Girlkultur von Richard Huelsenbeck
Das Nachdenken über die Erscheinung des Amerikanertums endigt bei dem Problem der amerikanischen Sexualität.
Das Problem der amerikanischen Sexualität erschöpft sich in der Psychologie der amerikanischen Ehe.
Die soziale Stellung der Frau weist auf die tieferen Zusammenhänge, die den amerikanischen Menschen unabhängig von den äußeren Erfolgen seiner Arbeit sehen lassen.
Die Arbeit Fritz Gieses*) zeigt, wie sich das Girl-Ideal des Amerikaners aus seiner letzten Wesenheit gebildet hat.
Trotz vorsichtiger und wie uns scheint logisch wenig konsequenter Anerkennung des Autors bleibt die erschütternde Ansicht von Menschen, die die Einordnung in den Rhythmus der ,,Natürlichkeit“ durch einen technischen Schematismus ersetzt wissenwollen.
Man muß hier klar und eindeutig Stellung nehmen. Jedes Buch. das sich mit Amerika beschäftigt und Anspruch auf geistige
Wertung macht, darf an der Beantwortung der Frage, die unser ganzes Innere aufwühlt, nicht vor-beigehen: Was bedeutet das Amerikanertum für die Menschheit?
Die Tatsache, daß wir uns gegen die vordringende „Girlkultur“ nicht wehren können, kann eine Anerkennung oder Ablehnung nicht beeinflussen.
Ist es wertvoll, an Stelle einer ideelichen und traditionellen Gebundenheit — Girlkultur zu besitzen?
Die Beantwortung dieser letzten und entscheidenden Trage läßt das Buch Fritz Gieses vermissen.
Es geht, wie gesagt, von dem Standpunkt aus, daß wir uns mit der Girlkultur werden abfinden müssen.
Ein wenig Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Dinge zeigt die Ungeheuerlichkeit dessen, was uns erwartet
Die Tanz-Girls sind der Ausdruck des technischen Rhythmus, den der von seinen natürlichen Bedingungen abgelöste Mensch geschaffen hat.
Sie sind der vollendete Ausdruck einer kollektiven Menschheit, die nach bestimmten Zeichen und Befehlen die Glieder zu heben hat.
Die Einheit des Arme- und Beinehebens symbolisiert die Einheit der Mode, der Moral, der ganzen amerikanisch-zivilisatorischen Lebensauffassung.
Diese Einheit läßt keine individuelle Abweichung zu. Der Eindruck ist unter allen Umständen ab hängig vom kommandierten Schema.
Um sich klar zu werden, über das, was hier verlangt und geleistet wird, muß man verstehen, daß es eine kollektive und eine ideeliche, durch Tradition wirkende Einheit gibt.
Die Gefahr des industriell denkenden Menschen – der skrupellose Individualismus – wird gebändigt durch den kollektivistischen Befehl. Einheits-Moral, Einheits-Schönheit, Einheits-Sexualität. Die tiefe Gebundenheit eines religiösen Volkes an die zentrale Idee wird hier ersetzt durch einen Akt des Willens.
Was Menschen mit sicheren animalischen Instinkten eine Selbstverständlichkeit ist: Ausgleich des individuellen Wettbewerbes durch soziale Gemeinschaft wird hier durch das strenge Kommando der Mode erreicht.
Ideeliche Gemeinschaft ist selbstverständliche Gemeinschaft. Sie war bei allen Völkern mit großer religiöser Kultur vorhanden. Kollektive Gemeinschaft ist der Versuch, mit Hilfe der Überlegung eine verloren gegangene Einheit wiederherzustellen.
Daher die Überschätzung der Handlung in Amerika. Daher die Vergöttlichung des Erfolges. Daher die Idolatrie der Technik. Die Handlung, der Rhythmus der Arbeit, der Zweitakt des Motors werden dem Menschen die verloren gegangene Bindung an die Natur doppelt und dreifach ersetzen: das ist die Religion des Amerikanertums. Und eine Etappe auf dem Wege zur Vollendung ist das amerikanische Girl. Sich dieser Kollektiv- Göttin in jeder Weise unterzuordnen ist die selbst-verständliche Pflicht des amerikanischen Gentlemans. Die Stellung der Frau in Amerika ist bedingt durch die Anschauung, daß Kollektivismus und Feminismus synonyme Begriffe sind.
Die Frau ist die Erhalterin und Förderin der Einheitsmoral. Was sie als gut bezeichnet ist gut und was sie als schön bezeichnet ist schön. Der Mann, der Held der groben Arbeit, glaubt daran, muß daran glauben, weil der Fortschritt im amerikanischen Sinne, das heißt der Fortschritt zum kollektiven Menschheitsideal dadurch gefördert wird.
Die Industrie hat den Typus des Massenkonsumenten geschaffen. Das ist der vollkommen von eigener Überlegung absehende, durch Reklame jederzeit zu hypnotisierende Mensch, ohne den die Maschine des Fortschrittes still stehen würde. Der Massenkonsument kauft, weil man „etwas haben muß**. Er fragt nicht mehr nach seinem Bedürfnis. Der gekaufte Artikel hat kaum noch Beziehung zum Menschen. Er wird nach KonjunkturüberIegungen „lanciert“.
