Historische Schimpfwörterbücher

Die Dokumentation von Sprache hat eine lange Geschichte. Aus Glossaren und Wortlisten hat sich im Laufe der Zeit das Wörterbuch entwickelt. Die historische Entwicklung des Wörterbuches können Sie im ersten Teil dieses Blogs nachvollziehen, der unter anderem die Frage klärt, welche gesellschaftlichen Einflüsse das Wörterbuch als kulturhistorische Errungenschaft geprägt haben:

Eine kurze Geschichte des deutschsprachigen Wörterbuchs bis Jacob und Wilhelm Grimm

Historische Wörterbücher sind aufschlussreiche Dokumente ihres zeithistorischen Kontextes. Der zweite Teil des Blogs beschäftigt sich mit einer spezifischen Art dieser Wörterbücher – den Schimpfwörterbüchern. Den Einstieg in das Thema ermöglicht ein Zeitstrahl, der Ihnen einige historische Schimpfwörterbücher und Sammlungen präsentiert:

Schimpfwörterbücher

Wie könnte ein historisches Schimpfwörterbuch aussehen, das den wissenschaftlichen Anspruch eines Standard-Wörterbuchs hat? Diese Frage stellt der dritte Teil dieses Blogs. In diesem können Sie diverse mittelalterliche Schimpfwörter kennenlernen, die kultur- und sprachwissenschaftlich eingeordnet werden. Weitere mittelalterliche Schimpfwörter können abschließend spielerisch im Rahmen eines Quiz entdeckt werden.

Schimpfwörter im Mittelalter

Eine kurze Geschichte des deutschsprachigen Wörterbuchs bis Jacob und Wilhelm Grimm 

Vorüberlegungen

Im Alltag dienen Wörterbücher oft einem normativen Sprachverständnis und sollen uns vor allem eine Antwort darüber geben, ob diese oder jene Schreibweise die korrekte ist. Dabei wird oft vergessen, dass sie keine, vom gesellschaftlichen Kontext, losgelösten Instanzen sind, deren Bestimmungen immer widerspruchsfrei sind, oder die zu jeder Problemstellung die eine Lösung anbieten können. Vielmehr müssen sie in ihrem jeweiligen kulturhistorischen Zusammenhang betrachtet werden, da weder das Sprachverständnis, das in ihnen zur Geltung kommt, noch die angewandten wissenschaftlichen Methoden als statisch und immer gültig verstanden werden können. Hinzu kommen die spezifischen gesellschaftshistorischen Umstände, unter deren Einfluss Wörterbücher entstehen, auf die sie aber gleichzeitig auch rückwirken:

Wörterbuch- und Gesellschaftsgeschichte sind […] insofern verbunden, als die Lexikografie selbst nicht unerheblich zur Entwicklung der Sprache wie der kulturellen Orientierung einer Gesellschaft beigetragen hat.

Haß-Zumkehr, Ulrike: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. 2001. S. 1

Es scheint selbstverständlich, dass sich ein*e Autor*in der Produktion eines Wörterbuchs angenommen haben muss. In Anbetracht der oben genannten Faktoren, die ihre Wirkung beim Erstellen eines solchen Buches entfalten, ist diese Person allerdings nicht außer Acht zu lassen, da erst durch sie eine bestimmte Perspektive der Kulturgeschichte präsentiert wird. Dieser ideologische Einfluss mag in älteren Darstellungen größer gewesen sein, prägt die Lexikographie aber natürlich bis heute und ist bei jeglicher Betrachtung wissenschaftlicher Arbeiten zu beachten. Die geistige Orientierung der Autor*innen hat „unmittelbare Auswirkungen auf die methodisch-allgemeinen wie auf die praktisch-konkreten Entscheidungen der Wörterbucharbeit.“ (Haß-Zumkehr: Die kulturelle Dimension der Lexikografie. 2012. S. 248) In diesem Sinne ist ein Wörterbuch auch immer als Zeitdokument zu verstehen. „Wörterbücher entstanden und entstehen nämlich in erster Linie als Gebrauchsgegenstände. Sie werden zu bestimmten […] Zwecken geschaffen und erfüllen […] bestimmte Funktion.“ (Schaeder: Germanistische Lexikographie. 1987. S. 48) Diese Zwecke und Funktionen variieren in verschiedenen Epochen und resultieren in unterschiedlichen Ergebnissen und Herangehensweisen. 

