Ist die Ökonomie eine Wissenschaft?

Darum, ob die Ökonomie eine Wissenschaft sei, streiten sich schon immer die Geister. So akademisch diese Frage erscheint, so wichtig kann sie in der Praxis sein – es ist nun mal so, dass man in unserer Gesellschaft als Wissenschaftler eine Art Sonderstatus genießt. In Deutschland, wo man immer wieder auf Klingelschildern „Dr.“ oder „Prof. Dr. Dr.“ sieht und Minister gestürzt werden, weil sie des Prestige wegen um jeden Preis einen Doktortitel haben wollten, merkt man dies besonders deutlich. Aber auch aus rein „akademischem“ Interesse ist die Frage nach dem Wissenschaftsstatus der Ökonomie durchaus spannend – zumal man sich bei ihrer Beantwortung klar machen muss, was eigentlich Wissenschaft ist und was die Ökonomie ausmacht. Beides ist bei Weitem nicht trivial.

Mit der Frage, was Wissenschaft ist, befasst sich die Wissenschaftstheorie. Sie ist eine Teildisziplin der Philosophie und widmet sich der normativen Frage, was das sog. „Demarkationskriterium“ zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft ist (sie ist damit zu unterscheiden von der Wissenschaftsgeschichte, die die Frage zu beantworten sucht, wieso Wissenschaft sich so entwickelt, wie sie es historisch tut). Die meisten Menschen sind sich einig, dass Physik eine Wissenschaft ist, Astrologie hingegen keine. Warum aber?

Den Grundstein für das moderne Verständnis von Wissenschaft legte der Österreicher Karl Raimund Popper ab den 1930er Jahren. Seine Antwort auf die Frage nach dem Demarkationskriterium war einfach: eine wissenschaftliche Theorie ist eine solche, die empirische Beobachtungen benennt, welche sie widerlegen würden – der sog. Falsifikationismus. Laut Popper kann man eine Theorie oder Hypothese nie bestätigen – man kann sie nur widerlegen. Ist eine Theorie widerlegbar, ist sie wissenschaftlich. Je mehr Fälle sie benennt, die sie widerlegen würden, desto wissenschaftlicher ist sie. Über die Jahre wurde die Popper’sche Wissenschaftstheorie weiterentwickelt und verfeinert (v. a. durch Imre Lakatos in seiner Theorie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme), der Falsifikationismus bleibt aber im Grunde das weiterhin gültige Kriterium der Wissenschaftlichkeit – obgleich es nicht immer ernstzunehmende Strömungen gibt, die ihn ablehnen (hier ist vor allem der Wissenschaftsanarchismus des Paul Feyerabend zu nennen). Gemäß der Popper’schen Wissenschaftstheorie bezeichnen wir in der Regel die meisten Bereiche der Physik als Wissenschaft, denn man kann physikalische Theorien widerlegen – vide das Durcheinander, das scheinbar „zu schnelle“ Neutrinos vor ein paar Jahren verursacht haben (die sich dann doch als Messfehler, nicht als eine Widerlegung der Einstein’schen Relativitätstheorie herausstellten). Dahingegen ist die Wissenschaftlichkeit der String-Theorie höchst umstritten, weil man sie kaum empirischen Tests unterziehen kann.

Eine in der Wissenschaftstheorie seit Popper kontrovers diskutierte Frage ist, ob die Sozialwissenschaften denn tatsächlich Wissenschaften sind. Eine recht häufig anzutreffende Antwort ist ein knappes „Nein!“ Popper selbst war eher der Meinung, dass es innerhalb der Sozialwissenschaften eine Art Kontinuum gibt – manche Teile seien wissenschaftlich (seiner Meinung nach v. a. die Ökonomie), andere weniger (Soziologie). Lakatos hingegen bezeichnete die meisten Sozialwissenschaften als „degenerierend“ – sein Begriff dafür, dass ein Forschungsprogramm immer mehr Wissenschaftlichkeit einbüßt.

Fragt man die Ökonomen selbst, was Ökonomie ausmacht, bekommt man überraschenderweise(?) sehr unterschiedliche Antworten. Die Klassiker beispielsweise tendierten zum sog. Apriorismus, der von Vertretern der Österreichischen Schule (allen voran Carl Menger) besonders deutlich explizit gemacht wurde – die Ökonomie basiere auf apriorischen Erkenntnissen über das Wesen des Menschen, die man durch Introspektion, d. h. die Betrachtung seiner Selbst, erlangen könne. Auf diesen apriorischen Erkenntnissen basierend könne man durch die Anwendung von Logik weitere „ökonomische Gesetze“ deduzieren. Diese ließen sich nicht durch empirische Beobachtung umstürzen, denn sie seien „wahr“ a priori. Man kann viel Gutes über die Österreichische Schule sagen, aber der Apriorismus gehört nicht zu ihren Stärken.

