„Quellen und Methoden der historischen Bevölkerungsforschung (historische Demographie)“ von Rolf Gehrmann

1. Quellengattung

Da sich historische Demographie mit historischen Bevölkerungen, Familien und letzten Endes sogar mit Individuen befasst, könnte man zunächst annehmen, dass die Arten von Quellen, mit denen die historisch-demographische Forschung zu tun hat, kaum zu überschauen sind. Das ist aber nicht der Fall, wenn man das Kriterium der Quantifizierbarkeit zugrunde legt. Denn selbst wenn Aussagen beispielsweise zum Verhalten auf familiärer Ebene getroffen werden sollen, ergeben sie demographisch nur im Rahmen eines überprüfbaren statistischen Kontextes einen Sinn. Dieses statistische Element, das in den Hintergrund treten kann, wenn der Fokus aus einem bestimmten Grund gerade auf ein ungewöhnliches Verhalten gerichtet wird, bleibt bestimmend. Denn die historische Demographie versucht gerade, einerseits durch die Verbindung von Makro- und Mikroebene eine größere Tiefenschärfe zu erreichen als die klassische, relativ abstrakte Bevölkerungsgeschichte, andererseits aber mit sozialwissenschaftlichen Methoden nicht nur hermeneutisch nachvollziehbare, sondern auch im eigentlichen Sinne des Wortes berechenbare Ergebnisse zu erzielen.

Quantifizierbare Quellen können allerdings von verschiedener Dichte und Vollständigkeit sein, und die Anforderungen müssen dem historischen Zeitraum angepasst sein. So macht es für die nähere Vergangenheit keinen (bzw. für Deutschland schon seit 1874 wenig) Sinn, demographische Untersuchungen aufgrund von Kirchenbucheintragungen durchzuführen, während man wiederum für den Zeitraum vor dem Einsetzen der Kirchenbücher die Ansprüche reduzieren muss, da man nur auf fragmentarische vitalstatistische Daten zurückgreifen kann und versuchen muss, allein aus der Variation des Bevölkerungsstandes Schlüsse zu ziehen.

In einem engeren Sinne sind als „historisch-demographisch“ die Quellen zu bezeichnen, die auch die Grundlage der Demographie der Gegenwart bilden. Nach der Natur der Daten, die sie liefern können, lassen sie sich einteilen in:

  1. Quellen zur Bevölkerungsbewegung,
  2. Quellen zum Bevölkerungsstand,
  3. Quellen zur Bevölkerungsstruktur, einschließlich der Familien- und Haushaltsstruktur.

Wesentlich ist allerdings, wie gesagt, die Kombination dieser Daten, und das möglichst nicht nur auf der aggregativen (Makro-)Ebene, sondern auch auf der individuellen (Mikro-)Ebene. Während sich im Makrobereich letztlich nur statistische Zusammenhänge ergeben, können durch die Verknüpfung von Daten im Mikrobereich darüber hinaus differenziertere und konkretere Aussagen gemacht werden, die dann wiederum quantifizierbar sind. Das generative Verhalten wäre hier ein Beispiel.

In einem weiteren Sinne zieht die historische Bevölkerungsforschung aber nicht nur „demographische“, sondern auch „historische“ Quellen heran. Diese sind nicht immer und auf keinen Fall exklusiv mit statistischen Methoden zu bearbeiten, sie können aber doch sehr oft auch mit quantitativen Aussagen verbunden werden. Sie fallen sehr unterschiedlich aus und können hier nicht in ihrer Breite vorgestellt werden. Sehr wichtig für Fragen der sozialen Gliederung und damit unmittelbar dem genannten Bereich „c“ zuzuordnen, sind beispielsweise die Kataster und ähnliche Register, welche die Besitzverhältnisse dokumentieren. Ist die Fragestellung keine wirtschafts- und sozialgeschichtliche, sondern eine sozialanthropologische, sind Eigentumsbelege wie Notariatsakten auch daraufhin zu untersuchen, inwiefern bei Besitzübertragungen bestimmte Netzwerke zutage treten. Geht es um das generative Verhalten und Illegitimität, sind die entsprechenden Protokolle der kirchlichen und weltlichen Instanzen bzw. Gerichtsbarkeiten heranzuziehen. Für Fragen der Alphabetisierung wiederum gibt es manchmal direkte Nachweise (die schwedischen Husförhörslängder oder im 19. Jahrhundert auch Rekrutierungsstatistiken), meist aber nur indirekte (Unterschriftsleistungen). Alle diese Quellen sind von Region zu Region unterschiedlich, aber untereinander durchaus vergleichbar.

An dieser Stelle sollen nur die „demographischen“ Quellen näher vorgestellt werden.  An aggregativen Daten stehen zur Verfügung:

a) Zahlenreihen, wie sie bereits in protostatistischer Zeit, das heißt vor der Gründung statistischer Ämter, von staatlichen und kirchlichen Behörden erhoben worden sind. Wenn diese Datensammlung konsequent betrieben wurde, konnte eine erstaunliche Vollständigkeit erreicht werden. Als Beispiel sind hier die Geborenen- und Gestorbenenlisten zu nennen, wie sie für Brandenburg-Preußen seit 1683 existieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden darüber hinaus die Sterbefälle in Schweden und dann auch in Preußen und in anderen Staaten nach Altersgruppen differenziert, wobei die skandinavischen Daten am kontinuierlichsten erhalten sind und sich auf einen stabilen politischen Rahmen beziehen. Statistiken zur Auswanderung finden sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

b) Angaben über den Stand der gesamten Bevölkerung. Volkszählungen, deren Ergebnisse publiziert oder zumindest archivalisch aufbewahrt wurden, sind, abgesehen von okkasionellen Erhebungen, wie zum Beispiel bei anstehenden Versorgungsproblemen, ebenfalls nicht vor der Mitte des 18. Jahrhunderts zu erwarten. Auch hier kann Schweden als bestes Beispiel genannt werden, aber auch in Preußen nahmen die sogenannten „Historischen Tabellen“ zu diesem Zeitpunkt die Form von Volkszählungen an. Standard wurden Volkszählungen in fast allen Staaten erst in napoleonischer Zeit, so auch in England (1801). Eine besondere Schwierigkeit ist die Einschätzung der Genauigkeit der Daten, von der in Verbindung mit der Vitalstatistik unter anderem eine Einschätzung der Migrationen abhängt. Erst ab den 1840er Jahren wurden die Volkszählungen von den statistischen Ämtern so eingerichtet, dass die Zahlen ohne Vorbehalt als zuverlässig angesehen werden können. Registerzählungen (Auswertungen vorhandener Unterlagen auf lokaler Ebene) waren weniger genau als Protokollzählungen (Befragung der vorgeladenen Haushaltsvorstände) und diese waren wiederum tendenziell nicht so vollständig wie Naturalzählungen (von Haus zu Haus), sodass dieses letztere Verfahren mit der belgischen Zählung von 1846 definitiv zum Standard wurde.

c) Strukturdaten sind nur mit einem besonderen Aufwand zu erheben. Sie stehen deshalb erst nach dem Entstehen von statistischen Ämtern und mit dem Einsetzen der statistischen Publikationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in genügendem Umfang zur Verfügung. Allerdings wurden auch vorher schon gelegentlich demographische Merkmale, wie die Altersstruktur (meist allerdings nur sehr grob) oder die Anzahl der stehenden Ehen, zusammengestellt.

Aus Individualdaten können theoretisch aggregierte Daten generiert werden, praktisch ist das in historisch-demographischen Untersuchungen allerdings bestenfalls in Form einer Stichprobe möglich. Dabei unterliegt die Ziehung der Stichprobe durch die Lückenhaftigkeit des Materials vielfältigen Beschränkungen. Allerdings ist ein Stichprobenverfahren nicht der einzige mögliche Untersuchungsansatz, denn die untersuchten „Samples“  können auch als Einheiten sui generis verstanden werden. Das bedeutet, dass ein kleineres Gebiet nicht allein unter dem Kriterium der Repräsentativität für eine größere Region interessant sein muss, sondern seine Untersuchung auch schon aufgrund der dort zu verfolgenden Prozesse seine Berechtigung haben kann.

