Wiener Frauen. Ein kleiner Zyklus

Wiener Frauen. Ein kleiner Zyklus von L. Andro

Die Trafikantin. Im Leben des bürgerlichen Mannes ist sie eine Art Aspasia; sie stellt die Erotik und die Geistigkeit dar, denn sie ist es. die ihn mit Rauch­waren und der Zeitung versorgt.

Ihre große Stunde hat sie zu einer für Frauen ungewöhnlichen Zeit: morgens zwischen acht und neun. Da strömt die ganze Männlichkeit der Umgebung in ihren kleinen engen Laden und jeder bietet ihr eine Freundlichkeit, da sie die erste Frau ist, die er erblickt, wenn er der häuslichen. Dumpfheit, sei sie durch Gattin, Mutter oder Zimmerfrau verkörpert, entronnen ist. Natürlich läßt sich unberechtigtes Eindringen der weiblichen Elemente nicht ganz vermeiden, von Hausfrauen mit Milchflaschen oder Dienstmädchen, welche die Zeitung abholen; doch diese werden nicht weiter regardiert. Sie fühlen selbst, daß sie nicht hierher gehören und daß ein Klatschstündchen wie drüben beim „Greisler“ hier nicht möglich wäre, darum verschwinden sie rasch mit einem mißtrauischen Blick auf die Circe, die eben die gewünschten „fünf Memphis sehr weich“ auswählt. Es kann natürlich auch vor­kommen, daß sie alt und häßlich ist, aber die Kriegswitwen und In­validen, welche die Konzession zur Tabak-Trafik besitzen, wissen gewöhnlich ganz gut, warum sie sich nicht persönlich zeigen und sich lieber durch eine hübsche Verkäuferin vertreten lassen. Eben weil es eilig hergeht, ist alles intensiv; intensiv die Kur­macherei, intensiv die politischen Streitigkeiten. Zu langen Diskussionen ist keine Zeit. Der Beruf winkt, ausdrucksvolle Blicke vertrösten das Fräulein Lintscherl auf später. Es gibt ja noch ein Abendblatt . . . . Nachher wird es stiller, was dann kommt, sind Pensionierte oder Ausrangierte. (Ganz Vornehme kaufen nur in der Spezialitäten-Trafik.) Höchstens, daß ein armer Student die Trafik als Lesestube benutzt und die verschiedenen Zeitungen durchblättert, ohne eine zu kaufen, was die Trafikantin lächelnd geschehen läßt. (Ich möchte niemandem raten, der­gleichen in einem Berliner Zeitungskiosk zu versuchen.) Allerdings kann man sich revanchieren, indem man ihr beim Auflösen des Kreuzwort­rätsels in der von gestern übriggebliebenen Zeitung hilft. Ihm macht der ägyptische Sonnengott weiter keine Schwierigkeiten, der unfehlbar in jedem vorkommt. Man wird die Auflösung gemeinsam einsenden und den Preis gewinnen — fünf Millionen! Ja, Fräul’n Lintscherl, dann . . .! Beide seufzen. Aber natürlich gewinnt man den Preis nie. Ich weiß nicht, ob eine Statistik darüber existiert, was aus den Trafikantinnen später wird: ob sie glänzende Partien machen oder in die große Liebeskarriere eingehen. Wenn es ihnen nicht gelingt, ist es jedenfalls ihre Schuld. Keine hat die Trümpfe so in der Hand wie sie. Keine regiert so über die Schwächen des Mannes: die Zigarre und die Zeitung. In Berlin und anderwärts nimmt man Rauchwaren durch einen Mann entgegen und kauft die Zeitung auf der Straße; der frauenfreund­liche Österreichische Staat läßt beides zusammen durch eine Mädchen­hand verabreichen. Gibt es eine größere weibliche Chance auf Erden? —————-

Aber sonderbar: so viele Trafikantinnen ich auch beobachtet habe, den Tigerblick des großen Mistviechs, das alles duchsetzt, was es will, habe ich auf all’ diesen freundlichen Mädchengesichtern nicht gesehen.

*

Die Modeschriftstellerin.

Sie ist ja nicht durchaus eine wienerische Erscheinung. Aber: hier gedeiht die Art der tapferen Frau besonders gut, die sich und ihre Kinderschar recht mühsam durchbringt und dabei aussieht, als wäre sie immer noch die große Dame von einst. Ihr Lasterchen wurde ihre Rettung: sie liebte schöne Kleider über alles und verbrachte viele Stunden in den Salons der großen Schneider. Sie erwarb die schwere Kunst, einen Crepe de Chine von einem Crepe Satin zu unterscheiden und ein Godet von einer gemeinen Hohlfalte. Davon lebt sie jetzt. Man soll seine Laster pflegen. Man wird immer eher von ihnen leben können, als von seinen Tugenden. Morgens, wenn sie um halb sieben aus dem Bett stürzt, das Früh­stück für die Schulkinder bereitet, fällt ihr der Anfang ihres nächsten Artikels ein: „Die elegante Dame verschmäht bereits den allzu gewöhn­lich gewordenen Pyjama und ist reuig zum duftigen Saut-de-lit zurück­gekehrt . . . .“

