§175

§175 von Hans Hyan

Es hat den Anschein, als sollte selbst das jammervolle Machwerk von Strafrecht, das unter Bismarck Gesetz wurde, unter dem Banner der Republik in Deutschland noch hundertfach verschlechtert und verbösert werden. Der uns zugedachte Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches ist die Inkarnation aller Juristenweisheit und Justizhärte. Er überteufelt das geltende Straf-Unrecht. Das Wort stammt aus Johannes Werthauers zündender Streitschrift: ‚Strafunrecht, Beitrag aus der Praxis‘ (im Verlag Alfred Pulvermacher & Co. zu Berlin W 30). In dem Abschnitt ‚Sittlichkeitsdelikte‘ sagt Werthauer mit voller innerer Berechtigung: „Der Geschlechtstrieb darf nicht Objekt der Gesetzgebung sein . . . Nur, weil das Rechtsgut einer andern Person verletzt wird, darf Bestrafung angedroht werden . . . Wenn beide Personen freimündig, im vollen Bewußtsein sind, so hat die Strafgesetzgebung den Eingriff in die Rechtssphäre zu verneinen . . .“
Was will nun der neue Entwurf? Er sagt unter § 267: Ein Mann, der mit einem andern Mann eine beischlafähnliche Handlung vornimmt, wird mit Gefängnis bestraft. Ein erwachsener Mann, der einen männlichen Jugendlichen verführt, mit ihm Unzucht zu treiben, wird mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. Ebenso wird ein Mann bestraft, der mit einem Manne gewerbsmäßig oder unter Mißbrauch einer durch Dienst- oder Arbeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit Unzucht treibt. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren.
Das heute geltende Gesetz sagt dagegen unter § 175: Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen, auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Die die Sodomiterei bestrafende Bestimmung ist danach fortgefallen. Und von einem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sagt der neue Entwurf in § 267 nichts mehr. Aber damit, daß er eine Strafverschärfung bis zu fünf Jahren Zuchthaus festsetzt, ist nach Abschnitt XXVIII § 31 der Preußischen Prozeß-Ordnung die dauernde Unfähigkeit, in Heer und Marine zu dienen, sowie die dauernde Unfähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, verbunden. Auch kann nach Abschnitt XXVIII § 32 neben der Zuchthausstrafe auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Von einer Besserung der Bestimmung zugunsten des Verurteilten ist also keine Rede.
Im neuen Entwurf soll erstens der Mann, der mit einem Manne beischlafähnliche Handlungen vornimmt, mit Gefängnis bestraft werden… Die Dauer der Strafe ist nicht begrenzt, wird also ins richterliche Ermessen gestellt.