Ein Wörterbuch gibt Aufschluss über die konkreten Zeichen, die Menschen nutzten und nutzen, um sich sozial zu orientieren und die konstitutiv für die Herausbildung eines historisch spezifischen Bedeutungssystems sind. D.h., dass die sprachlichen Zeichen einen gemeinsamen Geltungsbereich benötigen, um überhaupt als solche Anwendung zu finden und somit auch in Form eines Wörterbuchs fixiert werden können. Dabei ist von besonderem Interesse, wie sich der Geltungsbereich in welchen sozialen Gruppen ausgestaltet und inwiefern eine Bedeutung zwischen diesen gesellschaftlichen Gruppen variiert; ganz zu schweigen von der historischen Komponente.

Aus den genannten Gründen scheint es wenig sinnvoll für eine kulturhistorische Betrachtung von Wörterbüchern einen normativen Kulturbegriff heranzuziehen, wie er uns häufig im Alltag begegnet, da dies allein auf eine wertende und gleichsam moralische Ebene hinaus liefe. Gerade im Hinblick auf die vielfältigen Faktoren, die Einfluss auf Sprach- und somit auch Wörterbuchgeschichte nehmen, bedarf es einem analytischen Verständnis. „Mithilfe dieses analytischen Kulturbegriffs wird der Blick auf die Orientierung gelenkt, mit denen soziale Gruppen sich selbst und ihre materielle wie nichtmaterielle Umgebung zu einem halbwegs sinnvollen Ganzen machen.“ (Haß-Zumkehr: Die kulturelle Dimension der Lexikografie. 2012. S. 250)

Dem Wörterbuch kommt insofern eine Sonderstellung zu, als es nicht bloß Ausdruck der gesellschaftlich-kulturellen Umstände seiner Zeit ist, sondern diese auch in einer vermittelnden Funktion wiedergibt. 

Bei der Betrachtung von Wörterbüchern ist weiterhin zu beachten, dass sie niemals dem utopischen Anspruch der Vollständigkeit genügen können. Allein in Anbetracht des zeitlichen Aspekts können nicht die aktuellsten Entwicklungen vertreten sein, bedenkt man die Bearbeitungsdauer eines solchen Projekts. Außerdem stellt sich den Autor*innen ein weiteres Problem: Im Zuge der Dokumentationsarbeit, die die Erstellung eines Wörterbuchs vorrangig ist, bleiben wenig Kapazitäten auf die methodischen Fragestellungen der Darstellungen zu reflektieren und während der Sammeltätigkeit auch die sprachtheoretischen Entwicklungen mit einzubeziehen.

Nichtsdestotrotz waren und sind Wörterbücher unentbehrliche Werkzeuge, die uns Orientierung bei der Nutzung der Sprache geben und uns Einblicke in das Sprach- und Weltverständnis vergangener Epochen ermöglichen. So ist es für eine Analyse der Geschichte der Sprache unerlässlich die lexikographischen Produkte der Vergangenheit zu untersuchen, da diese uns Aufschluss geben können über:

  • „die Herausbildung des Wortschatzes in verschiedenen Sprachstadien und in seinen verschiedenen Varietäten, u.a. auch der Standardsprache;
  • Die lexikalische Struktur des Wortschatzes auf den einzelnen Entwicklungsstufen;
  • Das semantische und pragmatische Wissen einer Zeit;
  • Die Semantik und Pragmatik einzelner Wörter, deren Kenntnis u.a. für das Verstehen von Texten aus zurückliegenden Sprachstadien unverzichtbar ist;
  • Sprachwandel, sprachliche Stratifikation und Diversifikation;
  • Die Ausbildung von Sonder- bzw. Spezialwortschätzen und den lexikalischen Austausch zwischen verschiedenen Varietäten […];
  • Gesellschaftliche (politische, soziale, kulturelle usw.) sowie sachgeschichtliche Entwicklung.“ (Schaeder: Germanistische Lexikographie. 1987. S. 50)

Dementsprechend soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die Geschichte der deutschsprachigen Wörterbucharbeit gegeben werden.