Eine andere Gruppe von Ökonomen, zunächst die Deutsche Historische Schule, später die alte Institutionenökonomik (hier v. a. Thorstein Veblen) und ihre Nachfolger, legt(e) einen sehr großen Wert auf die Sammlung empirischer Daten und ihre Interpretation. Diese Gruppe lehnt die Idee von ahistorischen „ökonomischen Gesetz(mäßigkeit)en“ jeglicher Art ab. Damit ist auch sie nicht wirklich zugänglich für das Popper’sche Kriterium – denn dieses setzt voraus, dass bestimmte Zusammenhänge, beschrieben durch Theorien, halbwegs stabiler Natur sind. Die historisch geprägten Denkschulen in der Ökonomie lehnen Prognosen aber ab, weil ihrer Meinung nach die soziale Wirklichkeit nicht die nötige temporale Stabilität aufweist.

Nun zu der seit ca. 100 Jahren dominanten Denkschule der neoklassischen Ökonomie. Viele Neoklassiker deklarieren sich als Popperianer und halten rhetorisch den Falsifikationismus hoch. Manche von ihnen gehen damit so weit, in den sog. Instrumentalismus zu verfallen, d. h. die Überzeugung, dass das einzige Kriterium der Güte einer Theorie darin besteht, ob sie treffende Vorhersagen machen kann (womit Extrapolationen plötzlich den Status erklärender wissenschaftlicher Theorien bekämen). Das klassische Beispiel hierfür liefert der enorm einflussreiche und nicht minder kontroverse Beitrag Milton Friedmans zur Methodology of Positive Economics (1953). Das Problem mit der Begeisterung der Ökonomen für Popper liegt zuvorderst darin, dass sie vor allem rhetorischer Natur ist – sieht man sich ihren Umgang mit eigentlichen Theorien an und wie sie auf empirische Widerlegungen reagieren (bzw., ob die Theorien überhaupt widerlegbar sind), erkennt man oft eine implizite Tendenz zum Apriorismus.

Aus diesem Überblick dürfte schon mal erkennbar sein, dass man kaum sagen kann, dass die Ökonomie eine Wissenschaft ist – man kann dies höchstens über konkrete Theorien sagen, ggf. über einzelne Denkschulen. Bleiben wir also bei der Neoklassischen Ökonomie im weitesten Sinne.

Das interessante an ihr ist, dass sie ursprünglich in einer sehr starken Anlehnung an die Physik aufgebaut wurde (siehe das Buch More Heat Than Light von Philip Mirowski). Die neoklassischen Ökonomen der ersten Stunde (Léon Walras, Francis Ysidro Edgeworth, Alfred Marshall, Cecil Arthur Pigou…) wollten unbedingt zeigen, dass ihre Ökonomie eine richtige Wissenschaft sei. Dies führte nicht nur dazu, dass die Wirtschaftswissenschaft plötzlich eine sehr starke Mathematisierung erfuhr – manche Modelle wurden schlicht und einfach von der Physik abgekupfert, wie bspw. die Theorie optimaler Steuerung, die in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und der Wohlfahrtsökonomik eine große Rolle spielt (interessanterweise scheinen die Neoklassiker dabei die Thermodynamik vergessen zu haben, so zumindest die Kritik seitens der Ökologischen Ökonomik). Dieser Drang zur mathematischen Exaktheit führte mit der Zeit zu allerlei Absurdidäten – die Allgemeine Gleichgewichtstheorie ist wohl das prägnanteste Beispiel. Sie basiert auf so hoher Mathematik, dass es manchmal heißt, man bräuchte einen Doktortitel in Mathematik, um sie wirklich nachvollziehen zu können. Gleichwohl sind ihre zentralen Ergebnisse aufgrund der notwendigen Annahmen so abstrakt, dass sie kaum Relevanz für die reale Welt zeitigen.

Hat all diese Orientierung an der Physik dazu geführt, dass die Ökonomie wissenschaftlicher wurde? Das ist zu bezweifeln. Wie bereits angemerkt, tendieren Ökonomen dazu, Falsifikationismus zu predigen, in der Praxis aber eher den Apriorismus zu leben. Andererseits wurden gerade in letzter Zeit Rufe nach mehr Empirie in der Ökonomie lauter – experimentelle Ökonomik, Verhaltensökonomik, empirische Makroökonomik sind Beispiele von relativ neuen Forschungsfeldern, in denen ökonomische Theorien getestet werden. Ein Problem jedoch bleibt die Komplexität sozialer Phänomene, mit denen die Ökonomie, wie die anderen Sozialwissenschaften, klarkommen muss – die meisten „ökonomischen Gesetze“ gelten bestenfalls „in der Tendenz“ oder ceteris paribus. Damit ist die sog. Duhem-Quine-These für die Ökonomie von besonderer Tragweite: diese besagt, dass eine wissenschaftliche Hypothese praktisch nie eindeutig widerlegt werden kann, denn ihre Gültigkeit bzw. auch der Prüfvorgang auf der Gültigkeit eines ganzen Schwarms weiterer Hypothesen (sog. auxilliary hypotheses) basiert. Wenn eine Hypothese also (scheinbar) widerlegt wird, ist es unklar, welcher Teil des theoretischen Geflechts, das sie ausmacht, tatsächlich falsch ist. Dies ist sogar in einer so exakten Wissenschaft wie die Physik durchaus ein Problem, obwohl dort kontrollierte Experimente in aller Regel durchführbar sind – eine Möglichkeit, die den Sozialwissenschaften kaum zur Verfügung steht, die zwangsläufig auf deutlich weniger präzise Quasi-Experimente oder gar nur (mathematisch formalisierte) Gedankenexperimente zurückgreifen müssen. Dies bedeutet, dass das Duhem-Quine-Problem in den Sozialwissenschaften besonders stark ausgeprägt sein dürfte.