Vom Forscher auf der Grundlage von einzelnen Einträgen in serieller Form selbst zu aggregierende Reihen können erstellt werden aus (analog zur Buchstabenfolge der oben genannten Datenarten):

  1. Kirchenbuchauszählungen, Verzeichnissen von Entlassungen aus dem Untertanenverband,
  2. Schätzungen aufgrund von Behausungsziffern, Steuerlisten und anderen fiskalischen Quellen,
  3. Urlisten von Volkszählungen, in denen die Informationen zu Stand und Alter enthalten sind und aus denen die Haushaltsstruktur abgeleitet werden kann.

Eine andere Qualität haben Familienrekonstitutionen, aus denen sich die Kernfamilie ergibt und durch welche die Eckdaten des Lebenslaufs eines Individuums in Beziehung zueinander gebracht werden können. Auf dieser Grundlage können Fertilitäts- und Mortalitätsberechnungen für historische Zeiträume durchgeführt werden. Deshalb sind sie lange Zeit ein privilegiertes Werkzeug der historischen Demographie gewesen. Das Prinzip ist einfach: Man führt die Informationen aus den Geburts-, Heirats-, Sterbe- und gegebenenfalls auch Konfirmationsregistern zusammen. In der Praxis ist das allerdings mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden. Deshalb sind in Deutschland auch gern die Ortssippenbücher genutzt worden, die nichts weiter als gedruckte Familienrekonstitutionen sind.

Im Zusammenhang mit den Methoden ist auf verschiedene Quellenarten im Einzelnen zurückzukommen.

2. Methoden

Die folgenden Ausführungen entsprechen meinem Beitrag im Handbuch der Demographie, der an erster Stelle unter den Literaturhinweisen erwähnt ist (Originalveröffentlichung erschienen bei www.springer.com).

2.1 Die Herausbildung historisch-demographischer Methoden

Sieht man einmal von den in der Aufklärung eine gewisse Blüte erlangenden spekulativen Betrachtungen über die Entwicklung der Bevölkerungszahl seit der Vorgeschichte und der Antike ab, so datiert die im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit bevölkerungsgeschichtlichen Fragen erst vom ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Interesse, der in diesem Bereich aktiven jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie zielte dabei vor allem auf die Verwendung überlieferter Daten im Kontext der Wirtschaftsgeschichte, während der methodische Beitrag der wenigen Historiker, welche die Basis an frühen demographischen Angaben zu erweitern suchten, sich auf einfache Hochrechnungen und Schätzungen auf der Grundlage partieller Informationen beschränkte. Im Wesentlichen besteht diese Methode aus nichts anderem als aus der Umrechnung von Zahlen von kleineren auf größere Gebiete oder von Haushaltszahlen auf Bevölkerungsangaben. Beides erfordert eine genaue Analyse des historischen Kontexts und führt doch immer zu anfechtbaren Ergebnissen. Zu Vergleichszwecken kann aber auch heute in der historischen Forschung manchmal nicht auf die Annahme einer bestimmten Haushalts- oder Familiengröße (beispielsweise 4,5) verzichtet werden, wobei allerdings zumindest zwischen Stadt und Land unter Berücksichtigung der vorherrschenden Haushaltsformen und der Eigenarten der herangezogenen Quellen unterschieden werden sollte.

Einem genuin historischen Interesse auf dem Hintergrund familien- und heimatkundlicher Forschungen verdankt die Familienrekonstitutionsmethode ihre Entstehung und starke Verbreitung. Als Manifestation einer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung haben Genealogien in Familien des Adels und des höheren Bürgertums eine lange Tradition, die sich bis in die Gegenwart im Gotha und in den gedruckten Geschlechterbüchern dokumentiert. Der entscheidende Schritt darüber hinaus wurde in Deutschland 1907 vollzogen, indem unter sozialgeschichtlichen Fragestellungen der gesamte familiengeschichtliche Informationsgehalt der Kirchenbücher unter Einbeziehung der früh verstorbenen Kinder und der kinderlosen Ehen im Zusammenhang ausgewertet wurde. Die heute angewandten wissenschaftlichen Methoden der Auswertung von Kirchenbuchinformationen stammen allerdings fast ausnahmslos aus dem französischen und dem englischen Sprachraum.

Auf diesem Feld wirkte Louis Henry vom Institut National d´Etudes Démographiques bahnbrechend. Er erweckte in den 1950er Jahren die Aufmerksamkeit der Demographen an den Kirchenbüchern und lieferte Richtlinien zu ihrer Auswertung, so dass sich viele der im Folgenden angesprochenen Verfahren und Kennziffern bereits in seinen Handbüchern finden. In der internationalen Forschung der 1960er Jahre kam ein gestiegenes Interesse an der umfassenden Problematik des Fertilitätsrückgangs und seiner auslösenden Mechanismen hinzu. Auf diesem Hintergrund hatte die Suche nach verfeinerten Indizes vor allem eine genauere Analyse der Fertilität zum Ziel, besonders in der Arbeit des Office of Population Research in Princeton unter der Leitung von Ansley Coale. In der Anwendung auf die in der Regel kleinen Populationen der Familienrekonstitutionsstudien haben die dort ausgearbeiteten Verfahren indes letztlich nicht dieselbe Bedeutung erlangt wie älteren und robusteren Indizes. Vorbildliches in der Erprobung, der auf die Daten aus deutschen Ortssippenbüchern anwendbaren Methoden, hat John Knodel geleistet.

Als vorläufig letzte Etappe der Entwicklung von Methoden zur Analyse von Bevölkerungsvorgängen in der sogenannten vorstatistischen Zeit ist die Bearbeitung von größeren Stichproben mit Hilfe von Modelltafeln anzusehen, wobei aus solchen Aggregaten ebenso wie aus länger zurückreichenden regionalen und nationalen Zahlenreihen der Geborenen und Gestorbenen in erster Linie die Anteile von Mortalitäts- und Fertilitätsveränderungen beziehungsweise des Heiratsverhaltens genauer bestimmt werden sollen. Prägend ist in diesem Bereich die Arbeit E. A. Wrigleys und Roger Schofields über die englische Bevölkerungsentwicklung seit dem 16. Jahrhundert mit der sich daran knüpfenden methodischen Diskussion über Rückwärts- und Vorwärtsprojektionen geworden. Mit der Hinwendung zu größeren Aggregaten hat die Erforschung der Mortalität in den 1980er Jahren erneut eine stärkere Bedeutung erlangt, und zugleich hat die Theorie stabiler Bevölkerungen Eingang in die Praxis der historischen Bevölkerungsforschung gefunden.

2.2 Fertilitätsberechnungen auf der Grundlage von Mikrodaten, insbesondere Kirchenbuchmaterial

Wenn im Folgenden von Kirchenbuchmaterial die Rede ist, so betrifft das im wörtlichen Sinne mit wenigen Ausnahmen die gesamte Vitalstatistik in allen deutschen Staaten bis hin zur Einrichtung der Standesämter in Preußen 1874 und kurz darauf im Reich. Die Auswirkungen der Französischen Revolution waren in diesem Bereich begrenzt, und so waren die Zivilstandsregister in Deutschland zunächst eine temporäre Erscheinung geblieben. Lediglich zwei Hansestädte führten sie nach den Befreiungskriegen weiter. Nicht vergessen werden sollte auch, dass eine Registrierung der Bevölkerungsbewegung von Minderheiten außerhalb der großen christlichen Kirchen existierte, auf welche die Bezeichnung Kirchenbücher ebenfalls nicht zutrifft, vor allem bei der jüdischen Religionsgemeinschaft. In methodischer Hinsicht ist indes die Arbeit mit den Kirchenbüchern paradigmatisch, denn diese bestehen wie alle anderen Quellen dieser Art aus individuellen Einträgen von Geburten, Heiraten und Sterbefällen.