Die Glossographie bis zum 15. Jahrhundert

Die Wörterbucharbeit in Form der Dokumentation von Wortmaterial, wie wir sie uns heute vorstellen, setzte erst im Laufe des 16. Jh. ein. Zuvor dominierten Glossare, vor allem um sich die lateinische Sprache anzueignen. Ein Beispiel hierfür ist das älteste bekannte Buch in deutscher Sprache, der Abrogans, geschrieben ca. 765. Sie fanden vor allem Verwendung in Dom- und Klosterschulen, wo sie dem Lehrbetrieb dienten und sind in der Form lateinisch-deutsch abgefasst. In erster Linie dienten sie der Bibelexegese, was auch erklärt, warum die „(alt-)hochdeutsche Sprache nur in glossierender, also erklärender bzw. übersetzender Funktion“ Anwendung findet (Henne: Nachdenken über Wörterbücher. 1977. S. 13). Allerdings wurden mit Hilfe der Glossare auch schon Quellen des römischen Rechts oder antike Texte bearbeitet.

Ausschnitt aus dem Abrogans; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 911, p. 3 + p. 4 – Abrogans – Vocabularius (Keronis) et Alia (https://www.e-codices.ch/de/list/one/csg/0911)

Die zu den lateinischen Vokabeln gegebenen Erklärungen finden sich am Rand, zwischen den Zeilen oder im Text und werden dementsprechend als Marginal-, Interlinear- oder Kontextglossen bezeichnet. Wurden die Glossen anfangs noch in den Text integriert und folgten somit dessen Chronologie, entstanden Glossensammlungen, die sich an dieser Reihenfolge orientierten und schließlich in alphabetischer Ordnung verfasst wurden. Allerdings ist die alphabetische Ordnung nicht als selbstverständlich zu betrachten. Die Anordnung innerhalb der Glossare erfolgte auch in Sachgruppen, wie beispielsweise das Summarium Heinrici, entstanden im 11. Jahrhundert, zeigt, das nach den Bereichen des Quadriviums, der Rechte und der artes mechanicae sortiert ist.

Überliefert wurden die Glossensammlungen in offener Form, d.h. dass „intensiv und erfolgreich abgeschrieben, erweitert, hinzugefügt und modifiziert wurde.“ (Henne: Nachdenken über Wörterbücher. 1977. S. 13)

Ab dem 14. Jahrhundert trat eine richtungsweisende Änderung ein, die einen wichtigen Schritt hin zum Wörterbuch darstellt. Es werden Glossare erstellt, „die zum ersten Mal entweder die semantische Erklärung auf deutsch gaben oder die Lemmatisierung in deutscher Sprache ansetzten.“ (Szle̜k: Zur Deutschen Lexikographie Bis Jacob Grimm. 1999. S. 20) Ein deutsches Stichwort mit entsprechender Erklärung findet sich erstmalig bei Dietrich Engelhus, der den Vocabularius quadriidiomaticus verfasste. Mit dieser Entwicklung nimmt das Deutsche eine immer größer werdende Stellung bei der Bearbeitung der Glossare ein – es wird, ab dem 15. Jahrhundert, explizit zum Gegenstand der Arbeit, nicht zuletzt, weil das Lesepublikum mit dem aufkommenden Buchdruck stetig zunahm.

Der Vocabularius ex quo ist wohl eines der bekanntesten Beispiele für die, im 15. Jahrhundert vorherrschende, alphabetische Anordnung in der Lexikographie und macht den Hilfsmittelcharakter der, in dieser Zeit entstehenden, Werke deutlich. Er ist am Nutzungsinteresse der Rezipient*innen orientiert, d.h. als Werkzeug für den Unterricht, für Pfarrer, an Universitäten usw. Hier finden sich auch deutsche Sacherläuterungen mit grammatikalischen Informationen, wie Angaben zur Wortart und Flexionsklasse. Außerdem werden, für heutige Wörterbücher selbstverständlich, Siglen genutzt, um den Text zu komprimieren.

Trotz der voranschreitenden Entwicklung und den nun teilweise vorhandenen deutschen Erklärungen waren die Glossare bis zu diesem Zeitpunkt noch dem Lateinischen verpflichtet. Das ändert sich mit dem Wörterbuch Teütsch Spraach. Dictionarium Germanicolatinum von Josua Maaler, das 1561 erschien und in dem die deutschen Ausdrücke den lateinischen vorangestellt wurden.

