Der enttäuschte Tastsinn

Der enttäuschte Tastsinn

Meine Reverenz — wie immer! — der modernen Frau! Meine Reverenz — wie immer! — dem modernen Körperkult! Der die Frauen aus dem Diluvium des Mastodontischen, Qualligen, Wabb­ligen, Watschligen, aus der Urzeit der Großmamiferen, Großbrüste­trägerinnen in die überhellenische Zeit der Biegsamen, Geformten, Schauwürdigen herübererlöst hat. Aber . . .

Aber erleben wir jetzt am Ende nicht eine Überspitzung des Ideals? Ist es jetzt nicht so weit gekommen, daß wohl die Kreis­bogen mit gewaltigem Radius die Konturen der Brüste, Bäuche und Schenkel verlassen haben, daß aber an ihre Stelle nicht jene son­derbaren, länglichen Kegelschnitte, die Ellipsen, Hyperbeln, Parabeln getreten sind, sondern spitze, ge­brochene Geraden? Kurz, wird nicht jenes harmonische Gleich­gewicht von Linie, Schwellung und goldengeschnittenen Abmessungen ins Negative zerstört?

Man muß oft mit ja antworten. Der Grund ist ein zwiefacher. Ein­mal wird jeder Frauenkörper wahl­los über dieselbe Kniebeuge, über denselben Schulterstand gemensendieckt (oder sonst was). Aber Individuum heißt nicht bloß Geist, sondern — vielleicht noch mehr! — Körper. Und wie es für Mathe­matik ungeeignete Geister gibt, so gibt es für Schulterstände unge­eignete Frauenkörper. Und wenn man diesen Körpern die Schulter­stände einbüffelt, bleiben die Fol­gen nicht aus. Aber noch viel ge­fährlicher ist der Umstand, daß sich Frauen der Körperkultur in einem Alter zuwenden, in dem der Körper die natürliche Formbarkeit bereits verloren hat. Während der jugendliche Körper willig der Mo­dellierung durch das Turnen folgt, Kräfte und Säfte einen berücken­den Turgor, jene Schwellung, her­vorzaubern und der einmal so mo­dellierte Leib die köstliche Form bis ins hohe Alter wahrt, kann der Körper der älteren Frau nur eines tun — Fett verlieren. Die Körper­kultur wird zur Entfettungskur. Und — Aufrichtigkeit, meine Damen! — etwas anderes wollen Sie gar nicht.

Aber die Rache des beleidigten Körpers, der sich gegen das unge­wohnte Regime auflehnt, bleibt nicht aus. Die Frauenärzte flüstern es sich zu — sie werden es nie laut sagen: daß in dieser Aera des Frauenturnens die Unterleibsleiden zugenommen haben. Die moderne Frau gebärt nicht mehr so leicht wie das Tier des Waldes und Fel­des. Wieviele kleine Reizungen, Närbchen bleiben, unbemerkt, nach einer Geburt zurück! Sie werden zu wahren Leiden großgeturnt.

Und was flüstern die Männer, die Ehemänner und die Liebhaber? Sie sind entzückt und stolz, wenn jetzt die Robe ihrer Dame frei und mit kleinem Faltenwurf fällt. Aber die sinnliche Liebe ist nicht die Domäne eines einzigen Sinnes. Sie beginnt mit dem Gesicht und endigt im – Tastsinn. Wenn das Kleid fällt und die Lampe erlischt, dann beginnt die Stunde des Ur­sinns, des Tastsinns. Dann hört der Körper auf, Kleiderträger zu sein. Dann muß aus den elasti­schen Schwellungen der Glieder, unter deren Haut ein klarer und gesunder Säftestrom kreist — sie gleichen Blättern, die nach dem Regen „strotzen“ —, jener kreatür­liche Magnetismus ausströmen, jene Wollust der Berückung, jene geheimnisvolle Urkraft der sich immer wieder neugebärenden Welt.

Wehe, meine Damen, wenn Sie zu stark auf das Auge gebaut und den Tastsinn vernachlässigt haben! Er wendet sich, tausend­fach sensibler als das Auge, nur zu rasch ab, wenn er statt der leben­digen Form die schlaffe, welke, unelastische Hülle eines sinnlos entfetteten Körpers findet.

Arnold Hahn

Das Tage-Buch, Heft 14, S. 550-551, 03.04.1926.

Kommentar:

Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Frauen wie Bess Mensendieck spezielle Frauengymnastik-Systeme mit deren Hilfe junge Mädchen und Frauen ihre körperliche Gesundheit, Leistungsfähigkeit und – was meist als positiver Nebeneffekt beschrieben wurde – auch ihr Aussehen verbessern sollten. „Mensendiecken“ wurde bald im allgemeinen Sprachgebrauch zum Synonym für „Gymnastik“. Zentrale Stichworte dieser Bewegung waren „Kraft und Schönheit“ und die propagierte „Natürlichkeit“ sportlicher Körper. Der Verfasser des Artikels schließt sich trotz seiner Kritik den Idealen der Körperkulturbewegung vorbehaltlos an. Jugendlichkeit, Sportlichkeit und die vorgebliche Naturnähe von Frauenkörpern sind auch in seinem Text als zentrale Werte erkennbar. Der Fokus auf die Befriedigung männlicher Bedürfnisse und Wünsche, die im Artikel als zentral präsentiert wird, widerspricht zwar teilweise der Perspektive Mensendiecks, die mehr Wert auf idealisiert ästhetische und funktionale Körperformen als auf sexuelle Attraktivität legt, der Grundtenor stimmt jedoch überein. Der Artikel offenbart also vor allem eine Diskrepanz zwischen den eigentlichen Idealen der Körperkulturbewegung und ihrer zeitgenössischen Rezeption in der Bevölkerung.