Thatcherism 2.0: Mit Liz Truss zurück in die ökonomische Vergangenheit

Thatcherism 2.0: Mit Liz Truss zurück in die ökonomische Vergangenheit

»Liz Truss is the nearest thing we’ve got to Margaret Thatcher«[1]

Patrick Minford, Ökonom und Berater für Liz Truss

Mit radikalen Reformen will die neue Premierministerin des Vereinigten Königreiches, Liz Truss, ihre kriselnde Wirtschaft wieder ankurbeln. Die Instrumente, die sie dabei nutzt, werden aber höchstwahrscheinlich nicht zum versprochenen Wachstumsschub, sondern nur zu einer immensen Verstärkung der ökonomischen Ungleichheit führen. Truss’ Ideen scheinen sich nicht so sehr aus wirtschaftlichem Sachverstand zu speisen. Vielmehr entstehen sie unter anderem aus ihrer unreflektierten Berufung auf das Erbe der Iron Lady Margaret Thatcher. Was genau sind Truss´ Policy-Vorschläge? Welche Ideen stehen dahinter, und welche Parallelen lassen sich zu Thatcher ziehen? Und was sind die Konsequenzen von „Trussonomics“?

Trussonomics in a nutshell

Truss hat vor wenigen Wochen mit ihrem „Fiscal Statement“ einen Plan vorgestellt, der folgende Kernpunkte enthält: Bei der Einkommenssteuer sollte der Spitzensteuersatz von 45% gestrichen werden, der neue Höchstsatz wäre 40%.  Der Grundsatz der Einkommenssteuer wird von 20% auf 19% gesenkt. Die im April dieses Jahres vorgenommene Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge (National Insurance Contributions, also ein Prozentsatz vom Einkommen, der an die sozialen Sicherungssysteme geht) solle rückgängig gemacht werden und die noch von Boris Johnson geplante Erhöhung der Unternehmenssteuer von 19% auf 25% abgebrochen. Auch eine bisher geplante Erhöhung der Steuern auf Dividenden wird eingestampft. Zuletzt reduziert Truss die Grunderwerbssteuer (Stamp Duty Land Tax).[2] Also: viele Steuersenkungen. Schon jetzt sind einige der Maßnahmen aufgrund großer Kritik zurückgenommen worden. Es lohnt sich dennoch zu fragen: Was sind die Ideen hinter diesen Maßnahmen?

Liz Truss selbsterklärtes Ziel ist es, das Wirtschaftswachstum zu stärken. Unternehmens- und Einkommenssteuer zu senken, soll dazu führen, dass Unternehmen und Arbeitende mehr davon haben, wenn sie investieren und innovieren. Wenn sie mehr vom zu erwartenden Gewinn behalten können, dann werden sie auch mehr Investitionen tätigen oder neue Technologien entwickeln, so die Idee. Das wiederum würde das Wirtschaftswachstum stärken. Sehr ähnliche Gesetze wurden auch schon von Margaret Thatcher eingeführt, mit ähnlichen Begründungen. Thatcher gewann 1979 mit den Konservativen die Wahl und verfolgte eine sehr marktliberale Politik. Unter anderem senkte sie den Spitzen- und Basiseinkommenssteuersatz von 60% auf 40%, respektive von 27% auf 25%.[3]

Der erklärte Mechanismus von Steuersenkungen hin zu Wachstum mag theoretisch einleuchtend erscheinen. Und unter Thatcher erholte sich das Wirtschaftswachstum tatsächlich.[4] Allgemein ist jedoch die empirische Evidenz zur Frage, ob die Senkung von Unternehmens- und Spitzensteuersätzen signifikant das Wachstum befördert, äußerst gemischt.[5] Im heutigen England kommt ein erschwerender Faktor hinzu: Die Bank of England, die englische Zentralbank, wird aller Voraussicht nach in Reaktion auf die Steuersenkungen den Leitzins erhöhen. Sie tut das, da die englische Wirtschaft nahe an der Vollauslastung ist, und also eine durch Steuersenkungen erhöhte Nachfrage die Inflation treiben könnte.[6] Ein höherer Leitzins aber bedeutet teurere Kredite für Unternehmen, also weniger Investitionen und – weniger Wachstum. Folglich ist es unwahrscheinlich, dass Truss ihr Ziel erreicht.