Im Zentrum der Fertilitätsanalyse steht die Berechnung der altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten, aus denen sich weitere Maße ableiten. Sie stellen die Anzahl der Geburten (nicht die der Geborenen) pro Jahr bezogen auf eine Frau dar. Eine Einschränkung anhand des Kirchenbuchmaterials ist, dass nur die Risikopopulation der verheirateten Frauen bestimmt werden kann. Auszuschließen sind also alle Geburten vor der Ehe oder nach dem Tod des Gatten. Illegitimität kann aus dem gleichen Grund nicht als Fruchtbarkeit, sondern nur als Anteil der unehelichen an allen Geburten angegeben werden. Selbst unter dieser Einschränkung muss für ländliche Kirchspiele mit einer Unterschätzung gerechnet werden, wenn sich beispielsweise für die werdenden ledigen Mütter die Möglichkeit des rechtzeitigen Wegzugs in die Stadt bot. Für den hier primär interessierenden Quotienten FR (Geburten / Frauenjahre) gilt definitorisch:

a) Geburten: Die Totgeburten sind in die Berechnung einzuschließen. Das ergibt sich schon aus der Notwendigkeit des interregionalen Vergleichs zwischen katholischen und protestantischen Gebieten mit ihrer historisch unterschiedlichen Einstellung zur Nottaufe. Sie wurde unter der Geburt häufig auch Kindern zuteil, die nach heutigen Definitionen als Totgeburten bezeichnet worden wären. Die von Henry vorgeschlagene Methode, diese als „ondoyés décédés“ bezeichnete Gruppe völlig aus dem Zähler der FR auszuschließen, um dann anschließend die errechneten Werte um 3 % zu korrigieren, ist für die Arbeit mit gedruckten Familienrekonstitutionen (Ortssippenbücher) nicht sinnvoll, da dort erfahrungsgemäß die ohnehin in den Kirchenbüchern oft nicht eindeutige Kennzeichnung von Totgeburten gelegentlich übersehen oder in unklarer Weise übertragen wird. Eine Korrektur würde deshalb eine bereits zu große Anzahl von vermeintlich Lebendgeborenen in ungerechtfertigter Weise erhöhen. Nach Maßgabe der Datenqualität kann weiterhin auf minimale Korrekturen verzichtet werden, die sich aus einer wirklichen Unterregistrierung von Totgeburten und Geburten aus temporär migrierenden Familien ergeben.

b) ) Frauenjahre: Maßgeblich ist hier die in einer Fünfjahresaltersgruppe in einer ehelichen Verbindung verbrachte Zeit. Bei weniger als acht Monate nach der Eheschließung geborenen und damit als vorehelich konzipiert anzusehenden Kindern kann in dem betreffenden Fall die Anzahl der Frauenjahre um die Differenz zum durchschnittlichen protogenetischen Intervall (Abstand zwischen der Heirat und der ersten Geburt) bei ehelichen Konzeptionen erhöht werden, also um etwa ein Jahr. Bisher ist dieses Verfahren aber nur in einigen Studien angewandt worden, es kann somit nicht als international üblich bezeichnet werden. Das gilt sinngemäß auch für die neun Monate, die nach dem Ende der ehelichen Verbindung durch den Tod des Mannes hinzuzufügen wären.

Da die verwendeten Daten biografischer Natur sind und keinen bestimmten Momentzustand widerspiegeln wie Fertilitätsraten auf der Grundlage von Volkszählungsaltersgruppen, ergibt sich die Notwendigkeit einer genauen Abgrenzung des Zeitraums der Anwesenheit in der Risikopopulation der im Einzugsbereich der Kirche lebenden Ehepaare. Als Ende einer solchen Verbindung kam in den hier interessierenden Jahrhunderten in der Regel nur das Datum der Verwitwung in Frage. Um Verzerrungen bei der Berechnung der FR zu vermeiden, wird zudem auf die Einbeziehung von weniger als fünf Jahre bestehenden Ehen verzichtet. Für die Zuverlässigkeit der Angaben ist es zudem von Bedeutung, dass das Geburtsdatum der Frau und damit ihr Alter bei der Geburt exakt bekannt sind.

Aus den alters- oder ehedauerspezifischen FR sind weitere Fertilitätsmaße abzuleiten, die durch zusätzliche einfache Standardberechnungen der Familienrekonstitutionsanalyse zu ergänzen sind:

c) Gesamtfruchtbarkeit TMFR (Total Marital Fertility Rate): Summe der sechs FR zwischen 20 und 50 Jahren, multipliziert mit 5. Daraus ergibt sich die theoretische Nachkommenschaft einer während dieser 30 Jahre verheirateten Frau. Die bei den Hutterern gemessene TMFR von 10,94 gilt als oberer Richtwert, wenngleich in historischen Populationen Süddeutschlands höhere Werte ermittelt worden sind.

d) Relation zwischen der Summe der FR über 30 Jahre und der TMFR: Diese Verhältniszahl kann als Hinweis auf eine Geburtenbeschränkung durch eine geringere Geburtenhäufigkeit im höheren Alter der Frau interpretiert werden, wenn sie unter 0,46 fällt. Liegt eine solche Kontrolle nicht vor, liegen die Werte um 50 %, in kontrazeptiven Populationen dagegen unter 25 %, manchmal sogar unter 15 %.

e) Geburtenabstände: Sie stellen im Prinzip den Kehrwert der FR zwischen der ersten und der letzten Geburt dar und zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine auch für den Laien leicht zu vermittelnde Größe zur Bezeichnung der Fruchtbarkeit sind. Eine TMFR von 8 entspricht also bei einem Durchschnittsalter bei der letzten Geburt von 40 Jahren einem Geburtenabstand von 30 Monaten, um ein für Norddeutschland im 18. Jahrhundert typisches Beispiel zu nennen. Bei einer TMFR von 10 beträgt dieser dagegen nur noch 2 Jahre, so historisch in Teilen Süddeutschlands. Eine Gruppierung der Familien nach den tatsächlich gemessenen Abständen zwischen den Geburten oder nach sozialen Kriterien kann Hinweise auf bestimmte Fertilitätsmuster geben. Allerdings sind gerade solche Ergebnisse nur schwer interpretierbar. Ohnehin sind eindeutige Beweise für eine willentliche Beeinflussung der Anzahl der Nachkommen nur dann zu erbringen, wenn eine Verschiebung des Fertilitätsmusters mit einer Verringerung der FR im höherem Alter oder bei längerer Ehedauer zu belegen ist, nicht auf dem Umweg über Geburtenabstände, die zwar unter den heute in den europäischen Ländern vorherrschenden physiologischen Bedingungen unnatürlich lang erscheinen, deshalb allein aber noch nicht als Beweis für willentliche Geburtenkontrolle dienen können. Allerdings wird in der neueren Forschungsdiskussion versucht, aus der zu engen Begrenzung des Blicks auf „Stopping“ herauszukommen und erneut nach Spuren von willentlicher Geburtenkontrolle im „Spacing“ zu suchen. Kulturelle Praktiken und insbesondere das Stillverhalten mit seinen fertilitätsmindernden Effekten, herrschten in diesem Bereich aber vor, so dass sich eine erhebliche Bandbreite von „natürlichen“ Intervallen ergibt. Insofern kann eine apriorische Einteilung der Geburtenintervalle in geburtenbeschränkende einerseits und natürliche andererseits als vom Ansatz her verfehlt angesehen werden. Hingegen kann die Intervallanalyse im Zusammenhang mit der Säuglingssterblichkeit als Hilfsmittel zur Einschätzung der Stilldauer benutzt werden (s.u.).

