einlässt, wirst du schon bald ein besseres Gefühl für Sprache im Allgemeinen entwickeln, also auch für moderne Fremdsprachen und deine eigene Muttersprache. Mir fällt auf, dass ich inzwischen immer mehr darüber nachdenke, wie ich die deutsche Sprache verwende und ein größeres Verständnis für deren subtile Nuancen habe. Natürlich werden auch zahlreiche Fremdwörter und wissenschaftliche Termini kein Problem mehr für dich sein. Und du wirst merken, dass dir die griechische Sprache im Alltag überall begegnet. Denk´ nur an Berufsbezeichnungen wie „Bibliothekar“ oder „Apotheker“, Wörter wie „Theater“ und „Rhythmus“, „Idee“ und „Utopie“ – und auch im Schulalltag bist du auf Schritt und Tritt vom Griechischen umgeben, ganz gleich, ob du das „Gymnasium“ besuchst, die „Aula“ betrittst oder mithilfe deiner „pädagogisch“ ausgebildeten Lehrer Neues lernst…
Oder denk´ nur an viele unserer heutigen Namen – sogar „Theodor“ und „Sophia“ haben ja griechische Ursprünge! Und mal abgesehen von der Sprache, auch unsere heutige Kultur fußt in so vielen Belangen auf der der alten Griechen. Allein das politische Konzept der Demokratie ist ja nicht nur von der Bezeichnung, sondern auch vom Grundprinzip her ein griechisches und noch dazu eine der zentralen Wurzeln unserer europäischen Identität.
Kurzum, die westliche Zivilisation und viele ihrer Wissenschaften und ideellen Konzepte sind ohne die alten Griechen undenkbar. Denn auch zahlreiche bis heute aktuelle Theorien fanden ihren Ursprung bei griechischen Gelehrten wie Pythagoras, Archimedes oder Demokrit. Ganze Wissenschaftszweige wären ohne ihre griechischen Vorläufer in ihrer heutigen Ausprägung undenkbar – zum Beispiel die Medizin, die Biologie, die Physik, Mathematik und Geografie – aber auch die Geschichtsschreibung, die Philosophie oder die Theologie.
Aber die intensive Auseinandersetzung mit der griechischen Sprache und Literatur hat noch so viel mehr zu bieten – allem voran die Vermittlung zeitloser Werte, die gerade in einer zunehmend ökonomisierten und pluralisierten Welt von unverzichtbarer Bedeutung sind, Orientierungshilfen im immer ambivalenter und beliebiger erscheinenden Tagesgeschehen vermitteln und damit einen unentbehrlichen Beitrag zur Freiheit und Verantwortung, Individualität und Menschlichkeit des Einzelnen leisten.
Ich erinnere mich, in einem alten Buch einmal einen Satz gelesen zu haben, der die Sache in der Form eines drastischen Vergleichs auf den Punkt bringt: „Wenn wir Homer und Sophokles verlören, so wäre es jedem Gebildeten, als ob die Menschheit selbst ein Auge verloren hätte.“*

Theodor:
Das sollte jedem zu denken geben – und mich hast du wirklich neugierig gemacht! Jetzt erst einmal das Abitur – und dann ein Griechischstudium?!

* Anmerkung des Lehrstuhlinhabers: Sophia hat ein gutes Gedächtnis. Der Satz steht genau so bei Karl Friedrich Hermann, Culturgeschichte der Griechen und Römer, Bd. 1, Göttingen 1857, S. 6. – Hundert Jahre später erscheint er als Vorlage für eine griechische Stilübung in dem von Otto Schönberger herausgegebenen Übungsbuch der griechischen Sprache (Heidelberg 1957, S. 9). Denjenigen, die schon ein wenig Griechisch können, sei die von Schönberger vorgeschlagene Musterübersetzung ins Griechische nicht vorenthalten: Ὁμήρου δὲ καὶ Σοφοκλέους ἐστερημένοι οὐκ ἂν ἄλλως διετίθεντο οἱ σοφοὶ ἢ ἀπολομένου (ἐκκοπέντος) ἑτέρου τῶν τοῦ ἀνθρωπίνου γένους ὀφθαλμῶν.