Wohnraum im globalisierten Finanzmarktkapitalismus
Die Initiative Neue Plurale Ökonomik Halle ist eine Gruppe kritischer junger Menschen, die unter anderen aus Studierenden der Wirtschaftswissenschaften besteht und sich für mehr Vielfalt in der ökonomischen Theorie, Methodik und Lehre einsetzt. Momentan wird an den Universitäten fast ausschließlich die sogenannte Neoklassik gelehrt, welche die soziale Eingebundenheit von (ökonomischen) Akteur*innen und Machtstrukturen fast vollständig ausblendet. Um dem andere Perspektiven entgegenzusetzen, haben wir uns entschieden, im Folgenden Immobilienmärkte aus der marxistischer Tradition heraus näher zu beleuchten.
Halle ist Teil der Spitzengruppe. Klingt nach einem Grund zum Feiern, ist es aber nicht. Halle an der Saale gehört zu den Städten mit der größten Segregation in Deutschland1. Das bedeutet, dass die Ungleichheit und die Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Stadtvierteln besonders ausgeprägt sind, womit sich auch soziale Problemlagen verschärfen2. Ein Grund dafür ist, dass die Preise für Wohnraum in den letzten Jahren und Jahrzenten kontinuierlich gestiegen sind. Dies führt dazu, dass sich Haushalte mit niedrigen Einkommen Wohnungen oder Häuser in attraktiven Stadtvierteln wie der Innenstadt, dem Paulusviertel, Giebichenstein oder Kröllwitz nicht mehr leisten können. Auch in vielen anderen Städten ist eine verstärkte Debatte um Mietpreissteigerungen entbrannt. So wird beispielsweise in Berlin gegen die Immobilienunternehmung Deutsche Wohnen protestiert. Doch warum werden diese Unternehmen als Problem gesehen? Was steckt hinter den Mieterhöhungen?
In der Wirtschaftssoziologie wird zur Beantwortung dieser Fragen zunehmend auf den Begriff der Finanzialisierung verwiesen. Mit Finanzialisierung ist die Ausweitung der operativen Logik der Finanzmärkte3 auf andere gesellschaftliche Bereiche gemeint. Für Immobilien bedeutet das, dass der Preis von Wohnungen und Häusern sich weniger nach ihrem Gebrauchswert, sondern vielmehr nach ihrem Tauschwert auf den Finanzmärkten orientiert4. Immobilienwerden so zu einer Form der Kapitalanlage, die mit anderen Finanzprodukten, wie zum Beispiel Aktien, mithalten müssen. Das heißt nicht zwangsläufig, dass die erwartete Rendite genauso hoch sein muss, aber es müssen zumindest vergleichbare Zahlen und Daten geschaffen werden. Dazu werden einzelne Immobilien, Stadtviertel oder auch die Immobilienmärkte ganzer Städte oder Staaten quantifiziert, also ihr Wert und ihre Eigenschaften zur besseren Vergleichbarkeit in Zahlen gefasst, damit Berechnungen damit durchgeführt werden können, um Vorhersagen über die Wertentwicklungen und die potentiellen Profite zu machen5.
Aber warum passiert so etwas überhaupt? Warum wird unser Wohnraum finanzialisiert?
Wie wohl allgemein bekannt ist, leben wir im Kapitalismus. So weit, so wenig überraschend. Im Kapitalismus besteht das Ziel wirtschaftlichen Handelns darin, immer mehr Kapital anzuhäufen. Wirtschaftliche Akteur*innen, die über Kapital verfügen, versuchen, dieses möglichst so anzulegen, dass sich das Kapital „vermehrt“. Durch diesen andauernden Prozess kann es gerade nach Phasen der materiellen Expansion, also der Ausweitung der Produktion, zu einer sogenannten Überakkumulation kommen6. Es gibt zu wenig profitable Anlagemöglichkeiten: die Kapitalist*innen wissen nicht, wohin mit ihrem Geld. Deshalb wird sich auf die Suche nach neuen Anlageformen gemacht, es kommt zur Erschließung von neuen Märkten für Finanzkapital7.
Hier sind gerade Immobilien interessant, denn sie werden meistens über Kredite finanziert8. Das Kapital wird langfristig gebunden, die Ausschüttung des Mehrwerts wird in die Zukunft verschoben. Außerdem gelten Investitionen in die gebaute Umwelt, unsere Infrastruktur und Gebäude, traditionell als risikoarm: Wohnen müssen die Leute immer. Immobilieninvestitionen sollen also möglichst profitabel sein, aber dabei die Gewinne in die Zukunft verlagern, während das Kapital zunächst einmal absorbiert wird. Die Investitionsentscheidungen hängen von Erwartungen an die Zukunft ab9. Diese ist aber nicht vorhersehbar. Die Erwartungen an die Wertsteigerungen sind deshalb voneinander abhängig, weil die Akteur*innen auf den Finanzmärkten sich gegenseitig an den Entscheidungen ihrer Mitbewerber*innen orientieren, um ihre Unsicherheit zu verringern. Bei Immobilien ist diese Abhängigkeit besonders stark, weil der Wert eines Objektes durch seine Umgebung mitbestimmt wird. Das gleiche Haus ist in einem hippen, attraktiven Stadtviertel mehr wert, als in einem Randbezirk mit mangelhafter Daseinsvorsorge.