f) ALB: Mittelwert des Alters der Frau bei der letzten Geburt, zu Vergleichszwecken manchmal auch der besonders zu kennzeichnende Median. Zur Berechnung werden nur die fruchtbaren beiderseitigen Erstehen herangezogen, die vor dem 30. Geburtstag der Frau geschlossen wurden und mindestens bis zum Ende ihres 45. Lebensjahrs Bestand hatten. Damit geht nur eine Teilmenge der sogenannten vollständigen Ehen in die Berechnung ein, was gelegentlich zu bedenklich geringen Grundgesamtheiten führt. Das Maß ALB verbindet dafür den Vorteil einer leichten Berechenbarkeit mit dem einer guten Interpretierbarkeit bei Veränderungen, die in ihrer Signifikanz beispielsweise mit dem t-Test überprüft werden können. Wie auch sonst bei diachronen historisch-demographischen Untersuchungen genügt bei einer ausreichenden Grundgesamtheit in der Regel der Trend der Wertefolge als Beleg.

g) ̅m: Mittleres Gebäralter. Für die üblichen Auswertungen von Familienrekonstitutionen ist dieses Maß nicht von Bedeutung, wohl aber im Zusammenhang mit weiterführenden Berechnungen (s.u.). Es handelt sich um einen einfachen Mittelwert. Falls der Zugriff auf die Rohdaten (Alter der Mutter für alle Geburten) versperrt ist, kann`m aus den Fertilitätsraten abgeleitet werden. Dazu sind die FR mit dem Mittelpunkt des Intervalls (z.B. 22,5) der entsprechenden Altersgruppe (z.B. 20-24) zu multiplizieren und anschließend aufzuaddieren. Das Ergebnis ist durch die Summe der FR zu teilen.

h) Brutto- und Nettoreproduktionsraten: Sie können in ihrer ursprünglichen Bedeutung direkt aus der weiblichen Nachkommenschaft verheirateter Frauen errechnet werden, sodass im Gegensatz zur Ableitung aus den Fertilitätsraten der mögliche Unterschied zwischen realer und rechnerischer Reproduktion nicht diskutiert zu werden braucht. Allerdings geben Familienrekonstitutionsstudien nur ungenau über den Anteil Lediger Auskunft, sodass hier ein Element der Schätzung hinzukommt. Trotzdem ergibt sich eine brauchbare Berechnung der Bruttoreproduktionsziffer aus der grundlegenden Gleichung: GRR = Mädchengeburten / Generation verheirateter + lediger Frauen. Für die Nettoreproduktion sind entsprechend die Zahlen der überlebenden Mädchen im Generationenabstand einzusetzen.

Weit verbreitet sind des Weiteren zwei von Coale und Trussell entworfene spezifische Fruchtbarkeitsmaße. Sie beruhen auf der Voraussetzung, dass sich natürliche Fertilität in einem bestimmten Verhältnis zwischen den Fertilitätsraten im niedrigeren und im höheren Alter widerspiegelt und somit in Modelltafeln dargestellt werden kann:

i) M: Höhe des Fertilitätsniveaus, ausgedrückt als Abweichung von dem als 1 gesetzten Referenzmuster. Grundsätzlich ergeben sich daraus keine anderen Erkenntnisse als aus dem Vergleich der TMFR. Als Parameter für die Berechnung von m wird der Wert M für die Altersgruppe 20-24 Jahre genommen. Da durch diese Beschränkung Ungenauigkeiten entstehen, wird eine parallele Optimierung von M und m vorgeschlagen.

j) m: Numerischer Ausdruck des Umfangs der Geburtenbeschränkung in einer bestimmten Population mit beobachteten Fertilitätsraten (ra), berechnet aus der Tafel natürlicher Fertilität nach den Angaben Louis Henrys (na) sowie einem Anpassungsfaktor auf der Grundlage von 43 UN-Datenreihen (va):

ma = ln (ra / (M na)) / va.

Statt m als den Mittelwert der einzelnen ma zu berechnen, stehen verschiedene Verfahren zur Findung eines genaueren Werts zur Verfügung. Die Bestimmung der Signifikanz des Ergebnisses setzt die Verfügbarkeit separater Daten von Geburten und Frauenjahren voraus. In kontrazeptiven Bevölkerungen liegt der m-Wert über 1, bei Abwesenheit einer altersspezifischen Geburtenbeschränkung schwankt er um 0. Knodel interpretiert in seiner Studie über deutsche Dörfer einen Wert von über 0,3 – nach der oben angesprochenen Korrektur für voreheliche Konzeptionen – als Anzeichen für eine um sich greifende Geburtenbeschränkung. Eine genaue Grenze kann es hierfür indes nicht geben, denn der Konfidenzintervall (95 %-Niveau) nimmt bei einer Unterteilung der begrenzten Datenmenge von Familienrekonstitutionen nach Teilzeiträumen rasch zu. Wenig sensibel scheint das Maß m zudem auf das frühe Auftreten von Geburtenplanung bei kleineren Gruppen zu reagieren. Es wiederholt sich hier die Erkenntnis, dass der Trend in einer Zeitreihe von Werten besser interpretierbar ist als der synchrone Vergleich zwischen unterschiedlichen Populationen oder mit vordefinierten Mustern. Insofern sind durch die Verwendung robusterer Werte wie ALB oder von Zeitreihen altersspezifischer FR ähnliche Ergebnisse zu erzielen.

„Natürliche“ Fertilitätsraten und Faktor v als Grundlage der Maße m und Ig

 

15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 TMFR
Referenzmuster 411 460 431 396 321 167 24 9,00
Hutterer 550 502 447 406 222 61 10,94
v 0 -0,279 -0,667 -1,042 -1,414 -1,670

3. Bestimmung der Mortalität anhand von Kirchenbuchmaterial

Obwohl die besondere Stärke der Familienrekonstitutionsmethode in der Bestimmung der Fertilität vergangener Populationen besteht, kann aus den biografischen Daten der Familienrekonstitutionen auch eine Anzahl von Kennziffern zur Mortalität bis hin zu vollständigen Sterbetafeln gewonnen werden. Das setzt allerdings größere Datensätze voraus als sie im Rahmen einer Studie über ein einzelnes Kirchspiel in der Regel zur Verfügung stehen. Diese Einschränkung betrifft nicht die Analyse der Säuglings- und Kindersterblichkeit. Da dort zugleich der Rückbezug auf das familiäre Umfeld hergestellt werden kann, gehören gerade diese Auswertungen zum Standardrepertoire historisch-demographischer Parochialstudien.

Die Berechnung der Säuglingssterblichkeit (Gestorbene im 1. Lebensjahr / Geborene) ist bei einer entsprechenden Datenqualität weitgehend unproblematisch, sofern sie die Totgeburten einschließt. Zur Umgehung der bereits angesprochenen konfessionellen Unterschiede in der Registrierung der Totgeburten und zu Vergleichszwecken wird nicht selten diese historische Variante der Definition der Säuglingssterblichkeit gewählt. Aus grundsätzlichen Erwägungen ist indes eine stärkere Annäherung an die heute übliche Berechnungsweise auf der Grundlage der Lebendgeborenen anzustreben. Einen Anhaltspunkt dazu bildet die Verteilung der verstorbenen Kinder, die am Kalendertag der Geburt verzeichnet wurden, auf die beiden in Frage kommenden Kategorien der Lebend- und Totgeborenen. Dieses Verhältnis ist im 18. und 19. Jahrhundert als stabil anzunehmen. Nach relativ zuverlässigen Daten aus dem 19. Jahrhundert können 75% – 80% der am Tage der Geburt Verstorbenen als Totgeburten betrachtet werden. Diese zur Berücksichtigung einer leichten Unterregistrierung im 18. Jahrhundert auf 3:1 festgesetzte Proportion zwischen Tot- und Lebendgeborenen liegt der umfangreichsten deutschen Sterbetafelsammlung auf der Grundlage von Kirchenbüchern zugrunde. Sie ist deshalb zumindest als Ergänzung zu einer alleinigen Berechnung der Säuglingssterblichkeit unter Einschluss der Totgeburten zu empfehlen.