Und in Abschnitt XXVIII § 16 der Straf-Prozeß-Ordnung heißt es:
Der Höchstbetrag der Gefängnisstrafe ist. fünf Jahre, ihr Mindestbetrag ein Tag. Was sind nun „beischlafähnliche Handlungen“? Der Kommentar von Dr. A. Dalke sagt darüber:
Eigentliche Päderastie (coitus in anum) oder immissio seminis ist nicht notwendig. Immer aber wird Berührung des männlichen Gliedes mit dem Körper der andern Person verlangt (also zum Beispiel coitus in os oder inter genua). Der Körperteil der passiven Person braucht nicht entblößt zu sein. Wechselseitige Onanie fällt nicht unter § 175.
Wenn also in der Begründung zum neuen Strafgesetzentwurf behauptet wird, der neue § 267 stelle die Tragweite der Bestimmung dadurch klar, daß er nur die „beischlafähnlichen Handlungen“ mit Strafe bedrohe, so ist dies eine neue Tartüfferie. Das Einzige, was § 267 nicht bestraft, die mutuelle Onanie, war und ist auch nach dem jetzt geltenden § 175 nicht strafbar.
Zweitens wird in §267 von dem „erwachsenen Mann“ gesprochen, ,,der einen männlichen Jugendlichen verführt“, mit ihm Unzucht zu treiben. Er soll mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft werden. Als „Jugendlicher“ gilt der Mensch bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr, mithin bis zu einer Zeit, wo der Durchschnittsdeutsche — nicht nur der Arbeiter! — seine Lehrjahre absolviert hat und bereits seinen Lebensunterhalt erwirbt, also auch schon selbständig ist. Daß ein solcher Mensch einen besondern Hüter im Gesetz braucht, der seine Unschuld beschirmt, das kann keinem lebendig Fühlenden und Denkenden einleuchten. Es kommt aber hinzu, daß das tiefste Wesen der Männerfreundschaft damit doppelt getroffen wird. Vielleicht das Schönste und am meisten Anerkennenswerte in der Männerliebe ist grade das Verhältnis des ältern zum jüngern Manne. Ich habe solche Verhältnisse beobachtet und gefunden, daß hierbei reife, gebildete, oft bedeutende Männer von ihrem Wissen, ihrer Erfahrung, aber auch von ihrer materiellen Besserstellung an den jüngern abgaben, daß sie ihn bildeten, ihn aus niederer Lebensstellung emporhoben. Zweifellos gibt es unter solchen Jünglingen auch nicht homosexuell veranlagte; doch gehen diese später auf die Lebens- und Liebesseite, die ihnen die Natur angewiesen hat, zurück. Sie schließen Ehen, gründen Familien, und es kommt nicht selten vor, daß ihnen der einstige „Freund“ auch dann noch hilfreich zur Seite steht, obgleich die Liebesbeziehungen längst aufgehört haben . . . Ich bin durchaus der Ansicht, daß man das Schutzalter beim jungen Mann bis zum sechzehnten Lebensjahr festsetzen soll (also ebenso wie beim jungen Mädchen) —. was darüber ist, das ist vom Übel. Und dies „darüber“ wird dem Erpressertum in ungeahnter Weise Vorschub leisten. Dem Jugendlichen gegenüber wäre nämlich schon die mutuelle Onanie strafbar; ja, es ließe sich wohl denken, daß ein beson¬ders heikles Gericht in gegenseitiger Umarmung und im Kuß bereits den Tatbestand des § 267 oder doch den Versuch dazu erblicken könnte, Und die Strafe soll hier wenigstens sechs Monate betragen. Man stelle sich einen Gerichtshof etwa von der Art der bekannten Siegert-Kammer vor: da werden die Jahre Gefängnis nur so herabhageln auf die Unglücklichen, denen Stiefmutter Natur eine verkehrte Einstellung mitgegeben hat.
Drittens heißt es in dem neuen Paragraphen: Ebenso wird ein Mann bestraft, der mit einem Manne gewerbsmäßig Unzucht treibt.
Hier zeigt die Bestimmung einen groben Denkfehler und liefert den Beweis, wie wenig der Herr Gesetzgeber selbst tatsächlich in die Materie eingedrungen ist. Man will nämlich mit diesem Satz dem männlichen Prostituierten, dem Lustknaben zu Leibe gehen. Der Paragraph aber sagt: der „Mann“ wird bestraft. Die urnische Dirne ist sehr oft unter achtzehn Jahre alt, also kein Mann, sondern ein Jugendlicher, der logischer Weise nicht bestraft werden dürfte. Ist er doch nach Auffassung des Gesetzes „schutzbedürftig“ und jetzt oder vorher verführt worden. Aber die juristische Logik und Das, was wir Andern darunter verstehen, sind diametral entgegengesetzt. Die sogenannte „Begründung“ klärt uns darüber auf, wenn sie sagt:
Die Strafe trifft beide Teile, auch wenn nur der eine tätig wird und der andre die Tätigkeit nur duldet. Insoweit bedeuten die Worte: „mit einem andern Manne vornimmt“ das Gleiche wie die Worte: „mit einander vollziehen“ in § 263 Absatz 2 Satz 2.
Also bei der „Verführung“ ist der Jugendliche unmündig, aber der Rache des Gesetzes gegenüber — denn nur darum handelt es sich — ist er mündig, vollverantwortlich und strafbar! Übrigens, sagt man uns zur Beruhigung, sind unter Jugendlichen (§11 Nummer 1) nur Personen zu verstehen, die vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt sind. Das heißt: ein vierzehn Jahre alter Junge, der in der Tat verführt worden ist, kommt dafür ebenfalls in Gefängnis . . . Ich meine: grade in diesem Absatz liegen so schwere und tragische Gesetzessünden, daß sie in ihrer Anwendung und Wiederholung nur denkbar und erklärlich werden durch die einfach unbelehrbare Überheblichkeit und die erschreckende Unbildung des Justiz-beflissenen, an dem die Jahrhunderte der biologischen und psychologischen Entwicklung leer und tonlos vorübergerauscht sind… „Uns ist die Wissenschaft Hekuba,“ sagte mir nach hitziger Debatte ein Richter, „wir sind Juristen“.
In den beteiligten Kreisen wird fälschlicher Weise vielfach angenommen, der § 267 des neuen Entwurfs wolle nur noch Den treffen, der sich gegen Entgelt zur urnischen Liebe hergebe. Dieser an sich verhängnisschwere Irrtum wäre nebenbei ein grausames Unrecht, das sich allerdings dem kapitalistischen Charakter unsrer ganzen Gesetzgebung einfügen würde. Laufen etwa die Kinder der wohlhabenden Bürger als Strichjungen herum? Allerdings hat der Krieg der Männerliebe Tausende von Adepten auch aus den Kreisen des Besitzes zugewandt. Denn es ist eine von den zahllosen Auswirkungen des „Stahlbades“, daß es die im Heereskörper zusammengepferchten, meist noch jungen Soldaten aus reiner Geschlechtsnot zu allerlei Verirrungen „erzieht“, daß es sie der Verführung durch Kameraden und besonders durch Vorgesetzte leichter zugänglich macht. Aber im Frieden sind es die Söhne der Armut, die sich für Geld mißbrauchen lassen. Und das ist die Pflicht des Staates, die Abirrenden körperlich und seelisch zu ertüchtigen, nicht sie durch sinnlose Bestrafung immer weiter ins Dunkel zu treiben.
Viertens soll straffällig sein, wer durch Mißbrauch einer im Dienst- oder Arbeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit einen Andern sich gefügig macht. Diese Bestimmung hat gewiß Vieles für sich. Nur wird sich der Richter dabei fast stets auf die Beschuldigung durch den „Verführten“ verlassen müssen, dem dadurch allzu nahe gelegt wird, seinen frühern Freund, in dessen Geschäft er vielleicht angestellt war, und der ihn wegen Faulheit oder Unbotmäßigkeit entlassen mußte, ins Gefängnis zu bringen . . . Auch dieser Teil des neuen Paragraphen, so beachtenswert er an sich sein mag, bedarf einer gründlichen Durcharbeitung und Substanziierung, ehe er Gesetz wird.
Am furchtbarsten ist der Schluß des Artikels:
In besonders schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren.
Was sind „besonders schwere Fälle“? Liegen sie in der Wiederholung des Delikts? Das würde grauenvolle Perspektiven eröffnen. Man denke nur an die knifflige Unterscheidung von „fortgesetzter Handlung“ und von mehreren „selbständigen Handlungen“. Es könnte leicht dazu kommen, daß ein Gleichgeschlechtlicher, der im Lauf der Jahre mit verschiedenen Personen zu tun hatte — im Gegensatz zu einem Andern, dem nur Ein „Verhältnis“ nachgewiesen ist —, als „besonders schwerer Fall“ mit Zuchthaus bestraft wird. Zwar wird am Schluß der Begründung des § 267 gesagt, daß bei Androhung der