Sigrid Undset von Ernst Alker
[Auszug]
Man beginnt die Lektüre des jüngsten zweibändigen Romans (Olav Audunssön i Hekstviken, Oslo 1925, Aschehoug og Co.) der berühmten Norwegerin nicht ohne geheimes Bangen und nicht ohne die zweifelnde Frage, ob es ihr gelungen sei, ein Werk zu schaffen, das würdig neben der gewaltigen Prosaepopöe von ‚Kristin Lavransdatter‘ – von der bekanntlich der erste Band die Rütten & Loening in Frankfurt a. M., durch J. Sandmeier und S. Angermann trefflich eingedeutscht, in Übersetzung erschien – bestehen könnte. Denn es ist eine vielbeobachtete Erscheinung, daß einer Gipfelleistung oft ein Absinken in die Täler normaler Durchschnittlichkeit folgt.
Es erfreut, sagen zu dürfen, daß das künstlerische und geistige Niveau der neuen Dichtung dem vorhergehenden Meisterwerk nicht nachgibt, das freilich auch von jeher in gar keiner Weise übertroffen wird.
Wieder werden wir in das norwegische dreizehnte Jahrhundert geführt, wieder wird – wie in beinahe allen Büchern der Undset – die Geschichte einer scherzvollen Liebe und Ehe erzählt. Seit den Tagen ihrer Kindheit, die sie in gemeinsamem Spiel verbrachten, sind Olav Audunssön und Ingunn Steinfinnsdatter wie mit geheimnisvoller Macht aneinandergekettet. Schon als Kinder werden sie von ihren Eltern verlobt, als Halbwüchsige vollziehen sie in Heimlichkeit die Ehe. Aber als Ingunns Vater der Blutrache zum Opfer fällt, wollen Verwandte die bestehende Verlobung aufheben. Olav wehrt sich mit allen Kräften, doch infolge eines an einem Asylort begangenen Totschlags ist er gezwungen, Ingunn zu verlassen und in die Fremde zu gehen, wo er durch hartes Kriegsleben und kühne Wikingertaten zum Manne gestählt wird.
Verwandtenbedrückung kann der Treue der vereinsamten Ingunn Steinfinnsdatter nichts anhaben, aber den Versuchungen ihres Blutes erliegt sie, als sie in den Bannkreis des abenteuerlichen Isländers Teit kommt. Dem heimkehrenden Olav wird das schmerzliche Erlebnis ihrer Untreue und die bittere Erkenntnis, daß sie eines anderen Kind unterm Herzen trage. Doch Olav überwindet sich und verzeiht ihr; er tötet Teit und verheimlicht die Bluttat. Auf Heswik-Hof, seinem Vatererbe, hofft er mit Ingunn Lebensglück zu finden. Doch sein Wähnen fand keinen Frieden; die Vitalität seiner Frau ist gebrochen, ihre Kinder sind ohne Lebenskraft, und als sie ihm endlich ein gesundes Mädchen schenkt, ist ihr der Tod nicht mehr ferne. Teits Sohn, den er in einer Aufwallung der Güte als eigen annahm, scheint seinem üblen Vater nachzuarten und wird Olav eher zur Last als zur Freude. Hoffnungslos schwer gehen die Jahre, langsam wie Jahrhunderte, überschattet durch Krankheit, Tod und Gewissensqual. In einem Augenblick der Schwäche sucht und findet er Vergessen bei einer schönen Magd seines Hofes und zerbricht die seiner sterbenden Frau geschworenen Treue. Und dennoch fühlen sie beide, Olav und Ingunn, als die unabänderliche Stunde des Abschieds gekommen ist, daß sie mit elementarer Macht aneinandergefesselt sind, daß alle Fehltritte, Leiden und Enttäuschungen sie nicht zu trennen vermögen, daß ihre Liebe Tod und Grab überdauern wird. Aber – bezeichnend genug – nicht mit einem verklärenden Blick sub specie aeternitatis oder einem weihevollen de profundis klingt diese Saga aus, sondern mit den unbarmherzigen Worten, daß Olav Audunssön ganz von schlafloser Nacht eingehüllt war.
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Nur dadurch ist in diesem Werke ihr neuer, ihr katholischer Standpunkt erkennbar, der auch in ‚Kristin Lavranstochter‘ eigentlich nur am Schluß deutlich hervortritt: als Kristin sich ins Oslo-Kloster zurückzieht, um dort jenen Frieden in Gott zu finden, den ihr stürmisches Leben ihr immer verweigert hatte.
Man darf das Katholische in Sigrid Undset überhaupt nicht an der Oberfläche ihrer beiden Werke suchen, man muß in die letzten Tiefen der Problemstellung hinabtauchen, um es da zu entdecken. Die Norwegerin ist eine zu große Künstlerin, als daß sie eine durch billige Kontraste (etwa: Priester und Laien, Gläubige und Abtrünnige) gestützte Apotheose des Katholizismus böte, die einerseits – in einem damals konfessionell einheitlichen Land – etwas unmotiviert sein würde, und die anderseits – das norwegische Volk jener Zeit befand sich innerlich in einem indifferenten Übergangsstadium vom sterbenden Heidentum zum noch nicht voll erfaßten Christentum – sich im wesentlichen kaum gut fundieren lassen könnte.
Auf den Katholizismus geht zurück ihr großer epischer Stil, der gewiß mit ihrem früheren Schaffen innig verbunden ist, den sie aber erst nach ihrer Konversion ausbilden konnte: mit Notwendigkeit, denn aller große epische Stil setzt das Vorhandensein einer großen Weltanschauung voraus, die ihr früher – sie war Anhängerin der herkömmlichen Forderungen des ‚freien Weibes‘ – fehlte.
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Hochland, Heft 7, S. 102-106, 04.1926.
Kommentar:
Die Schriftstellerin Sigrid Undset (1882-1949) hat die norwegische Literatur im frühen 20. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt und wird auch heute noch geehrt mit einer Abbildung auf dem 500-Kronen-Schein. Außerhalb von Norwegen wird sie aber kaum noch gelesen. 1911 hatte sie ihren literarischen Durchbruch mit dem Roman Jenny. Doch ihren größten Erfolg erhielt Sigrid Undset für ihre historische Romanreihe Kristin Lavranstochter, für die sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Darin überzeugte sie vor allem mit ihrem detaillierten Wissen über das mittelalterliche Norwegen. Mit der deutschen Besatzung Norwegens 1940 musste Sigrid Undset, zusammen mit ihrem einzig überlebenden Kind, in die USA fliehen, da sie sich in der Widerstandsbewegung gegen Hitler engagierte hatte. In Amerika wurde sie zum Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters gewählt. 1945 kehrte sie nach Norwegen zurück und verstarb wenige Jahre später.