“Wo Helm und Hose, Handschuh und die Lederstiefel sind.”
(Mann aus Eisen, Gerhard Gundermann, 1988)
Mitte Juli besuchten wir (Paula und Franz) die Gedenkstätte “Andreasstraße” in Erfurt. Auch wenn uns einige der „allgemeinen Themen“ insbesondere im Bereich der “Diktatur” nur zu bekannt vorkamen, rechtfertigt und erfordert das vielfältige Spektrum an Besucher*innen die Behandlung dieser. Der eigenen Bubble geschuldet, vergisst man leicht, dass es nicht allein geschichtsinteressierte Erwachsene sind, welche zu den Besucher*innen der „Andreasstraße“ zählen. Auch jüngere Altersgruppen (bspw. Schulklassen) oder Personen, welche bisher wenig oder keinen Kontakt zur Geschichte der DDR hatten, umfasst das Spektrum der Besucher*innen. Umso wertvoller scheinen mir Konzeptionen wie die des Raumes „Sag mir wo du stehst“. In zahlreichen Szenarien werden hier die Besucher*innen vor Entscheidungen innerhalb einer fremden Biografie gestellt. Nachdem sie diese getroffen haben, entscheidet sich der weitere Lebensweg der Figur (systemkonform und leicht oder rebellisch und schwer). Durch den Fokus auf die visuelle Vermittlung, wenig Text und die Möglichkeit selbst aktiv zu werden, mögen Berührungsängste mit dem Ort “Museum”, aber auch Sprachbarrieren fallen.
Dabei habe ich mich gefragt, inwiefern es sinnvoll ist, die Besucher*innen stets nur eine Entscheidung innerhalb einer Biografie fällen zu lassen. Würde eine Kette an möglichen Entscheidungen nicht mehrere Lebensbereiche innerhalb einer Biografie sichtbar werden lassen, in denen man mit dem System “DDR” in Konflikt kommen konnte? Auch dessen Omnipräsenz wäre somit anhand einer Biografie vielleicht einfacher zu verdeutlichen (wenn natürlich auch nicht in allen Lebensbereichen). Wohl noch wichtiger scheint mir dabei aber die begrenzte Relevanz einzelner Entscheidungen für die gesamte Biografie. Obgleich einzelne Entscheidungen weitreichende Folgen haben konnten, mussten diese weder zum systemkonformen, noch zum Leben im Widerstand führen. Seien es angeworbene IMs, die zuvor (und auch später) im Widerstand aktiv waren oder die uniformierten Diener des Staates, welche sich Befehlen verweigerten. All diese Beispiele zeigen, dass es mit einer Entscheidung nicht getan war. Es galt sich immer wieder zu entscheiden.
Zahlreiche DDR-Biografien, nicht nur die des Widerstandes (wenn denn überhaupt so eindeutig diesem zuzuordnen und durch diesen zu definieren), sind durch mehrere Entscheidungen gekennzeichnet. Die Entscheidungen zwischen Anpassungen/ Konformität und Widerstand müssen dabei keineswegs stets in eine Richtung weisen. Sie spiegeln neben pragmatischen Gründen auch innere (ideologische) Konflikte wider. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür dürfte der Liedermacher und Künstler Gerhard Gundermann sein.
Der 1955 in Weimar geborene Gerhard Gundermann zog 1967 mit seiner Familie nach Hoyerswerda (Bezirk Cottbus). Nach seinem Abitur (1973) studierte er im Rahmen einer Ausbildung zum Politoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) in Löbau an der Offiziershochschule der Landstreitkräfte “Ernst Thälmann” . Nachdem sich Gundermann weigerte ein Lied auf den damaligen Armeegeneral Heinz Hoffmann zu singen, wurde er exmatrikuliert. Fortan arbeitete er im Braunkohletagebau. Zuerst als Hilfsarbeiter und später als Maschinist (Abendschule seit 1976) und Baggerfahrer (ab 1978).