Während die Auswirkungen der Steuersenkungen auf das Wirtschaftswachstum noch unsicher sind, ist eine andere Konsequenz mit einiger Sicherheit zu erwarten: Die ökonomische Ungleichheit wird steigen. Bevor die Senkung des Spitzensteuersatzes zurückgenommen wurde, sah die Wirkung der Steuersenkungen folgendermaßen aus, nach Einkommensklassen aufgeteilt:[7]

Nun gibt es aber in einer Situation, wo das Angebot begrenzt ist (Knappheit von Gas, Lieferkettenprobleme, you name it), folgendes Problem: Die durch Steuersenkungen erhöhte Nachfrage erhöht die Inflation. Wenn nun eine Gruppe, in diesem Fall die Reichen, besonders viel Geld erhalten, können sie sich trotz höherer Inflation mehr leisten. Für die ärmeren Briten kann es gut sein, dass die Kombination aus Steuersenkung und Inflation für sie am Ende real weniger Kaufkraft bedeutet.[8] Selbst der Internationale Währungsfonds warnt schon vor größer werdender Ungleichheit.[9] Also: Liz Truss, die sich so vehement gegen Umverteilungspolitik ausspricht, macht sehr aktive Umverteilungspolitik. Nur eben von unten nach oben.

Sozialversicherung Abbauen

Eine weitere Steuersenkung betrifft die National Insurance Contributions, die unter Boris Johnson angehoben wurden. Dies wird nun rückgängig gemacht. Wieder ist die Idee, durch Steuersenkungen Arbeits-, Investitions- und Konsumfreude anzukurbeln und dadurch das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Dann, so die Logik, können selbst bei einem niedrigeren Prozentsatz an Steuern trotzdem die Sozialsysteme aufrechterhalten werden, da ja durch das Wirtschaftswachstum eine höhere absolute Menge besteuert wird. Problematisch wird diese Argumentation, wenn die Wirtschaft nicht wie erhofft schneller wächst. Dann hat der Staat weniger Einnahmen. Kombiniert mit Truss’ Absicht, keine Steuern zu erhöhen und die Staatsschuldenquote zu reduzieren, bleibt dann nur eine Option: Ausgaben kürzen, also beispielsweise den eh schon heruntergerockten National Health Service weiter zu beschneiden.

Auch hier stellt sich Truss in Thatchers Erbe. Thatchers Überzeugung war es, dass soziale Sicherungssysteme den Menschen die Selbstständigkeit und Eigeninitiative nähmen, daher gehörten sie zurückgebaut.[10] Was das für den Lebensstandard einer Mittel- und Unterschicht bedeutet, deren Löhne eh schon stagnieren, kann man sich einfach ausmalen.

Gewerkschaften schwächen

Ein letzter Punkt, für den Thatcher berühmt ist, und der deshalb bei Truss auch nicht fehlen darf, ist die Feindschaft gegenüber den Gewerkschaften. Truss möchte das Streikrecht einschränken. Zu Thatchers Erbe wiederum gehört die krasse Schwächung gewerkschaftlicher Organisation in England. Ein entscheidendes Ereignis war hier die brutale Niederschlagung der Bergarbeiterstreiks 1984-1985, nach denen die Bergarbeitergewerkschaft die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren sollte.[11] Nun, was hat man als Wirtschaftsliberaler gegen Gewerkschaften? Dazu kann beispielsweise Friedrich August von Hayek Auskunft geben, ein Ökonom und Philosoph, der ein großer Einfluss auf Margaret Thatcher war. Hayek zufolge sorgten die Gewerkschaften durch eine Fixierung der Lohnstrukturen dafür, dass die Wirtschaft sich nicht mehr an sich verändernde Gegebenheiten anpassen konnte. Wenn ein Sektor beispielsweise technologisch überholt würde, sollten dort die Löhne sinken, damit die Arbeiter in produktivere Sektoren wechselten. Das würde durch die Gewerkschaften eingeschränkt, und also das Wirtschaftswachstum behindert, so Hayek. Folglich wären die Gewerkschaften das eigentliche Hindernis für einen realen Anstieg der Löhne.[12]

Nun kann man wohl zustimmen, dass eine Wirtschaft mit komplett starren Löhnen keine kluge Einrichtung ist. Gleichwohl bringt aber auch eine wachsende Wirtschaft nichts, wenn die Arbeiter ohne gewerkschaftliche Organisation in einer solch schlechten Verhandlungsposition sind, dass sie vom Wachstum nur einen sehr kleinen Teil sehen. Bedenkt man das, dann ist auch die Anti-Gewerkschaftspolitik eine Art Umverteilungspolitik von unten nach oben. Gleiches gilt übrigens für Truss’ Senkung der Grunderwerbssteuer, von der vor allem der reiche Süden Englands inklusive London profitiert – also das Klientel, das historisch auch schon von Thatcher bedient wurde.[13]