Als besonders wichtig für die Interpretation von Hinweisen auf die Einflussfaktoren der Säuglingssterblichkeit hat sich zudem die Untergliederung der Sterbefälle im ersten Lebensjahr in Neugeborenensterblichkeit (0-28 Tage) sowie in das weitere erste und das zweite Lebenshalbjahr erwiesen, was auch bei kleineren Datensätzen durchführbar ist. Zur Überprüfung der Vollständigkeit der Registrierung kann es zudem erforderlich sein, innerhalb der Neugeborenensterblichkeit weitere Spezifizierungen vorzunehmen.

Insgesamt wenig ergiebig sind bisher die Versuche geblieben, aus dem Verlauf der Sterblichkeit innerhalb des ersten Lebensjahrs Schlüsse auf das Stillverhalten zu ziehen. Diese biometrische Analyse kann entweder unter der Verwendung von kumulierten Monatswerten grafisch durchgeführt werden, wobei die Abszisse in einer besonderen Form skaliert ist (log3(n+1)), oder aber durch die Berechnung einer Steigungsrate, wofür wiederum nur die kumulierten Werte am Ende des 1., 6. und 12. Monats benötigt werden. Klarer sind die Hinweise auf die durchschnittliche Stilldauer, die sich aus der Differenz zwischen dem Geburtenabstand nach einem frühen Tod eines Säuglings (spätestens bis zum Ende des 1. Monats) und nach einer überlebenden Geburt ergeben. Diesem Verfahren liegt die Annahme zugrunde, dass die durch das Stillen hervorgerufene temporäre Unfruchtbarkeit (Amenorrhöe) –  eine an die Stilldauer gekoppelte sexuelle Enthaltsamkeit wird in Europa demnach als wenig wahrscheinlich anzusehen –  diesen Unterschied zumindest für einen Vergleich zwischen verschiedenen Regionen hinreichend genau determiniert. Um den Einfluss einer willentlichen Geburtenplanung zu minimieren, werden nur die ersten beiden Geburtenabstände in einer Familie zur Berechnung herangezogen. Das letzte Intervall ist grundsätzlich auszuschließen.

Sofern nur in einem sehr geringen Maße Kinder aus der Beobachtung verschwinden, ist eine Berechnung der Kindersterblichkeit ebenfalls in Rückbezug auf die Geborenen einer Generation möglich. Grundsätzlich empfiehlt es sich, nach dem Prinzip der Sterbetafel den Quotienten im Verhältnis zur Risikopopulation zu berechnen. Dazu ist die jeweilige Grundgesamtheit um die in der vorherigen Altersklasse Gestorbenen zu verringern. Da es sich um echte Generationen (Kohorten) handelt, ist das Ergebnis die Sterbewahrscheinlichkeit in der Alterklasse von x bis x+n (nqx). Anwendbar ist diese Methode ohne Korrekturen um Abwanderungsverluste für die 1-10jährigen und selbst bis zum 15. Lebensjahr, nach Maßgabe der Datenauswahl und unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse im Zusammenhang mit dem Eintreten in das Arbeitsleben.

Spätestens in der Altersgruppe der Heranwachsenden verlieren sich für viele Personen die Spuren im biografisch strukturierten Kirchenbuchmaterial. Erst bei den verheirateten Personen ist erneut von einer relativ stabilen Anwesenheit in der Gemeinde auszugehen. Schwieriger gestaltet sich die Definition der Risikopopulation außerhalb dieser ortsansässigen Ehen, sofern ergänzende Quellen zu den Kirchenbüchern fehlen. Bei Ledigen ist dann in der Regel erst der Sterbeeintrag ein Beleg für Sesshaftigkeit, da diese Gruppe in den Heirats- und Geburtsregistern nicht dokumentiert ist. Über die Sterblichkeit von Migranten schließlich lassen sich mit keiner der hier vorzustellenden Methoden Aussagen treffen. Sie berücksichtigen auch nicht das Risiko einer Verzerrung der Ergebnisse durch Rückwanderungen im Alter – eine in vorindustrieller Zeit bei genügend großen Kirchspielgruppen durchaus vertretbare Ungenauigkeit. Um trotz dieser Schwierigkeiten und Einschränkungen die Mortalität auch in höheren Altersgruppen verfolgen zu können, sind zwei Lösungswege vorschlagen worden. Der erste besteht in einer separaten Sterbetafel für diese Alter, der zweite in einer kontinuierlichen Tafel unter Berücksichtung der Abwanderung.

a) Die Erstellung zweier getrennter Sterbetafeln für das Kindes- und für das Erwachsenenalter schlägt Henry vor. Die Erste ist in der oben beschriebenen Weise zu berechnen, mit der Geburt als Beginn der Beobachtung und der Annahme einer Anwesenheit bei Anwesenheit der Eltern. Für die Zweite stellt sich das Problem des Verweilens in der Risikopopulation ungleich komplexer dar, sodass die Zahlen für die sogenannten Inkremente und Dekremente nicht eindeutig bestimmbar sind. Für die Altersgruppe der 15-25jährigen muss auf die Anwendung einer solchen Methode völlig verzichtet werden. Henry wählt deshalb als Population die am Ort geborenen Männer und Frauen, die zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr heiraten. Da das Ende der Beobachtung unabhängig von der Sterblichkeit angesetzt werden muss, kann die Auswahl nicht auf einen bestimmten Ehetypen beschränkt werden, so dass auch Verbindungen mit Ehepartnern aufgenommen werden müssen, bei denen Angaben zu den Todesdaten fehlen. Daraus folgen in solchen Fällen zwei verschiedene Annahmen für den Zeitpunkt des Todes, die als minimales und als maximales Alter definiert werden. Nach Maßgabe der Quellen wird das Alter zum Zeitpunkt des letzten Auftretens als das minimale gesetzt, das Alter bei der ersten Erwähnung des Ablebens als das maximale. Entsprechend ist eine Sterbetafeln mit der höchsten und eine mit der geringsten angenommenen Sterblichkeit zu konstruieren. Personen mit unbekanntem Schicksal werden von Henry als bis zum Alter von 60 Jahren lebend in die zweite Tafel aufgenommen. Auf der Grundlage zweier so errechneter Reihen von Sterbewahrscheinlichkeiten zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr kann mit Hilfe von Modellsterbetafeln die Bandbreite der Mortalität eingegrenzt werden. Als wahrscheinliches Mortalitätsmuster ergibt sich dann eine mittlere Tafel, in dem von Henry angeführten Beispiel das UN-Sterbetafelniveau 15 als Mittel der Niveaus 10 und 20.

b) Eine andere Annäherung an das wahrscheinlichste Mortalitätsmuster ist, ohne den Umweg über zwei von der Realität mutmaßlich etwa gleich weit entfernte Muster, möglich. Eine genügende Größe des Datensatzes vorausgesetzt, bieten sich an Stelle der von Henry ausgewählten Ehepaare die Generationen von Kindern aus den Ehen ortsansässiger Familien als eine andere vom Mortalitätsrisiko unabhängig definierte Population an. Deren Biographien sind bis zum Tode oder bis zur Abwanderung zu verfolgen. Große Sorgfalt muss bei der Erstellung solcher integraler Sterbetafeln auf die Definition des Abwanderungszeitpunkts gelegt werden, der bei Verheirateten ohne Sterbeeintrag entweder kurz nach der Heirat oder nach der Geburt des letzten Kindes im Untersuchungsgebiet anzunehmen ist. In den Berliner Sterbetafeln, zu deren Berechnung diese Methode angewandt wurde, ist hierfür ein Zeitraum von einem Jahr nach dem letzten Ereignis angesetzt, was der Hälfte von kurzen Geburtenabständen entspricht. Lediglich schätzen lässt sich der Abwanderungszeitpunkt für auswärts oder gar nicht heiratende Personen, bei denen die Anwesenheit nur für das Kindesalter belegt ist. In großen Datensätzen mit einer Vielzahl ausgewerteter Quellen sinkt deren Anteil unter 3%, sodass davon keine erheblichen Unsicherheiten ausgehen.

