Die Briefe der Queen

Die Briefe der Queen

Litterary Times (London) beschäftigt sich in einem längeren Aufsatz mit der zweiten Reihe der Briefe der Königin Viktoria, die soeben George Earle Buckle bei Murray herausgegeben hat.

„Ein dunkler Abgrund, der Abgrund ihrer furchtbaren persönlichen Einsamkeit, liegt zwischen der Periode von Königin Viktorias Leben, die in den früheren Bänden ihrer Korrespondenz aufgedeckt wurde, und der Periode, die mit Buckles neuer Auswahl aus ihren Briefen und Tagebüchern eröffnet wird. Die sechzehn Jahre, die jetzt bloßgelegt sind, waren sowohl für die eigene Entwicklung der Königin wichtig wie für die Geschichte der britischen Monarchie. Denn zum ersten Male stand die Frau, die aus ihrem Schulzimmer zum Throne geschritten war, die zunächst die gelehrige Schülerin von Lord Melbourne gewesen ist und dann die unterwürfige eines vergötterten Gemahls, völlig allein da. Die Stellung der Krone würde nunmehr davon abhängig sein, was sie macht; denn, wie sie unmittelbar nach ihres Gatten Tod in einem der letzten Briefe der früheren Reihe schrieb: ‚Es ist mir bewusst, daß keine einzige Person, mag sie noch so gut, noch so hingebungsvoll unter meinen Dienern sein, mich leiten oder mir diktieren soll‘, und hier fügt sie an: ‚kein Kind kann mir helfen – kein einziges!‘ In der Tat erscheint sie zu Beginn ihrer jungen Witwenschaft völlig allein. Zwar hatte sie noch für einige Jahre ihren Onkel, den König der Belgier, zur Unterstützung und als Ratgeber; aber Stockmar ging seinem Ende entgegen. Palmerton und Russel, die damaligen führenden Staatsmänner, zeigten die härteste Seite ihrer harten Naturen, wenn sie mit ihr teilen sollten; von Gladstone, der erfreut gewesen wäre, ihre Lasten mit ihr zu teilen, war sie von Jahr zu Jahr mehr getrennt worden durch den Unterschied von Glauben und Sympathie; die schmeichlerische persönliche Huldigung von Disraeli – nicht die würdigste Episode in seiner oder ihrer Laufbahn – hatte noch keine Zeit gehabt zu reifen. Es ist kein Wunder, daß sie, als sie ihre Situation zu Beginn dieser Periode überblickt, schreibt, ‚daß jetzt äußerste Trostlosigkeit, Dunkelheit und Einsamkeit sei, und sie sich täglich mehr und mehr erschöpft und elend fühle‘…

Zwei Fragen beschäftigen hauptsächlich den Vordergrund der auswärtigen Politik während der von diesen Bänden umschlossenen Jahre. Es sind die verschiedenen Phasen in der Entwicklung des Deutschen Reiches und die Probleme der englisch-russischen Beziehung in nahen Osten. Die Stellung der Königin Viktoria gegenüber Rußland wurde zuletzt auseinandergesetzt von Buckle in seinem ‚Leben des Lord Beaconsfield‘, und wenig ist hier für unsere Kenntnis hinzugekommen. Weder die Frage noch in dem Problem des europäischen Gleichgewichts, das durch den Aufstieg Preußens an der Spitze des geeinigten Deutschlands aufgetaucht war, ist es möglich, der Königin Weitblick oder in der Tat irgendeine große zusammenhängende Ansicht der europäischen Beziehungen zuzutrauen. Zu dem, was nach ihrer Vermutung ihr Gemahl gedacht haben würde, fügte sie derartige Empfindungen, was das nationale und königliche Prestige sie eingaben, und Ideen, wie sie in der Luft um sie herum waren. Ihre Briefe zeigen in keiner Hinsicht ein Zeichen, daß ihr tägliches eifriges Prüfen von Depeschen und Staatspapieren durch die Lektüre oder durch unterstützendes Nachdenken über die Probleme von Macht und Politik ausgeglichen wurde. Das ist keine Überraschung nach dem trivialen und häuslichen Charakter ihrer früheren Erziehung. Wenn sie auf den Gang der Dinge einwirkte, si geschah es, weil sie stark war, wo ihre Minister oft schwach waren, im guten Sinne, im Instinkt für handelnde Personen, in der Kenntnis kontinentalen Fühlens, vor allem in der Achtung und dem Vertrauen, den ihr klarer, guter Glaube eingab. Zweimal in den Jahren war ihr persönliches Eingreifen von entscheidender und glücklicher Wirkung. Das erstemal war es, als sie im Jahre 1867 an den König von Preußen schrieb und ihn bat, Frankreich in der Luxemburgaffäre weit genug entgegenzukommen, um einen Krieg zu vermeiden. Das zweitemal geschah es, als sie dem Kaiser von Rußland schrieb, um ihn zu drängen, seinen Einfluß auszuüben, um die Anschläge für einen Präventivkrieg gegen das wiederauflebende Frankreich zu vernichten, die in Berliner Militärkreisen gehegt wurde…

Charakterstärke – immer wieder werden wir darauf zurückgebracht; sie gibt der außerordentlichen Verschiedenheit der dynastischen, politischen und religiösen Angelegenheiten, die die Seiten dieses starken Bandes fülle, die Einheit. Hinter der Königin, mit ihren Ideen, Traditionen und bestimmten Denkgewohnheiten, sehen wir die Frau, die in schwieriger Lage die Grenzen ihrer Erziehung und Stellung überschreitet. Die Zurückhaltung, die der Herausgeber gegenüber dem Privatleben beobachtet hat, vermindert nicht unsere Vertrautheit mit ihr, da ihre Persönlichkeit in jeder Zeile ihrer Handschrift gefühlt wird. Viktoria kann nie in einem milden oder sanften Sinne ‚gut‘ gewesen sein. Sie hatte eine bemerkenswert leidenschaftliche und heftige Natur, mit den Zeichen des romantischen Temperaments in der Liebe zur Einsamkeit und zur ‚einfachen, wilden Freiheit‘ der schottischen Landschaft, in ihrem brütenden Bewußtsein der Gemeinschaft mit dem Tod und ihrem fast abergläubischen Glauben an die stützende Macht eines besonderen hochländischen Dieners.“

Die Neue Rundschau, Heft 5, S. 554-555,  05.1926

Kommentar:

Die hier übersetzte und abgedruckte Rezension befasst sich mit der zweiten Reihe einer Sammlung von Briefen verfasst von Königin Viktoria. Die Reihe Die Briefe der Königin Viktoria (Original: The Letters of Queen Victoria) besteht insgesamt aus neun Bänden veröffentlicht in drei Reihen. Das Projekt wurde gestartet, mit königlicher Zustimmung, von Dr. Arthur Christopher Benson und Graf Esher. So befasste sich die erste Reihe in drei Bänden mit den Jahren 1837 bis 1861. Nach Bensons Tod übernahm George Earle Buckle die Rolle des Herausgebers. Buckle editierte daraufhin die folgenden sechs Bände, welche Briefe und Tagebücher der Königin bis zum Zeitpunkt ihres Todes 1901 beinhalten. Sowohl Benson als auch Buckle wurde exklusiver Zugang zu den Royal Archives im Windsor Castle gewährt. Dort wurde eine Auswahl an Briefen der Königin getroffen, welche vor allem ihre charakterliche Entwicklung im jeweiligen Lebensabschnitt widerspiegeln.