Es entwickeln sich schnell Spiralen, weil die meisten Investitionsentscheidungen mit denselben Zahlen und Daten arbeiten und sich aneinander orientieren5. Das führt dazu, dass die Preise in einigen attraktiven Gegenden, besonders in Großstädten, enorm steigen. Menschen, die sich solche Preise nicht leisten können, müssen in die Peripherie oder unattraktive Stadtviertel ausweichen. Außerdem sind die Informationen zu den Zahlen der Immobilienmärkte und das Wissen um ihre Interpretation einerseits und die Möglichkeit, Immobilien zu erwerben andererseits, nicht für alle gleichermaßen zugänglich5. Deutschland gehört in Europa noch immer zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit, besonders, was das Vermögen betrifft, und der niedrigsten sozialen Mobilität10. Nur wenige Menschen haben deshalb die Bildung, das Wissen und das Startkapital, um in Immobilien investieren zu können. Die wenigen Menschen, die diese Möglichkeiten haben und nutzen, pumpen derweil exorbitante Summen in den Immobilienmarkt11. Weil die Preise in einigen Gegenden deshalb schnell nichts mehr mit dem eigentlichen Wert der Gebäude zu tun haben, können Blasen entstehen, die bei Irritationen platzen und manchmal ganze Wirtschaftskrisen auslösen, wie zuletzt 2007 in den USA geschehen.
Doch auch von politischer Seite ist derzeit kaum eine Rettung zu erwarten: Die Politik richtet sich im Neoliberalismus zunehmend an wirtschaftlichen Interessen aus. In vielen Städten formierten sich bereits Proteste und Demonstrationen. Besonders in Berlin geriet die rot-rot-grüne Regierung unter Druck. Sie zog nun eine vorläufige Notbremse und kündigte einen Mietdeckel an: Ab 2020 sollen die Mieten für fünf Jahre nicht erhöht werden dürfen. Diese Meldung stand bei der Tagesschau unter der Schlagzeile „Wird Berlin zum Albtraum für Investoren?“12. Doch können derartige Maßnahmen die Spiralen wirklich durchbrechen oder handelt es sich eher um oberflächliche Symptombekämpfung? Wir fragen daher: Welche Interessen finden Berücksichtigung? Welche Personen haben Machtpositionen, aus denen heraus sie die Stadtplanung und Preisentwicklung heraus beeinflussen können? Wer hat keinen Einfluss?
Diese und weitere Fragen werden wir in den kommenden Blogbeiträgen diskutieren!
1 Helbig, Marcel, und Stefanie Jähnen. 2018. Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? WZB Discussion Paper.
2 Hausmann, Patrick, und Matthias Bernt. 2019. Kleinräumliche Untersuchung sozialstrukturellen Veränderungen Halle (Saale). Ergebnisse der Auswertung von Daten der kommunalen Statistik. Erkner: Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung.
3 Windolf. 2005. Finanzmarktkapitalismus. Anlysen zum Wandel von Produktionsregimen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
4 Holm, Andrej. 2011. Wohnung als Ware: zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung. Widersprüche : Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 31:9–20.
5 Bitterer, Nadine, und Susanne Heeg. 2015. Die Macht der Zahlen. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 59.
6 Silver, Beverly J., und Giovanni Arrighi. 2011. Das Ende des langen 20. Jahrhunderts. In VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hrsg. Alex Demirović, 211-228. Hamburg: VSA-Verl.
7 Harvey, David. 1982. The limits to capital. London: Verso.
8 Belina, Bernd. 2018. Wenn Geldkapital eine sichere Bank sucht. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 48.
9 Beckert, Jens. 1996. Was ist soziologisch an der Wirtschaftssoziologie? Ungewißheit und die Einbettung wirtschaftlichen Handelns. Zeitschrift für Soziologie 25:125–146.
10 Hans-Böckler-Stiftung. 2016. WSI Verteilungsmonitor – Soziale Ungleichheit: Ausmaß, Entwicklung und Folgen. Online verfügbar unter https://www.boeckler.de/pdf/wsi_vm_faqs_2016.pdf
12 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/immobilien-berlin-mieten-deckel-101.html