Bei großen Datensätzen mit einer dichten Folge von Sterbetafeln ist auch die Umrechnung der ursprünglichen Generationentafeln in Periodentafeln möglich, sodass die Mortalitätsverhältnisse bezogen auf einen Kalenderzeitraum dargestellt werden können. Dieser lässt sich auf eine Dekade mit einer Ungenauigkeit von ± 5 Jahre eingrenzen, was für die Analyse historischer Entwicklungen in der Regel ausreichend ist. Dazu müssen die für die Generationen berechneten wirklichen Sterbewahrscheinlichkeiten (hier fünfjährige 5qx) in Zehnjahresblöcken entlang der Zeitachse verschoben werden (Translation). Anschließend lassen sich erneut die üblichen aus Sterbetafeln zu gewinnenden Kennziffern berechnen, also auch die mittlere Lebenserwartung beim Eintritt in die betreffende Altersklasse. Als mittlere Lebenserwartung bei der Geburt (e0) stellt sie den kürzesten Ausdruck der Sterblichkeitsverhältnisse dar. Da die Sterbewahrscheinlichkeiten außer im frühen Kindesalter angesichts der begrenzten Datenmenge bei Kirchenbuchauswertungen und der Ungenauigkeit der Bestimmung des Abwanderungszeitpunkts nicht genauer als für 5-Jahres-Altersgruppen zu berechnen sind, erfolgt die Ableitung der Sterbetafelmaße aus den 5qx nach dem Verfahren Reeds und Merrells für „abridged tables“.

Einer Rekonstruktion der Alterspyramide der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt ist durch die Rückrechnung aus einer umfangreichen Stichprobe zu den Sterbealtern vom I.N.E.D. durchgeführt worden. Diesem Verfahren liegt die Annahme einer geschlossenen Bevölkerung zugrunde, in der die geringen Außenwanderungen nicht berücksichtigt zu werden brauchen. Eine Alterspyramide ergibt sich unter diesen Bedingungen aus einem Querschnitt durch die verschiedenen Generationen, die auf der Grundlage der bekannten Angaben zum Geburtsjahr (definiert als Todesjahr minus Alter) und zum Todesjahr rekonstruiert werden können. Im Fall der französischen Daten aus dem 18. Jahrhundert treten Differenzen zwischen der Anzahl der nach einer Rückrechnung aus den Gestorbenenzahlen zu erwartenden Geburten und den tatsächlich registrierten Taufen auf. Dieses Defizit wird mit einer Unterregistrierung von Sterbefällen im Kindesalter erklärt. Für die Einschätzung der Sterbewahrscheinlichkeiten ist die aus einer solchen Diagnose abzuleitende Korrektur nicht unproblematisch, so dass der Nutzen dieses Verfahrens begrenzt ist.

4. Erweiterung der demographischen Analyse durch historisches Volkszählungsmaterial

Um die auf der Grundlage von Familienrekonstitutionen berechneten Fertilitätsraten als Gesamtfertilität einer bestimmten Bevölkerung ausdrücken zu können, ist vereinzelt der für das European Fertility Project in Princeton entwickelte Index Ig  verwendet worden. Das ist nur unter Verwendung eines fiktiven Altersaufbaus der Bevölkerung (für Deutschland wie im Jahre 1871 angenommen) möglich, sodass dem Ergebnis kein höherer Aussagewert zukommen kann als der direkten Relation zwischen der beobachteten TMFR und der TMFR der Hutterer. Als komprimierte Information über das gesamte Fertilitätsniveau einer Population gut geeignet sind die Princeton-Indizes, sobald sich anhand von historischem Volkszählungsmaterial die Altersverteilung tatsächlich bestimmen lässt. In solchen Fällen sind auch genauere Auswertungen zur Mortalität möglich. Bei einer entsprechenden Qualität der Sterberegister oder daraus gewonnener differenzierter Statistiken der Behörden ist dann punktuell auch ohne die Massenauswertung von individuellen Daten die Erstellung von Sterbetafeln möglich.

Eine unabdingbare Voraussetzung für die differenzierte Berechnung der Gesamtfruchtbarkeit ist eine Unterscheidung der Geburten nach ehelichen und unehelichen, sowie der Frauen im gebärfähigen Alter nach Fünfjahresaltersgruppen und nach dem Zivilstand. Die Princeton-Indizes werden auf dieser Grundlage als eine Relation zwischen der beobachteten Geburtenzahl und der erwarteten berechnet, wie sie bei Huttererfrauen unter den Bedingungen der gegebenen Bevölkerungsstruktur eingetreten wäre. Für das am häufigsten verwandte Maß Ig (Index der ehelichen Fruchtbarkeit) bedeutet das eine Division der Anzahl der legitimen Geburten (Bl) durch die Summe der für die sieben Altersgruppen (15-49 im Fünfjahresintervall i) getrennt errechneten Produkte aus der FR der Hutterer (Fi) und der Anzahl der verheirateten Frauen (mi):

Analog werden If (Index der gesamten Fruchtbarkeit) und Ih (Index der unehelichen Fruchtbarkeit) errechnet. In der Regel wird der Durchschnitt der Geburtenzahl von mehreren Jahren um die Volkszählung zugrunde gelegt, um zufällige Schwankungen zu begrenzen. Bei einer weniger differenzierten Datengrundlage kann statt der Princeton-Indizes auch eine allgemeine Fruchtbarkeitsziffer (FZ) als Quotient aus den Lebendgeborenen und der Anzahl der Frauen zwischen 15 und 45 oder 50 Jahren errechnet werden; sie lässt sich gegebenenfalls noch für die verheirateten Frauen spezifizieren. Zeitreihen führen hier bei einem sich üblicherweise nur wenig ändernden Heiratsverhalten zu den gleichen Schlüssen wie die Verwendung der Princeton-Indizes für die allgemeine und die eheliche Fertilität.

Altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeiten (qx) können aus einer Altersverteilung der Sterbefälle und einer entsprechenden Aufstellung für die Bevölkerung nach dem üblichen Verfahren über die Sterbeziffern (mx) errechnet werden. Da zum einen die Altersangaben in den Urlisten historischer Volkszählungen der Attraktion runder Zahlen, einer Überschätzung hoher Alter und manchmal auch einer geschlechtsspezifischen Unterschätzung in bestimmten Altersgruppen unterliegen und zum anderen in zeitgenössischen Auswertungen ohnehin nur grobe Altersklassen angegeben sind –  hinzu kommt noch die Praxis der Angabe von angefangenen statt von vollendeten Jahren –, lässt sich nur mit fünf- oder gar zehnjährigen Intervallen arbeiten. Dementsprechend kommen die oben erwähnten besonderen Umrechnungsformeln für abgekürzte Sterbetafeln zum Tragen. Zum Vergleich zwischen verschiedenen kleineren Populationen sind auch die so errechneten 5q0 oft nicht signifikant unterscheidbar oder aufgrund der Quellenlage nicht hinreichend interpretationsfähig. Als komprimiertes Maß für Sterblichkeitsunterschiede kann in solchen Fällen über die mittlere Lebenserwartung hinaus die standardisierte Sterbeziffer mit Gewinn herangezogen werden. Die dazu verwandte Bezugsgröße (Standard) einer Altersverteilung ist beliebig. Die standardisierte Sterbeziffer leitet sich aus der erwarteten Anzahl der Sterbefälle ab (Produkt aus der Sterbeziffer (mx), der beobachteten Population und der Anzahl der Lebenden in der zum Standard erhobenen Vergleichspopulation). Diese absoluten Zahlen sind für alle Altersklassen zu berechnen und anschließend zu addieren. Wie bei der Berechnung einer gewöhnlichen Sterbeziffer ist dann die Summe der (hier hypothetisch) Gestorbenen durch die Gesamtzahl der Lebenden (hier in der Standardpopulation) zu dividieren.