Das Girl, die Frau sind ideale Massenkonsumenten. Hier haben sie die beste Gelegenheit, die Wunschvorstellungen des Amerikaners zu verwirklichen. Die Warenhäuser sind nur für sie gebaut.
Die Frau ist der wertvollste Aktivposten der Arbeit am laufenden Bande, Wo wäre Ford mit seinen Automobilen, wenn die Amerikanerinnen nicht begriffen hätten, daß das Auto ein gewaltiger Fortschritt auf dem Wege zum amerikanischen Himmel bedeutet? Die überlegene Stellung der Frau wirkt sich im ganzen Ablauf des amerikanischen Lebens aus.
Der Mann, als der produktive Typus, ist dem Amerikaner verdächtig, auch wenn diese Produktivität sich nur um die Massenherstellung von Kochtöpfen bekümmert.
Jede Produktivität ist im Grunde verdächtig. Eine kollektive Menschheit braucht unoriginelle, moralisierende, ordnende Menschen. Die Mißachtung der individuellen Lebensäußerung ist hier nicht die Folge einer traditionellen Gebundenheit (wie zum Beispiel in den asiatischen Ländern), sondern eines praktisch ordnenden Verstandes.
Erst wenn das Leben ganz praktisch, in höchster Weise praktisch abläuft, ist der Wunschtraum des Fortschrittes erfüllt.
Der Mann ist unpraktisch von Natur, irgendwo steckt in ihm ein Stück Übermut, ein Stück Junge. Damit ist sein Urteil gesprochen. Die Tanzgirls symbolisieren das Genial-Praktische. So praktisch können eben Männer sich nie gebärden und deshalb sind sie Menschen zweiter Klasse.
Eine „Geistigkeit“ im europäischen Sinne ist unter solchen Umstanden in Amerika nicht möglich.
Ein Mensch, der versuchen wollte, nach einer Idee, nach einem Schicksal, nach einer durch Religion garantierten Gemeinsamkeit zu leben, müßte verhungern.
Girlkultur und Ideekultur! Maschinenkultur und religiöse Kultur — bei solchen Überlegungen werden einem Abgründe aufgehellt.
Das hatte der Autor des intelligenten Buches eindeutig zur Darstellung bringen müssen.
Schon der Titel des Buches „Girlkultur“ zeigt aber ein folgenschweres
Missverständnis. Es kann sich doch immer nur um Girl-Zivilisation handeln, da schon das Wort Kultur eine Dauer, eine Besinnung, eine Wertung natürlicher Bindungen einschließt, die dem amerikanischen Fortschritt ganz fremd sind.
Hier hat jener Durchschnittstypus Mensch gesiegt, der alles auf dieser Welt mit seinem „praktischen Verstand“ erledigen zu können hofft.
Das ist der folgenschwerste Irrtum, den die Menschheit jemals begehen kann, denn sie schaltet ganz die Frage nach der inneren Zufriedenheit, nach dem Glück, nach der Harmonie des einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft aus.
Kein „New Thought“, keine „Christian Science“ können dem Menschen die innerliche Festigung geben, die notwendig ist, um das Leben wahrhaft lebenswert zu machen.
Es gehört keine überragende Intelligenz dazu, den „Erfolg“ als Illusion zu erkennen. Denn nach dem Erfolge erhebt sich das gleiche Problem der innerlichen-wesenhaften Ordnung.
Die moralische Schwäche des Amerikaners läßt ihn vor seinen Frauen katzbuckeln. Erst dann, wenn er die primitive Wahrheit begriffen haben wird, daß das Leben beim Menschen anfängt, nicht aufhört, wird er das Phänomen der Erotik verstehen lernen. Vielleicht lernt er dann auch, daß die Ehe keine Schule eines wirtschaftlich larvierten Masochismus, sondern der Versuch einer Kameradschaft gleichberechtigter Menschen ist.
*) ..Girlkultur“, Delphin-Verlag. München.
Die Literarische Welt, Nr. 16, S. 5, 16.04.1926.
Kommentar:
Der Autor, Mitbegründer des Dadaismus in Zürich und später als Psychoanalytiker arbeitende Richard Huelsenbeck bespricht im Artikel “Girlkultur” das gleichnamige Werk „Girlkultur” von Fritz Giese (München: Delphin-Verlag, 1925). Darin versucht der studierte Psychologe Giese das massenkulturelle Phänomen der „Girls“ oder „flappers“ zu beschreiben und dadurch einen Vergleich zwischen “amerikanischem und europäischem Rhythmus- und Lebensgefühl” anzustellen. Giese verbindet in seinem Text eine Vielzahl von Abbildungen bekannter “Girls” oder Tanzgruppen mit Analysen zu Rhythmus des Tanzstils und Ästhetik der Frauentypen.
In dem Zeitschriftsartikel Huelsenbecks verstrickt der Autor seine Haltung zum Originaltext mit eigenen Ausführungen zu U.S.-amerikanischer Sexualität, Geschlechterrollen, „Massenkonsum“ und eine damit einhergehende Amoralität.