Später, wenn sie beim Gemischtwarenhändler und beim „Greisler“ ihren Tagesbedarf deckt, ein Tuch flüchtig umgeschlagen, denkt sie weiter: „Zum Shopping wird nach wie vor nur der Trotteur getragen. Sehr schick wirkt dazu …“ Es heißt rasch mit der Hausarbeit fertig sein, denn nun gilt es, die Modehäuser zu besichtigen. Selbst besitzt man nicht mehr als ein Kleid, ein Paar Seidenstrümpfe. Aber immer noch sieht man damit so aus, daß die andern vor Neid erblassen. Immer noch so, daß die vor­führende Verkäuferin sich an die Modeschriftstellerin wendet, welche die Modelle blasiert durch ihr Lorgnon betrachtet, und sagt: „Aber wenn Gnädigste vielleicht selbst . . . Wir würden natürlich einen be­sonderen Preis machen . . .“ Die Modeschriftstellerin winkt ab. Der besondere Preis wäre immer noch weit über ihre Verhältnisse. Sie klappt kühl ihr Lorgnon zu­sammen: „Sie verstehen, ich muß allen Firmen gegenüber neutral bleiben: ich bin keine Agentin.“ Heimgekehrt, erfährt sie, daß der Badeofen läuft und repariert werden muß, Mausis Schuhe sind durch. Der Jüngste kann die brüder­lichen Schulbücher älterer Auflage nicht mehr benutzen. Franzi scheint Grippe bekommen zu wollen. Das Fieberthermometer ist zerbrochen. Jeder wartet auf sie, jeder will was von ihr, Flickwäsche liegt in Haufen, die Telephonrechnung muß morgen bezahlt werden.

Sie setzt sich nieder und schreibt ihren neuen Artikel: „Die ele­gante Dame kann in diesem Jahr nur Krokodillederschuhe mit echten Silberschnallen tragen. Alles andere ist unmöglich . . . .“

*

Das Lavendelweib.

Wenn man auf der Straße den langgezogenen Gesang hört: „La­vendel — kaufts an Lavendel — zwei Kreuzer s’Büscherl!“ dann weiß man, es ist Sommer. Dann weiß man, man ist in Wien. Es ist eine richtige und hübsche Melodie und beim „Büscherl“ schnellt die Stimme eine Quart in die Höhe, um gleich wieder in ihre Lage zurückzukehren. Sollte Susannens „Komm, ach mein Trauter“ im letzten Akt des Figaro einmal von diesem Lavendelruf inspiriert worden sein? Alt genug wäre er dazu. Er hat auch viele Währungsformen über­dauert, denn unnötig zu sagen, daß die „zwei Kreuzer“ nur eine poetische Lizenz sind. Neuerdings wird er von geschäftstüchtigen Händ­lerinnen oft zweistimmig gesungen: dann sind die Lavendelweiber we­niger verhutzelt, sie tragen weiße Kopftücher, gehen Hand in Hand und die musikfreudigen Wiener legen die Ohren um und starren ihnen entzückt nach. Nur ob man den Sängerinnen auch etwas abkauft, möchte ich gern wissen. Wer, um Himmelswillen, kann heutzutage noch etwas mit La­vendel anfangen? Die moderne Frau legt besser ein Säckchen von Coty zwischen ihre drei Kombinationen und sechs Taschentücher. Und die alte Frau, in der der Lavendelruf noch Assoziationen von einem reich­gefüllten Wäschespind hervorruft, besitzt ihn doch längst nicht mehr.

Sollten die Lavendelweiber von einer Denkmalschutz- und Fremden­verkehrskommission subventioniert werden? Ihr Gesang, untermischt mit dem „Fliagenfanger!!“ der kleinen Jungen, die um die gleiche Zeit ihre Kegel aus roter Gelatine darbieten, kontrapunktiert von dem „Handle“ der östlich Eingewanderten und akkompagniert von der Glocke des „Mistbauers“ — das ist die sommerliche Wiener Straßensymphonie, die war, ist und sein wird. Frankreich, weit mehr begabt in der Er­kenntnis der Rhytmen des Alltags, hat seine Pariser Straßenrufe durch Charpentier in der „Louise“ verewigen lassen. Die Wiener Operette, das Wiener Lied pflegt den klebrigsten, magenumdrehendsten Kitsch, aber auf den Gedanken, die wirkliche Musik des kleinen Lebens dar­zustellen, die sich ihnen fertig komponiert darbietet, sind sie noch nicht gekommen.

Das Tage-Buch, Heft 26, S. 923-926, 26.06.1926.

Kommentar:

L. Andro ist das Pseudonym der österreichischen Journalistin, Übersetzerin und Schriftstellerin Therese Rie (1878-1934). Sie schrieb Theater- und Opernkritiken für österreichische Zeitungen. Zwischen 1905-1928 veröffentlichte sie eigene belletristische Arbeiten, Essays, Novellen, Romane und ein Drama. Im kleinen Zyklus der Wiener Frauen zeichnet sie ein dreier Frauentypen, die das Leben in der Stadt Wien prägen. Die verführerische Trafikantin, die in Bezug zu Aspasia von Milet (470-420 v.Chr.) gesetzt wird. Die als berühmte Frau des antiken Athen ambivalent besprochen wird. Eigene Werke von ihr sind nicht erhalten, aber in Platons Menexenos soll eine ihrer Reden wiedergegeben sein. Sie unterhielt einen eigenen philosophischen Salon. In Antiken Komödien wird sie allerdings, durch ihre Ehe zu Perikles als Hetäre, als gebildete Tänzerin, Sängerin und Prostituierte dargestellt. Andro verweist auf die Zufluchtsmöglichkeit in der Modeschriftstellerei für Hausfrauen und beschreibt den operettenhaften Klang der Verkaufsrufe von Lavendelweibern.