Wenn sich kein direkter Zugang zur Berechnung des Heiratsalters (x) durch die Auswertung der Kirchenbücher ergibt, können diese Angaben für die Erstheiraten recht zuverlässig aus einem entsprechend differenzierten Volkszählungsmaterial oder durch die Auswertung von Seelenlisten mit Angaben über das Alter und den Zivilstand erschlossen werden. Diese Methode ist von Hajnal beschrieben worden. Sie erfordert zunächst die Berechnung der Ledigenquote in Prozent pro Fünfjahresaltersgruppe zwischen 15 und 55 Jahren und des Mittelwerts (z) der beiden Altersgruppenquoten zwischen 45 und 55. Dann werden (1.) die einzelnen Prozentwerte bis 50 Jahre (ya) aufsummiert, mit 5 multipliziert und (2.) die Summe um 1500 für die Alterjahre bis 15 erhöht. Von der Summe wird (3.) der mit dem Faktor 50 multiplizierte Mittelwert z subtrahiert und (4.) in einem letzten Schritt das Ergebnis durch die Differenz zwischen 100 und z dividiert:

Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, dass auch frühneuzeitliche Zählungen bereits oftmals so genau oder zumindest so gleichbleibend ungenau waren, dass sie in Verbindung mit der Vitalstatistik eine Einschätzung der Nettomigration ermöglichen. Dieser Wert ergibt sich aus dem Vergleich der Bevölkerungszunahme zwischen zwei Zählungen und dem Saldo der Geborenen und Gestorbenen, nach einer eindeutigen Zuordnung der Totgeburten. In der Regel erreichten die Methoden der Erhebung der Vitalstatistik allerdings zu einem früheren Zeitpunkt einen hohen Grad an Zuverlässigkeit als die Einwohnerzählungen, bei denen die Verfahren zudem naturgemäß stärker variierten. Diese Tatsache machen sich Korrekturverfahren zu historischen Volkszählungsergebnissen zunutze. Treten in den Statistiken abrupt Nettozuwanderungen auf, so kann dies auf eine Verbesserung im Zählverfahren zurückzuführen sein. Für den Zeitraum zwischen 1816 und 1840 treten solche scheinbaren Wanderungsgewinne in einigen preußischen Provinzen auf. Geglättete Migrationsbilanzen stellen in diesem Fall eine Möglichkeit dar, die älteren Einwohnerzahlen nach oben zu korrigieren. Das hat auch einen gewissen Einfluss auf die Bevölkerungsgröße Deutschlands im genannten Zeitraum.

Ein weiteres wichtiges Maß stellt schließlich die jährliche Zuwachsrate (r) der Bevölkerung dar, die zwischen zwei weiter auseinanderliegenden Einwohnerzahlen (P) auf der Basis des natürlichen Logarithmus errechnet werden sollte:

r = ln(Pb/Pa) / (b-a).

5. Anwendung von Erkenntnissen über stabile Bevölkerungen

Nicht im Bereich der Kirchenbuchauswertungen, sondern auf der Ebene der Arbeit mit regionalen oder nationalen Datensätzen angesiedelt ist das Problem der Rekonstruktion der bestimmenden Kräfte der Bevölkerungsbewegung auf der Grundlage unvollständiger oder ungenügend differenzierter Rohdaten. Zeitreihen dieser Art entstehen aus Stichproben einer genügenden Anzahl von Kirchenbuchauszählungen, oder sie verdanken ihre Existenz der Umsicht und Sorgfalt der zeitgenössischen Behörden.

In der historischen Bevölkerungsforschung sind erst in jüngster Zeit die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Theorie der stabilen Bevölkerungen erkannt worden, die im Wesentlichen bereits von Lotka ausformuliert worden ist. Den Kern bildet der mathematische Beweis, dass der Altersaufbau einer Bevölkerung unter dem Einfluss einer konstanten Fertilität und Mortalität (asymptotisch) stabil ist (Ergodizität). Es handelt sich dabei zunächst um den Entwurf eines Modells, dem beobachtete Bevölkerungen nie vollständig entsprechen. Nur um den Preis eines gewissen Verlusts an Authentizität ist aber eine mathematische Definition von Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen demographischen Variablen zu erhalten. Als ein Resultat der praktischen Umsetzung der Theorie ist die Verwendung von Modellsterbetafeln zu nennen. Für die historische Arbeit exemplarisch geworden und deshalb hier näher zu betrachten ist die darauf fußende Rückberechnung der englischen Bevölkerung durch Wrigley und Schofield, der als Datengrundlage lediglich lange Reihen der einfachen Geborenen- und Gestorbenenzahlen in Verbindung mit einer Volkszählung und einer Sterbetafel aus dem 19. Jahrhundert zur Verfügung stehen. Mit Hilfe der Methode der Rückprojektion (back projection) wird daraus die englische Bevölkerungsentwicklung ab 1541 rekonstruiert. Es versteht sich von selbst, dass dazu einige Parameter nur geschätzt werden können.

Im Vorfeld bestimmen Wrigley und Schofield die Geburtenüberschussziffer aus dem Quotienten aus Geburten und Sterbefällen, wobei die Sterbeziffer für diesen Zweck als konstant angenommen wird. In seiner allgemeinen Form gibt dieser Quotient auch unabhängig von der Rückprojektion im Vergleich zwischen verschiedenen Gebieten Hinweise auf unterschiedliche Zuwachsraten. Umfangreiche Berechnungen dieser Art stellte bereits Süßmilch an. Um aus der Geburtenüberschussziffer die allgemeine Bevölkerungszunahme abzuleiten, müssen allerdings weitere Angaben zum Umfang der Migrationen herangezogen werden.

Die eigentliche Arbeit mit Modellen beginnt mit der Erstellung eines Satzes von Sterbetafeln (im Falle der englischen Bevölkerungsrekonstruktion basierend auf dem Modell „Nord“ und der Farrschen Sterbetafel) aus den vorliegenden Daten zum 19. Jahrhundert. Aus diesem Pool werden dann nach Maßgabe des allgemeinen Mortalitätsniveaus alle Tafeln entnommen, die auf die Bevölkerung seit dem 16. Jahrhundert anzulegen sind. In Fünfjahresschritten und in mehreren Durchgängen werden nun die Einwohnerzahl und der Altersaufbau für die fiktiven Zensusjahre ermittelt. Damit ist auch die Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter festgelegt. Um daraus wiederum die Bruttoreproduktionsrate (gross reproduction rate, GRR) abzuleiten, wird unter Annahme eines festen mittleren Gebäralters (für England 32 Jahre) die Anzahl der beobachteten Geburten durch die Anzahl der nach einer Modellfertilitätstafel bei einer GRR von 1 zu erwartenden Geburtenzahl dividiert. Da auch die Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum mittleren Gebäralter (p (̅m)) aus einer Modelltafel abzuleiten ist, folgt daraus in Verbindung mit der GRR die Nettoreproduktionsrate

und – für England bei einer Annahme eines mittleren Generationenabstands (T) von 31,5 – die intrinsische Zuwachsrate der stabilen Bevölkerung

r = ln NRR / T.