Das 17. und 18. Jahrhundert und das Projekt des großen deutschen Wörterbuchs

Nachdem im Zuge des Humanismus das Interesse an der eigenen Sprache geweckt wurde und immer mehr volkssprachliche Elemente Einzug in die Wörterbucharbeit fanden, entstand eine Tendenz des „nationalsprachlichen Bewusstseins in- und außerhalb der Lexikographie […].“ (Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. 2001. S. 51) Der Wunsch einer einheitlichen Sprache resultierte aus mehreren Gründen. Zum einen aus den 

Interessen von Adel und Bürgertum, die ein effektives Sprachinstrument zur Bewältigung ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Aufgaben forderten; dann ein nationales und kulturpatriotisches Motiv, das die sprachliche Einigung an die Stelle nationaler und politischer Zerrissenheit […] zu setzten wünschte; schließlich das Bestreben der humanistischen Gelehrten, das auf Ordnung und einheitliche Formung der Sprache zielende Prinzip humanistisch-lateinischer Sprachpraxis auch auf die deutsche Sprache zu übertragen.

Henne, Helmut: Nachdenken über Wörterbücher. 1977. S. 16

Es bildeten sich Sprachgesellschaften, die die Sprache ordnen und einem normativen Maßstab unterwerfen wollten. Diese bestehen aus elitären Zirkeln, was sich im Sprachverständnis äußert, das vermittelt werden soll. Die bekannteste unter diesen Gruppen ist die „Fruchtbringende Gesellschaft“. Gegen „schlechtes“ Deutsch müsse vorgegangen werden, das vor allem durch vermeintlich fremde Einflüsse entstehe. Sprachpatriotismus kommt auf und kulminiert in der Vorstellung einer „Erzsprache“, die gott- und naturgegeben sei – somit also auch anderen Sprachen überlegen.

Diese sprachideologische Entwicklung entfaltete, aufgrund der Verzögerung, die der Wörterbucharbeit eigen ist, erst im 18. Jahrhundert ihre volle Wirkung. Die Ansicht einer “richtigen” Sprache und die, vor allem durch die Sprachgesellschaften eingeführte, Ablehnung der Mundart – dialektale Einflüsse seien regellos und somit zu verwerfen – führte zu einer Hierarchisierung der Sprachvarianten: der sogenannte “Prozess der Vertikalisierung des Variantenspektrums.” (Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. 2001. S. 89f) An der Spitze dieser Rangordnung steht eine Leitvarietät, die mit verschiedenen Begründungen gerechtfertigt wurde: vereinheitlichte und klare Sprache sei innerhalb des Wissenschafts- und Technikbetriebs unerlässlich für eine unmissverständliche Kommunikation; sie trage zur “sittlich-moralischen Entwicklung” der Bevölkerung bei und sie diene als kulturpatriotisches Symbol, das die Einheit der Nation gewissermaßen vorwegnehme, wobei letzteres Argument als das wohl dominanteste einzuordnen ist. Als geeignetste Varietät wurde das “Meißnische Deutsch” aus dem Raum Leipzig/Dresden angesehen, unter anderem auch aus dem Grund, weil Luthers Bibelübersetzung in dieser Mundart vorlag. Die Durchsetzung erfolgte durch die Nutzung im Rechtskontext, der Orientierung an bestimmten Texten und natürlich der Fixierung in Wörterbüchern und Grammatiken.

Trotz der sich allmählich etablierenden Leitvarietät und der damit verbundenen Vereinheitlichung der Sprache, lockerte sich das, im 17. Jahrhundert aufgekommene, Sprachverständnis im Laufe des 18. Jahrhunderts, jedoch ohne es vollkommen zu verdrängen. In den Vordergrund gelangte ein aufklärerischer-dokumentarischer Anspruch, der das gesamte Material des deutschsprachigen Raumes, mit Einbezug regionaler und sozialer Spezifik, fixieren sollte, allerdings nicht ohne deren Besonderheiten deutlich zu machen und das Bestreben, die Leitvarietät als Standard zu setzen, in Abgrenzung zu bekräftigen. Die Idee eines gesamtsprachlichen Wörterbuchs kam auf, die auch einen beträchtlichen Wandel im Sprachverständnis mit sich brachte:

Erst durch die Praxis der abstrahierenden und verallgemeinernden Bestimmung der Wortbedeutung konnte die Vorstellung eines sprachsysteminhärenten und kontextenthobenen semantischen Potenzials im Unterschied zur je konkreten, einmaligen kontextspezifischen Bedeutung entstehen […].