Ausblick und Alternativen

Was wären Alternativen zu Liz Truss´ Strategie? Die langfristige Anhebung aller Reallöhne durch Wirtschaftswachstum ist ja erst einmal eine annehmbare Idee. Man muss sich nur anderer Strategien bedienen. Das Gegenkonzept zu Truss´ „Trickle-Down“, also ihrer Idee, man könne die ganze Wirtschaft durch Entlastung der Reichen ankurbeln, wäre wohl: „Bubble Up“. Wenn man eine Umverteilung von oben nach unten vornimmt, dann gibt man solchen Leuten Geld, die es direkt wieder verkonsumieren und also die Nachfrage anschieben, wodurch es sich für Unternehmen lohnt zu investieren und zu innovieren. Dieses Rezept scheint erfolgsversprechender. Und ein zweiter Punkt muss hier angebracht werden: Truss nimmt Staatsschulden auf, um ihre Steuerreduktionen zu kompensieren. Sie erklärt aber, dass die Staatsschuldenquote (Schuldenstand / BIP) stabil bleiben wird, da ja durch höheres Wirtschaftswachstum die Schulden im Vergleich zum BIP schrumpfen. Das ist an sich erst einmal keine schlechte Idee. Die alles entscheidende Frage ist: Wofür werden die Schulden aufgenommen? Wenn es wie bei Truss Schulden sind, die nur als höhere Einkommen bei den Reichen ankommen, wird auch die Wirtschaft nicht wachsen und die Staatsschulden werden schwierig zu bezahlen. Wenn aber das geliehene Geld gut investiert wird, sagen wir, in Erneuerbare Energien und in Schulbildung, dann kann tatsächlich das Wachstum angeschoben werden. Und dann sind auch hohe absolute Schulden kein Problem, da sie prozentual zum wachsenden BIP fallen. In der Tat ist einer der entscheidenden Faktoren für das Wachstum in der nahen Zukunft die Energiepreisentwicklung.[14] Man sollte also alles tun, um die Energiepreise zu drücken. Beispielsweise ein paar mehr Windräder bauen. Dafür darf man auch gut und gerne Schulden aufnehmen.

Man kann nur hoffen, dass sich Liz Truss wenigstens nicht so beratungsresistent wie die späte Thatcher zeigt, und dass das Schlimmste abgewendet werden kann, bevor das Vereinigte Königreich spätestens 2024 eine neue Regierung wählt. Gleichzeitig sollten „Trussonomics“ aus kontinentaleuropäischer Sicht als warnendes Beispiel dienen: auch hier gibt es Politiker*innen, die in althergebrachten und eigentlich überwunden geglaubten ökonomischen Dogmen denken. Es ist unsere Aufgabe, die daraus entspringende Politik zu verhindern, unter der der große und besonders der ökonomisch schwache Teil der Bevölkerung noch mehr leidet, als er es eh schon tut.


[1] https://www.telegraph.co.uk/news/2022/08/27/patrick-minford-liz-truss-nearest-thing-got-margaret-thatcher/ , Zugriff am 07.10.2022.

[2] T Bell et al, Blowing the Budget: Assessing the implications of the September 2022 fiscal statement, Resolution Foundation, September 2022. S. 5.

[3] https://www.theguardian.com/business/2013/apr/08/margaret-thatcher-transform-britain-economy, Zugriff am 07.10.2022.

[4] https://www.theguardian.com/business/2013/apr/08/margaret-thatcher-transform-britain-economy, Zugriff am 07.10.2022.

[5] Bell, S. 25ff.

[6] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-steuersenkungen-iwf-oekonomen-pfund-bank-of-england-101.html , Zugriff am 07.10.2022.

[7] Bell, S. 27.

[8] https://www.project-syndicate.org/commentary/liz-truss-mini-budget-biggest-problem-by-jason-furman-2022-10 , Zugriff am 07.10.2022.

[9] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-steuersenkungen-iwf-oekonomen-pfund-bank-of-england-101.html , Zugriff am 07.10.2022.

[10] Ian Kershaw, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 2018. S. 399.

[11] Kershaw, S. 401.

[12] Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969. 262ff.

[13] Kershaw, S. 401.

[14] Bell, S. 4.