Zuchthausstrafe insbesondere an die männliche Prostitution gedacht ist, die eine Brutstätte des Verbrechertums sei und die gleichgeschlechtliche Unzucht vornehmlich fördere. Aber abgesehen davon, daß auch hier wieder Ursache und Wirkung mit einander verwechselt werden — denn nicht die gleichgeschlechtliche Unzucht wird durch die Prostitution gefördert, sondern das Bedürfnis nach Männerliebe ruft die männliche Prostitution hervor! — zeigt sich deutlicher als irgendwo der Pferdefuß der kapitalistischen und antisozialen Gesinnung des Gesetzes, dessen mitleidloseste Härte nicht den Veranlasser der gesetzwidrigen Tat, sondern sein Opfer treffen soll. Und außerdem kann diese Begründung keinerlei Gewähr schaffen für die Auslegung, die die eifrigen Jünger der Themis dem Paragraphen später in praxi geben werden.
Die Begründung des neuen Paragraphen sagt selbst, daß die stete Gefahr einer Bestrafung für die Gleichgeschlechtlichen eine Härte bedeutet, und daß die Bestrafung unter Umständen geeignet ist, die Existenz des Betroffenen zu vernichten. Sie gibt zu, daß das Gesetz ungleichmäßig wirkt, weil die große Mehrzahl der Strafhandlungen unentdeckt bleibt. Auch daß der § 175 in besonderm Maße zu gefährlichen Erpressungen Anlaß gibt. Aber weit entfernt, aus diesen Prämissen den einzig richtigen Schluß zu ziehen, nämlich den gegen Natur und inneres Recht gerichteten Paragraphen aufzuheben, verschanzt sie sich hinter der Schranke, die dieses Gesetz für die „Gesundheit und Reinheit unsres Volkslebens“ bedeute. Zwar sei der gleichgeschlechtliche Trieb oft angeboren, doch ebenso oft entsprängen die gegen § 175 gerichteten Handlungen der Verführung und Übersättigung. Oder die gemeinten Personen verfielen aus Gewinnsucht dem Laster.
Und da sind wir endlich an dem Punkte, aus dem dieses total verkehrte Gesetz verständlich wird.- Der „moderne“ Jurist steht heute noch unter der Fiktion, daß die Geschlechtsbefriedigung nach dem von ihm verfaßten Kodex vor sich zu gehen habe. Was dieser nicht sanktioniert, ist „Laster“ und deshalb strafbar. Bewußt oder unbewußt entspringt diese mittelalterliche Vorstellung religiösen Begriffen, die die Geschlechtlichkeit am liebsten ganz ausmerzen würden. Der Jurist verwechselt, wie Werthauer richtig sagt, den Geschlechtstrieb, der niemals Objekt der Gesetzgebung sein dürfte, mit der unrechtmäßigen Betätigung des Triebes, durch welche das Rechtsgut einer andern Person, in diesem Falle sein Körper, verletzt wird. Diese Betätigung sollte bestraft werden, nicht der Trieb an sich. Wenn also zwei freie, lebensmündige, vollbewußte Personen, gleichgültig welchen Geschlechts, mit einander in sexuellen Verkehr treten, so hat die Justiz nichts hineinzureden.
Ergo: der § 267 des neuen Entwurfs ist ebenso wie der § 175 des alten abzulehnen. Für den Schutz der Jugendlichen bis zum sechzehnten Jahr genügen vollauf die dahingehenden Strafbestimmungen.

Weltbühne, Heft 25, S. 969-973, 22.06.1926.

Kommentar:

Unter Otto von Bismarck entstand im Januar 1872 der Paragraph 175 im Zusammenhang mit dem Reichsstrafgesetzbuch, das im selben Jahr in Kraft trat. Die Formulierung des Paragraphen übernahm Bismarck aus dem Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851, das besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren verübt wird, ist mit Gefängniß von sechs Monaten bis zu vier Jahren, sowie mit zeitiger Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu bestrafen.“ 

Nachdem der §175 von den Nationalsozialist*innen im Jahr 1935 zum §175a verschärft wurde (ein bis zehn Jahre Zuchthaus als Strafe), wurde er von der BRD und zeitweise von der DDR übernommen. Erst nach der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten wurde der §175 im Jahr 1994 für Gesamtdeutschland aufgehoben. 

Bemerkenswert ist, dass der Artikel von männlicher Sexualität unter Männern spricht, jedoch weibliche Homosexualität dabei ausklammert.