Haß-Zumkehr, Ulrike: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. 2001. S. 93

Es seien hier die beiden bekanntesten Projekte dieser Phase der Wörterbucharbeit benannt. Zum einen Johann Christoph Adelungs Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, dessen fünf Bände der ersten Auflage zwischen 1774 und 1786 veröffentlicht wurden. Die hochdeutsche Mundart legte Adelung nach dem Sprachgebrauch der “obern Classen” der “südlichen Chursächsischen Lande” (Meißnisches Deutsch) fest, bestimmte sie also zugleich regional, wie sozial. Methodisch sollten vor allem die Sprachregeln beobachtet und analysiert werden, wobei das Augenmerk gleichermaßen auf der semantischen Ebene lag. Mit ca. 55 000 Stichwörtern ist es das bis dahin umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache.

Kurz nach Adelung publizierte Joachim Heinrich Campe das Wörterbuch der deutschen Sprache, das in fünf Bänden von 1807 bis 1811 erschien und von ihm explizit in Konkurrenz zu Adelung verfasst wurde. Seine Kritik galt unter anderem der Grundlage des “Meißnischen Deutsch”, das bei Adelung als Standard galt und somit den Eindruck entstehen lassen könne, es handele sich nicht um ein gesamtsprachliches Wörterbuch. Campes Zielsetzung war nach eigenem Anspruch eine pädagogische. Es solle nicht “ein Wörterbuch für eigentliche Sprachforscher von Beruf, sondern vielmehr zum allgemeinen Gebrauch, für Schriftsteller, Leser, Sprachschüler und Ausländer, die Deutsch lernen wollen […]” sein (Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache Erster Theil. A-E. 1807. Vorrede V). Mit einer Anzahl von 141 000 Stichwörtern beträgt der Umfang bei Weitem mehr als bei Adelung.

Das Grimm’sche Wörterbuch 

Das bekannteste und umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache ist das Deutsche Wörterbuch (DWB) von Jacob und Wilhelm Grimm. Bereits 1852 begann die Veröffentlichung, wurde allerdings erst 1960 vollendet. Betrachtet man den gesellschaftlichen Kontext, in dem die Bearbeitung ihren Anfang nahm, stößt man, ähnlich wie bereits im 17. und 18. Jahrhundert, auf die “Idee eines Nationalwörterbuchs”, nun jedoch ohne den aufklärerischen Anspruch. (Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. 2001. S. 120) Die ideologische Komponente, die dieser Konzeption zugrunde liegt, lässt sich wie folgt beschreiben:

In politischer Hinsicht soll das DWB das Verständnis der Sprache aus ihrer Geschichte vermitteln und damit das Selbstverständnis der Deutschen als Angehörigen eines Volkes und ihr Streben nach politischer Einheit fördern.

Bahr, Joachim: Periodik der Wörterbuchbearbeitung: Veränderungen von Wörterbuchkonzeptionen und -praxis. 1991. S. 6

Es hat also den Anspruch, zur Konstruktion eines gemeinsamen sogenannten “Volkes” beizutragen; auf der Basis sprachlicher Übereinstimmung. Entsprechendes äußert sich im Sprachverständnis. Der Fokus bei der Erklärung von Wortbedeutungen lag nicht auf dem gegenwärtigen Gebrauch, sondern auf der Etymologie, nicht zuletzt aus dem Grund, dass Jacob Grimm u.a. die Entdeckung des “sog. indoeuropäischen Sprachzusammenhangs” gelang (Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. 2001. S. 122f). Diese historische Wortforschung ist der politischen Intentionen der Konstruktion einer Nation höchst dienlich, da eine “ursprüngliche deutsche” Sprache großes identitätsstiftendes Potential hätte. Jacob Grimm ging aufgrund seiner Forschung von “Urbegriffen” aus, die den semantischen Gehalt gegenwärtiger Wörter beschreiben helfen könnten, was allerdings ein eher spekulatives Vorhaben blieb. 