Ab 1976 wirkte Gundermann als Inoffizieller Mitarbeiter (Deckname “Grigori”) für das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Jahr darauf bewarb er sich um die Aufnahme in die SED. 1978 benannte sich der Singeklub Hoyerswerda, in dem Gundermann bereits seit 1971 Mitglied war und dessen Leitung er bis dahin übernommen hatte, in “Brigade Feuerstein” um. In selbiges Jahr fällt auch ein erstes Parteiverfahren gegen ihn (1979 umgewandelt in eine “Strenge Rüge”). In den frühen 80er-Jahren trat Gundermann mit der Brigade Feuerstein beim Anti-Atom-Camp der SDAJ und beim Liedersommer der FDJ auf. 1984 folgte der endgültige Ausschluss aus der SED sowie die Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Noch drei Jahre zuvor hatte Gundermann die Artur-Becker-Medaille in Bronze erhalten.
G. ist der Meinung, daß es in Parteibeschlüssen bei uns für “leitende Funktionäre der Partei” einer “bestimmten Ebene” (Politbüro) eine Art Heiligenschein gibt und eine Atmosphäre der Unfehlbarkeit erzeugt wird. Die führende Rolle ist nur da, um bei einigen Funktionären die Autorität, “die gar nicht da ist”, zu erhöhen. Sein Standpunkt ist, man muß es mit Marx halten und an allem zweifeln, da machen auch Beschlüsse der Partei keine Ausnahme. Gen. Gundermann akzeptiert nicht, daß Marx das bestimmt nicht gemeint hat, als er das sagte.
Kreisparteikontrollomission Spremberg, 1984 [1]
Damit ist Gen. Gundermann mit Mehrheitsbeschluß der APO-Mitglieder des Kohlebandbetriebes des Tagebaus Spreetal-Nordost aus den Reihen der SED ausgeschlossen.
SED-Grundorganisation, 1984 [1]
Aufgrund eines Materials, das von seinen Verfassern als “Fakten” ausgegeben wird, wurde ich durch APO-Beschluß aus der SED ausgeschlossen. Das Dokument der SED ist für mich Symbol der Zugehörigkeit zum organisierten internationalen Kampf des Proletariats um Revolution und Kommunismus. Da ich in diesem Kampf nie abseits stand, stehe und stehen werde, und zwar als Marxist, sehe ich keine Veranlassung, das Dokument abzugeben.
Gerhard Gundermann, 1984 [1]
Zwei Jahre nach seinem Parteiausschluss trat Gundermann erstmals als Solokünstler auf. 1988 trennte er sich von der Brigade Feuerstein. Es folgte ein Jahr später deren Auflösung. Gundermann selbst arbeitete in den folgenden Jahren mit zahlreichen Künstler*innen zusammen (u.a. “Oktoberklub” und “Silly”).
1990 trat Gerhard Gundermann erfolglos zu den Volkskammerwahlen für die “Vereinigte Linke” an. In den frühen 90er Jahren folgten weitere Projekte mit “Seilschaft” (Tourband), “Wilderer”, “Doppelkopp” und “Silly”. 1995 wurde schließlich bekannt, dass Gundermann als IM für das MfS tätig war. Zwar bedauerte Gundermann seine Tätigkeit für die Staatssicherheit nicht eher publik gemacht zu haben, doch verwehrte er sich gegen die Bezeichnung als “Täter”. 1996 folgte im Rahmen eines TV-Interviews auf die Frage, ob ihm seine Arbeit für das MfS “leid tue” die Aussage “Leid tun ist Kokolores.”
1998 starb Gerhard Gundermann in Spreetal mit 43 Jahren. Während seine Lieder heute weitestgehend unbekannt sind, thematisierten in den letzten Jahren einige Dokumentationen sowie der Film “Gundermann” sein Leben. Bereits 1982 erschien ein Porträt Gundermanns im DDR-Fernsehen (Regie: Frank Engel). Wenn auch krtisch zu betrachten, erlaubt die Dokumentation doch einige Einblicke in Arbeits- und Privatleben des Liedermachers – weshalb ich sie euch an dieser Stelle durchaus empfehlen kann.
PS: Ob und in welcher Form mehrere Entscheidungen innerhalb einer Biografie technisch überhaupt umgesetzt werden können, entzieht sich meiner Kenntnis. Falls nicht, hätte Gerhard Gundermann mit Sicherheit seine Freude am gescheiterten Vorschlag eines Theoretikers.
[1] Hans-Dieter Schütt (Hg.), Tankstellen für Verlierer. Gespräche mit Gerhard Gundermann – Eine Erinnerung, Berlin 2018, S. 9.