Zuletzt noch eine Frage, die meine eigene Forschung betrifft: was ist mit der Wohlfahrtsökonomik, die häufig als eine „normative Wissenschaft“ bezeichnet wird (für viele Wissenschaftstheoretiker ein Oxymoron)? In der Wohlfahrtsökonomik geht es darum, Veränderungen in der Wirtschaft zu bewerten – es geht also weniger um die Beschreibung bzw. Erklärung menschlicher Aktivitäten und deren Ergebnisse, sondern vielmehr um deren normative Beurteilung. Das klingt natürlich nicht allzu sehr nach Wissenschaft. Allerdings wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass Kontroversen bezüglich der Beurteilung von verschiedenen Politiken weniger aus Unterschieden in Werten resultieren, sondern vielmehr das Ergebnis mangelnder Übereinstimmung bei der Interpretation von Fakten ist. Führt staatlich generierte Nachfrage in Krisenzeiten zur Stabilisierung der Wirtschaft? Gibt es ein trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation? Führt freier Handel zu Wohlfahrtssteigerungen in Entwicklungsländern? Diese und ähnliche Fragen liegen oft Debatten zu Grunde, die scheinbar Wertedebatten sind, in denen man sich aber in Wirklichkeit nicht über Fakten einigen kann, während die normativen Ziele im Grunde ähnlich sind. Auch die Wohlfahrtsökonomik im engeren Sinne hängt in vielerlei Hinsicht an der Gültigkeit bestimmter positiver Theorien – bspw. bezüglich der groben Form von Nutzenfunktionen, des Verhaltens von Menschen, wenn sie kollektiven Entscheidungsproblemen gegenüberstehen, des Maßes an Risikoaversion, das Menschen zeitigen bzw. einfach der Prioritäten und Wertschätzungen, die Menschen in ihren Köpfen bilden (Präferenzordnungen im Ökonomensprech). Die betreffenden Grundannahmen der Wohlfahrtsökonomik sind umstritten, aber in der Regel grundsätzlich wissenschaftlich im Popper’schen Sinne – man kann sie testen. Und sie werden getestet, z. B. mit den Mitteln experimenteller Ökonomik. Eine andere Frage ist natürlich, wie leicht sich die betreffenden Ökonomen von Tests ihrer Theorien überzeugen lassen, an diesen ggf. etwas zu ändern. So gesehen kann man durchaus sagen, dass die Wohlfahrtsökonomik eine „normative Wissenschaft“ ist, so seltsam und widersprüchlich diese Formulierung anmutet.

Nun aber zurück zu unserer Ausgangsfrage: ist die Ökonomie eine Wissenschaft? Meine allgemeine Antwort wäre: dies ist nicht gerade leicht zu beantworten. Zwar ist man sich über das grundlegende Kriterium der Wissenschaftlichkeit – die Falsifizierbarkeit von Theorien – relativ einig. Doch in der konkreten Anwendung ist dieses Kriterium nicht immer hilfreich und eindeutig, nicht zuletzt wegen des erwähnten Duhem-Quine-Problems. Im Falle der Ökonomie kommen einige zusätzliche Probleme hinzu: erstens, es gibt nicht die Ökonomie. Selbst innerhalb der Neoklassik gibt es mehr und weniger wissenschaftliche Bereiche. Zweitens, die Ökonomen predigen etwas anderes (Falsifikationismus) als sie teilweise leben (verdeckten Apriorismus). Drittens, die fehlende Möglichkeit kontrollierter Experimente erschwert die eindeutige Verifikation von Hypothesen bedeutend. Kurzum, man kann die Ausgangsfrage des heutigen Beitrags ruhigen Gewissens mit der Standard-Antwort eines Sozialwissenschaftlers beantworten: Das kommt drauf an!

Leseempfehlungen:

Der Beitrag erschien zuerst auf meinem eigenen Blog.