Nach dem Tod Wilhelm Grimms 1859 und Jacob Grimms 1863 begann die zweite Phase der Arbeit am DWB, die bis 1908 reichte. In dieser Zeit verlor es den Status eines Nationalsymbols zu einem gewissen Grad, da es mittlerweile zur Reichsgründung gekommen war, welche es nun “kulturell und historisch zu begründen” galt (Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher. 2001. S. 135ff). In der dritten Phase bis 1930 wurde die Leitung der Preußischen Akademie der Wissenschaften übertragen, was auch zu größeren finanziellen Mitteln und einer Ausweitung der Anzahl der Mitarbeitenden führte. Ab 1930 kamen hauptberuflich tätige Mitarbeitende hinzu, was auch der langsamen Bearbeitungsdauer geschuldet war. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Arbeit in Ostberlin und, ab 1947, auch in Göttingen fortgesetzt, bis es 1960 schließlich zur Veröffentlichung der letzten Bände kam.   


Schimpfwörterbücher


Das erste Schimpfwörterbuch in deutscher Sprache erschien 1797-99 unter dem Titel Die Nürnberger Schimpfwörter. Jedoch handelt es sich dabei nicht um den ersten Text, der Schimpfwörter dokumentiert. So finden sich auch im Mittelalter diverse Textsorten, die Schimpfwörter enthalten. Dabei sind religiöse Schriften, wie z.B. Predigten, genauso vertreten wie säkulare Texte, also bspw. Rechtstexte oder Strafbücher. Ein Beispiel für solch einen Text ist die Nürnberger Chronik, die für das Jahr 1346 den Stadtverweis dokumentiert, den eine Frau für den Fluch “bei Gotts Grind [verächtl. f. Kopf ] und Zers [Penis]” erhält.

Dass also bereits im Mittelalter geschimpft, gescholten und sprachlich ausgegrenzt wurde, ist belegt. Weiterhin wurden schon im Frühmittelalter Glossare angefertigt. So ist das älteste erhaltene Buch des Deutschen ein Synonym-Wörterbuch – der abrogans. Wieso erschien also erst in der Frühen Neuzeit ein Schimpfwörterbuch? 

Technische und gesellschaftliche Veränderungen

Das Schimpfwörterbuch bezieht sich auf angewandte Sprache. Wie ein herkömmliches Wörterbuch ordnet es sie – und kontextualisiert und erklärt sie möglicherweise sogar. Eine Frage, die dokumentarische Texte klären können, ist:

“Was in welcher Gesellschaft wird für wie wert erachtet, dass man es für die Zukunft festhält?”

 Lobenstein-Reichmann, Anja: Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. 2013. S. 159

Die diversen Texte des Mittelalters, die Schimpfwörter enthalten, wurden nicht mit der Intention einer Dokumentation, sondern für einen konkreten Anwendungsbezug angefertigt. Demnach lässt sich annehmen, dass erst in der Frühen Neuzeit ein  gesellschaftlicher Prozess begann, dem ein erhöhtes Interesse an der Dokumentation von Schimpfwörtern folgte.

Dieser gesellschaftliche Wandel ist nicht zu trennen von den technischen Neuerungen der Zeit. So nahm ab dem 15. Jahrhundert der Umfang dokumentierender Texte generell zu. Der Buchdruck setzte sich gesamtgesellschaftlich durch, das im Vergleich zu Pergament günstige Papier machte die Vervielfältigung von Texten vielen Menschen – nicht nur denen höheren Standes – zugänglich.

Diese neuen technische Möglichkeiten beeinflussten also auch qualitativ, was gedruckt wurde. Erstmals wurden prinzipiell alle Inhalte als dokumentationswürdig angesehen. Ein weiterer wichtiger Wandel war die gesellschaftliche Einordnung von Schimpfwörtern. In Gerichtsprotokollen des Mittelalters geäußerte Schimpfwörter wurden oft mit “verba iniuriosa” (Ehrverletzung), “unchristliche lestrungen” oder “des vilains serment” umschrieben, um diese nicht niederschreiben zu müssen. Man kann also, neben anderen Gründen, davon ausgehen, dass es sich für die mittelalterlichen Schreibenden bei den Schimpfwörtern noch um Unschreibbares handelte.

