Die Bilanz des Mädchenhandels von Balder Olden
Seit ich lesen kann, betreibt der „Verein zur Verhinderung des Mädchenhandels“ eine mit fürstlichem Pomp und allem Komfort der Neuzeit ausgestattete Propaganda. Zu den Aufklärungsschriften und Aufklärungsromanen ist neuerdings der Film gekommen, und wer nicht Augen und Ohren direkt verschlossen hat, kann dank dieser Enthüllungstätigkeit von heut auf morgen Mädchenhändler werden.
Das Geschäft ist einfach: man baut eine schloßartige Villa in einem tiefen Park irgendwo an der Peripherie jeder beliebigen Großstadt. Dort läßt man sich unter der schlichten Firma eines Großindustriellen nieder, was niemals auffallen wird, denn wer fragt schon den Schloßbesitzer, wo seine Großindustrie liegt und worin sie besteht.
Man inseriert um eine Gesellschafterin oder ein Tippmädchen – wer je ein solches Inserat aufgegeben hat, weiß, daß am nächsten Tage Hunderte berückender und graziöser, unschuldig-dummer Mädchen sich vor der Tür drängen. Die Hübscheste sucht man aus, macht sie durch ein paar Wochen üppigsten Wohllebens zutraulich und eröffnet ihr eines Tages, man habe eine Auslandsreise zu machen, an der sie teilnehmen muß.
In Biarritz oder Nizza treffen zwei Dutzend solcher Transporte zusammen, zwei Dutzend blonder oder brauner Gesellschafterinnen, Privatsekretärinnen; man sortiert sie, macht Faktura und telegraphiert an seinen Agenten in Buenos Aires „zwölf Säcke Kaffee, zwölf Säcke Weizen unterwegs“.
Da keine Behörde in der Regel nach Pässen und dergleichen Dingen fragt, wird das Mädchen am praktischsten als Ehegattin des betreffenden Agenten ausgegeben. Fällt das einer von ihnen auf, durchschaut sie gar das Spiel und setzt sich zur Wehr – nun, es gibt ja in jedem besseren Hotel und auf den größeren Ueberseedampfern stets ein paar wattierte Folterkammern, in denen der Kaffee- oder Weizensack gefügiger gemacht wird. Auf dem Schiff findet ein so hübsches und elegantes Mädchen natürlich keine Gelegenheit, sich irgendeinem Menschen anzuvertrauen, die Einwanderungsbehörde von Brasilien oder Argentinien kennen keinen Verdacht, und eines Tages findet der Transport sich in den Höhlen des Lasters. In der Regel muß noch ein bißchen gefoltert werden, aber dann wird die Ware übernommen, und Preise rollen über den Tisch, neben denen die Spesen des Geschäfts zur Bagatelle werden. Man weiß ja, welche Unsummen auch eine widerwillige und hysterische Prostituierte da drüben verdient. Diese Einnahmen fließen jetzt dem Großhändler zu, sodaß für ihn auch der sensationelle Kaufpreis keine Rolle spielt.
In sein Schloß im Park kann der Agent jetzt nicht zurückkehren, denn vielleicht würde man ihn fragen, wo die hübsche Privatsekretärin geblieben ist. Das Schlößchen läßt man also verfallen und baut sich an der Peripherie einer anderen Großstadt ein anderes Schloß.
Seit ich lesen kann, kenne ich diesen Betrieb, als wenn ich selbst Mädchenhandel gelernt hätte. Aber merkwürdig, daß dieser üppige Kommerz nicht einmal zur Entdeckung geführt wird! Einen Prozeß gegen Mädchenhändler habe ich in dreißig Jahren unablässiger Zeitungslektüre nie gefunden.
Bis heute! Der erste beglaubigte Fall ist vor ein paar Wochen in Buenos Aires zur Kenntnis der Behörde gekommen.
Tatsächlich hat die vierundzwanzigjährige Polin Maria Zimmermann ein achtzehnjähriges polnisches Mädchen aus ihrer Heimat nach Buenos Aires verschleppt, in ein öffentliches Haus, zu dessen Bemannung sie selbst gehörte, eingeführt, und dort wurde das arme Kind mit Drohungen zur Prostitution gezwungen. Da es nur Polnisch sprach, vergingen fast drei Wochen voll Jammer, bis sie das Herz eines polnisch sprechenden Klienten bewegen konnte.
Am anderen Tag freilich saß die gesamte Bewohnerschaft jener Lasterhöhle, Monsieur, Madame und Marie Zimmermann, auf dem Kommissariat und wird unter fünfzehn Jahre Zuchthaus pro Kopf kaum davonkommen. Man kann dem emsigen Verein gegen Mädchenhandel, den Buch- und Filmfabriken, die unsere Phantasie so lebhaft und gewinnbringend durch ihre Propaganda kitzeln, zu diesem Fall gratulieren.
Aber ihrem gutgläubigen Publikum, soweit es von den Millionen, die der Mädchenhandel abwirft, geblendet ist, und die mit der Absicht umgehen, dieser Industrie näherzutreten, müßte der Seifensieder aufgeben.
Eine Geschäftsreise von Buenos Aires nach Warschau und zurück für Fräulein Zimmermann, die Kosten der Reise für ihr Opfer, fünfzehn Jahre Zuchthaus für die ganze Firma – das sind Spesen, die durch drei Wochen lange Prostituierung eines kleinen Durchschnittsmädchens doch kaum gedeckt werden. Zumal die Preise auf dem Gebiet im teueren Südamerika unglaublich niedrig sind. Denn der großen Nachfrage steht ein ungeheures Angebot freiwilliger Liebesproduzenten gegenüber, die sich fürs Brot außerordentlich viel mehr Mühe geben, als man von einem verschleppten und gefolterten Mädchen erwarten darf.
So schlecht kalkulieren kann man gar nicht ohne suggestive Beihilfe. Wenn ich mir alles nüchtern und zahlenmäßig überlege, komme ich von dem Gedanken nicht los: Maria Zimmermann und ihre Auftraggeber sind ein Opfer der Propaganda des „Vereins zur Verhinderung des Mädchenhandels“ geworden.
Das Tage-Buch, Heft 16, S. 630-632, 17.04.1926.
Kommentar:
Die Angst vor dem internationalen Mädchenhandel, auch „white slavery“ genannt, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein großes soziales Problem. Es wurden weltweit Gremien zur Bekämpfung gegründet, so auch in Deutschland das “Deutsche Nationalkomitee zur Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels” in 1899. Die Verschleppung von weißen jungen Mädchen nach vor allem Buenos Aires war in allen Medien großes Thema. Doch die heutige Forschung ist sich einig, dass es die „white slavery“ nicht gab und es sich um reine soziale Hysterie handelte. Gründe dafür gab es viele. Zum einen wird die steigende Globalisierung als Auslöser der Angst vor dem Fremden gesehen. Zum anderen wird als Grund ein grundlegender Sexismus genannt, welcher auch die Ablehnung der Sexarbeit als Profession beinhaltet. Besonders auffällig wird dieser Anti-Feminismus in der Literatur, die sich mit dem internationalen Mädchenhandel beschäftigt. So werden immer wieder junge Frauen beschrieben, die sich gegen klassische Rollengefüge entschieden haben und statt Hausfrau zu werden ihren Traumberuf erreichen wollten.