Das große Gewicht der Modelle, die einfachen Serien von Geburten und Sterbefällen gleichsam übergestülpt werden, hat zu der Anregung geführt, doch gleich von einer fiktiven Ausgangsbevölkerung auszugehen und daraus die weitere Entwicklung nach vorn zu projizieren (inverse projection). Bestechend ist bei dieser Vorgehensweise nicht nur der im Vergleich zum Projekt Wrigley/Schofields minimale Aufwand an Berechnungen, sondern auch die elegante Art des Umgehens von Schwierigkeiten und Fehlerquellen des Rückprojektionsverfahrens. Vom Standpunkt der historischen Genauigkeit wird an der inverse projection vor allem die willkürliche Setzung der Alterspyramide der Ausgangsbevölkerung kritisiert. Mit den Worten des Demographen Ron D. Lees lässt die Ergodizität aber die Eingangsstruktur vergessen, während die Rückprojektion sie unter dem Anspruch der Genauigkeit letztlich gleichfalls nur erfindet. Tatsächlich ergeben sich mit der Vorwärtsprojektion nützliche Einschätzungen der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung, die mit Hilfe einfacher Computerprogramme in die Reichweite eines Einzelforschers außerhalb von Großprojekten gerückt werden. Vorausgesetzt ist allerdings immer die Verfügbarkeit vitalstatischer Reihen, sofern eine historische Arbeit beabsichtigt ist und nicht lediglich die Erstellung von Hypothesen.

Falls eine hinreichend genaue Aufgliederung der Sterbefälle (D) nach dem Alter vorliegt, bietet sich ein weiterer Lösungsweg für die zentrale Frage des Verhältnisses von Bruttoreproduktion und Sterblichkeit in historischen Bevölkerungen an. Er umgeht einen neuralgischen Punkt der Modellsterbetafeln, die invariable Beziehung zwischen den Sterbewahrscheinlichkeiten in den einzelnen Altersklassen. Der Ansatz basiert auf dem Nachweis Bourgeois-Pichats, dass sich aus unvollständigen Daten zu realen Bevölkerungen Ziffern zur Sterblichkeitsentwicklung in sehr guter Näherung direkt ableiten lassen (Konzept der semistabilen Bevölkerung). Der wichtigste Schritt dahin ist die Ersetzung der unbekannten intrinsischen Zuwachsrate (r) durch die beobachtete reale. Diese Setzung ist nach Bourgeois-Pichat möglich unter der Bedingung einer wenig variablen Fertilität, wie sie vor dem breiten Einsetzen der Kontrazeption vorherrschte. Unter dieser Annahme und unter der Bedingung, dass die Methode nicht auf die Kindersterblichkeit oder unkritisch auf Sonderfälle, wie isoliert betrachtete Städte mit einer starken Zuwanderung, Anwendung findet, lässt sich die Überlebenskurve aus der Altersverteilung der Gestorbenen ableiten, und aus dieser wiederum können die anderen Sterbetafelfunktionen gewonnen werden. Letztlich reduziert sich die Formel zur Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten (q) für die Alter ab 15 Jahre auf:

Die Werte der gesamten Kindersterblichkeit bis zum 15. Geburtstag sind dagegen wie oben erwähnt in der Form einer Generationentafel (degressiv von den Geburten des gegebenen Zeitraums) zu errechnen.

Die Ergebnisse lassen sich an einigen historischen Sterbetafeln überprüfen. Das Verfahren ermöglicht es demnach durchaus, signifikante Veränderungen der Sterbewahrscheinlichkeiten (> 10 %) mit großer Sicherheit auch bei einem gewissen Umfang von Migrationen in den mittleren Altersgruppen zu erkennen. Hier dient es aber in erster Linie dazu, eine Beziehung zwischen p (`m ) und GRR herzustellen. Aufgrund der starken Abhängigkeit der Sterbewahrscheinlichkeiten von der als intrinsisch gesetzten Zuwachsrate sind Beobachtungszeiträume vorzuziehen, deren Länge eine gewisse Stabilität der Geburtenüberschussziffer garantiert. In der Praxis ergeben sich bereits für Fünfjahresabschnitte verwendbare Ergebnisse auf Provinzebene. Die Verwendung der beobachteten Zuwachsrate als Ersatz für die intrinsische ermöglicht auch eine Einschätzung der Reproduktion. Grundlegend für deren Berechnung ist hier die schon erwähnte Beziehung r = lnNRR / T, wobei der mittlere Generationenabstand in stabilen Bevölkerungen (T) eng mit dem beobachteten (`m ) verknüpft ist. Aus NRR = p (`m ) * GRR folgt in Verbindung mit der vorangegangenen Definition von r:

GRR = erT  / p (`m ).

Die Ersetzung der intrinsischen Zuwachsrate durch die Geburtenüberschussziffer bringt eine gewisse Irrtumswahrscheinlichkeit mit sich. In der englischen Reihe (nach Wrigley/Schofield) liegt die Abweichung für r im Durchschnitt der Jahre 1741-1840 bei 7 %. Für p (`m ) und GRR halbiert sich diese Fehlermarge. Da sich zudem selbst für das Deutschen Reich 1881/90 und 1891/1900 eine brauchbare Schätzung der GRR mit einer Ungenauigkeit von nur 4,6 % bzw. 4,8 % ergibt, kann die hier entworfene GRR-Formel als ein nützliches Instrument bei der Arbeit mit historischen Daten angesehen werden. Auf diese Weise sind die Fertilität (GRR) und die Mortalität ( p (`m ) ) anhand des gegebenen Quellenmaterials – also ohne Volkszählungsdaten mit verwertbaren Altersangaben – mit einer Genauigkeit berechenbar, die dem Vergleich mit der Rückprojektionsmethode standhält.

Im Vergleich mit den Ergebnissen der Rückprojektion ist noch eine letzte Bemerkung angebracht. Probleme, wie die Vernachlässigung des Einflusses einer Mortalitätsveränderung im gebärfähigen Alter auf die wirkliche Bruttoreproduktion, können bei der hier vorgestellten Methode nicht auftreten, denn GRR ist dort als die Summe der effektiven Fertilität der lebenden und überlebenden Frauen definiert. So ist es zunächst nicht weiter verwunderlich, dass eine Ableitung der GRR aus den von der Mortalität im gebärfähigen Alter abstrahierenden Fertilitätsraten demgegenüber systematisch höhere Werte ergibt. Dieser Effekt wird in der Rekonstruktion der englischen Bevölkerungsgeschichte zum Teil abgefangen, indem die aus den Fertilitätsraten der Parochialstudien errechneten Bruttoreproduktionsziffern nach unten korrigiert werden. Bei sehr jungen Heiratsaltern steigen diese Abweichungen allerdings überproportional an. Das hat zur Folge, dass das von Wrigley/Schofield angewandte Verfahren der GRR-Berechnung tendenziell auch den Einfluss eines sinkenden Heiratsalters auf die Zuwachsrate überschätzt.

Da eine relativ geringfügige Veränderung der Mortalitätsmuster bereits für einzelne Zeitabschnitte zu unterschiedlichen Aussagen über die allgemeine Entwicklungstendenz führen kann, kann demgegenüber nur die Notwendigkeit einer exakten empirischen Bestimmung der Mortalitätsverhältnisse betont werden. Aufgrund der Komplementarität von GRR und p (`m ) hat die Wahl der Messmethoden also einen unmittelbaren Einfluss auf die Einschätzung des Verhältnisses zwischen Reproduktion und Mortalität. Da die Bestimmung des Anteils dieser beiden Faktoren von entscheidender Bedeutung für die Erforschung der Ursachen der starken Bevölkerungszunahme im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts bleibt, ist diese Diskussion nicht allein von methodischem Interesse.

 

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