Schimpfwörterbücher als Spezialwörterbücher

Das Schimpfwörterbuch ist ein Spezialwörterbuch. Es ist deshalb auch nicht richtig, es als ausschließlich dokumentierende Textsorte einzuordnen. So werden beispielsweise in den Nürnberger Schimpfwörtern anhand von Kupferstichdrucken körperliche Merkmale mit Schimpfwörtern verknüpft. Darin zeigen sich Normvorstellungen und Wertmaßstäbe des Autors – und der Gesellschaft, in der er lebte. Das Schimpfwort Lumpa Durl wird mit einer in Lumpen gekleideten älteren Frau illustriert. In der Frühen Neuzeit setzte sich das Stereotyp des “unwürdigen Armen” durch. Dieses grenzte sich ab von einem christlichen Armutsverständnis, das Armut als Demut und somit positive Eigenschaft verstand. Durl ist außerdem eine abwertende, dialektale Bezeichnung für eine (untreue) Frau. Die Zeichnung unterstreicht diese Stereotype.

Ausschnitt aus den Nürnberger Schimpfwörtern. Kunstbibliothek. „Nürnberger Schimpfwörter“. zuletzt bearbeitet 2021-11-02. https://smb.museum-digital.de/object/80086 (CC BY-NC-SA 3.0 DE)

Den Anspruch an einen objektiven und wissenschaftlichen Umgang mit Sprache, die ein Standard-Wörterbuch hat, stellen die meisten Schimpfwörterbücher also nicht, obwohl sie rein formal oft dem Standard ähneln. Sie sind von gesellschaftlichen Diskursen, Rechtsvorstellungen und Stereotypen nicht frei – und gerade deshalb sind sie so aufschlussreich.  

Im Jahr 1839 wurde beispielsweise das Deutsche Schimpfwörterbuch oder die Schimpfwörter der Deutschen mit der anonymisierten Verfasserangabe Von Mir. Selbst. publiziert. Dieser Sammlung verschiedener Schimpfwörter gehen eine “Vor-Vor-Rede” und eine “Vor-Rede” im ironisierenden bis sarkastischen Stil voraus. Darin schreibt der Verfasser mit Vorgriff auf mögliche Beschwerden: 

Ueber das Verdorbenwerden der lieben Jugend durch dieses Büchlein ist kaum nöthig etwas zu erinnern, da diese gar nicht statt finden kann. Die Kinder des gemeinen Volks hören ja beständig von ihren Eltern, Verwandten und Bekannten eine Menge Schimpfwörter, die sie nachlallen, welches nicht selten auch bei sogenannten Gebildeten der Fall ist, bei welchen Väterchen und Mütterchen zuweilen sich recht sehr darüber freuen, wenn ihr liebes Söhnlein das: Bestie, Canaille, das sie häufig gegen das Gesinde gebrauchen, recht drollig nachspricht und schon die Amme also nennt [sic].

o.A.: Deutsches Schimpfwörterbuch oder die Schimpfwörter der Deutschen. Zum allgemeinen Nutzen gesammelt und alphabetisch geordnet, nebst einer Vorvor-, Vor- und Nachrede von Mir. Selbst. Arnstadt: Meinhardt. 1839, S. XXXIX.

Der vermeintlich bloßen Sammlung von Wörtern geht hier also ein Kommentar auf gesellschaftliche Verhältnisse voraus. Trotz der offensichtlich ironischen Schreibweise weist diese Passage auf Schimpfwörter als ein bestehendes Tabus hin – das der Autor dennoch betrachten möchte. Auch die Wahl der anonymisierten Autorschaft lässt Schlüsse darauf zu, dass es sich bei der Thematik nicht um einen ganz unverfänglichen Gegenstand handelt. Weiterhin macht der Autor auf den ständeübegreifenden Gebrauch von Schimpfwörtern aufmerksam und prangert eine gewisse Heuchelei an, die er bei den “sogenannten Gebildeten” erkennt.

Auch in der 1885 erschienen Sammlung mit dem Titel Deutsche Hieb- und Stichworte von Karl Heinrich Schaible ist der Autor sich der Brisanz seines Themas bewusst: 

“Meine Herren! Sie werden sich wohl darüber wundern, dass ich als Thema meiner heutigen Vorlesung einen so verpönten Gegenstand gewählt habe, wie Schimpfen und Fluchen. Aber ich hoffe Ihnen beweisen zu können, dass auch diesen heutzutage mit Recht aus der gesitteten Gesellschaft verbannten Ausdrücken menschlicher Gemüthsbewegungen eine interessante Seite abgewonnen werden kann. Es liegt in vielen unserer deutschen Schimpf- und Fluchworte ein Stück Culturgeschichte verborgen. In manchen Flüchen entdecken wir Spuren vergangener Culturperioden. Die Auswahl von Flüchen des 15. und 16. Jahrhunderts, die ich Ihnen geben werde, erlaubt uns einen Blick in die Civilisation dieser Jahrhunderte zu werfen.”

Schaible, Karl Heinrich : Deutsche Hieb- und Stichworte. 1885.

An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich, dass der Zugriff auf Schimpfwörter sich historisch sehr verändert hat. Schaible reflektiert in seiner Einleitung den gesellschaftlichen Bezug der Schimpfwörter und will gerade wegen ihres Tabus aus ihnen Schlüsse über vergangene Kulturepochen ziehen. 

Schimpfwörterbuch ist nicht gleich Schimpfwörterbuch

Schimpfwörterbücher erfüllen durchaus unterschiedliche Funktionen. Da sie oftmals regional und dialektal sind, haben sie ein identitätsstiftendes Moment, sind aber für Sprecher*innen außerhalb der Region eher uninteressant. Auch formal unterscheiden sich die Schimpfwörterbücher. Manche Texte sind eher als Sammlung denn als Buch zu beschreiben. Einige sind illustriert oder wie die Schimpfwörtersammlung Altfrankfurter Spitz- und Schimpfnamen aus dem Altfrankfurter Stadt- und Landkalender auf das Jahr 1891, der eine Parodie auf kirchliche Kalender ist, anderen Textarten nachempfunden. Auch weitere gruppenspezifische Schimpfwörterbücher sind nachweisbar, beispielsweise Sammlungen berufsspezifischer Beschimpfungen, wie ein Buch aus dem Jahr 1910 von Heinrich Klenz mit dem Titel Schelten-Wörterbuch. Die Berufs-, besonders Handwerkerschelten und Verwandtes. Viele Schimpfwörterbücher enthalten nicht nur Schimpfwörter im engeren Sinne, sondern “alles das, was man als Kraftausdrücke, Gassen- und Gossensprache zu bezeichnen pflegt oder was in den allgemeinsprachlichen Wörterbüchern stilistisch als derb, vulgär, ö. ä. markiert ist” (Seibicke, 1991, S. 1191). 


Schimpfwörter im Mittelalter

In allen Zeiten und Gesellschaften wird gestritten, geflucht und geschimpft. Jede Zeit hat ihre eigenen Ausdrücke und Formeln, ihre eigene Form des Schimpfens und Scheltens. Die verwendeten Bezeichnungen, Ausdrücke oder Sprüche sagen dabei immer auch etwas über die Werte und Normen der jeweiligen Gemeinschaft aus. Welche Gruppen werden ausgeschlossen oder ausgegrenzt? Welche Herrschaftsstrukturen werden akzeptiert, welche in Frage gestellt? Dabei finden sich fabelhafte Neuschöpfungen und Wortspiele, die immer auch zeigen: Schimpfen ist eine kreative Praxis, eine Form des schöpferischen Sprachspiels. Das alles gilt auch für die mittelalterliche Gesellschaft. Einige der vergessenen Schimpfwörter sind hier zusammengetragen und aufbereitet worden, um einen ersten Eindruck zu vermitteln.

Ein Schimpfwörterbuch für das Mittelalter

Obwohl die Kulturgeschichte des deutschen Mittelalters spätestens seit der Romantik ein zentrales Interesse der kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschung bildet und dahingehend auch die sprachliche Entwicklung dieser Epoche untersucht wurde, bleibt das Feld des Schimpfens bis in die heutige Zeit unterbelichtet. Die folgenden Einträge versuchen, mittelalterliche Schimpfwörter wissenschaftlich und analytisch aufzubereiten, um zumindest andeutungsweise zu zeigen, wie ein forschungsbasiertes Schimpfwörterbuch aussehen könnte.

‚Geiler‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 22.

‚Grasteufel‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 24.

‚Kebsweib‘; ‚Klaffer‘; ‚Klaffenmann‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 34.

‚Kosel‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 36.

‚Kuhmaul‘; ‚Kuhketzer‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 37.

‚Lotter‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 41.

‚Mordbrenner‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 44.

‚Steckenknecht‘

Deutsches Schimpfwörterbuch, S. 66.

QUIZ: Mittelalterliche Schimpfwörter