Bewegungskunst

Bewegungskunst / Lisbeth Stern

Allgemeines Wenn eine neue Rundschau Bewegungskunst in den So­zialistischen Monatsheften eingeführt wird, so soll ihr Gegenstand nicht etwa nur der Tanz sein, sondern das Motorische überhaupt, das jetzt über­all so besonders stark im Vordergrund steht. Jede Zeitspanne ist für uns ge­drängt angefüllt. Zum großen Teil ist das schon durch die neue Lebenstechnik bedingt. Die Möglichkeit nicht nur das Nächste um mich herum sondern auch ganz Entferntes miterleben zu können reizt ganz gewaltig. Dieses Mehr von zu Erlebendem gibt aber nicht nur das be­schleunigte Tempo, es ändert und kom­pliziert den ganzen Rhythmus des Le­bens um ein Wesentliches. In früheren Epochen, in denen die Bewegung domi­nierte, wie etwa im Barock, war sie viel einfacher, da sie fast ganz an den Menschen gebunden war. Sie ging von ihm aus und ergoß sich in großen brei­ten Wellen in den übrigen Raum, Jetzt stehen wir aber mitten in einem Kraft­feld von sich kreuzenden Bewegungen, und da nur einigermaßen klare Rhyth­men herauszufühlen und durch sie in Schwung zu kommen verlangt fast neue Sinne. Es ist, als wäre man ein Radio­apparat, der nicht auf eine einzige Welle eingestellt ist sondern fast auf die ganze Welt. Wir fühlen die langen weiten Spannungen von Amerika mit seinen ägyptischen Riesenbauten, in denen die Menschen nur wie ein Flachrelief drin- sitzen, dann die ganze bizarre Beweglich­keit der Neger, dann den monotonen Takt der Maschinen und den dunklern und fernem Unterton der Schar der Ar­beiter, dazwischen dann noch die freieren Wellen der Naturgeräusche von Wind und See. Das Übereinander aller dieser Rhythmen gibt natürlich ganz kompli­zierte und tausendfältig überschnittene Formen. Man spürt Bewegungen von verschiedenster Richtung, die im Treffen aufeinanderprallen und sich verschlucken, so wie in der Synkope der jetzigen Tänze, die im Tanzen selbst durch eine kleine Gegenwelle im Körper ausge­drückt wird.

Dieses Durcheinander der Kräfte ist so groß, daß der einzelne sich in einer Art Selbstschutz genötigt sieht allen Indivi­dualismus schleunigst aufzugeben. Was bis jetzt aus diesem neuen Weltgefühl an größerer Kunst sich herausgeschält hat, ist noch nicht viel: Walt Whitman und wenige andere. Dafür haben, außer dem Kino, das am meisten berufen ist die neuen Bewegungselemente in die Er­scheinung treten zu lassen, ganz unver­merkt inzwischen die anderen, die Künst­ler linker Hand, sich den Thron erobert: die vom Variété, aus den Tanzdielen, den Kaffeehäusern und den Revuen. Da ist nichts mehr von der Weihe und dem Schwung des Dreivierteltakts. Etwas lar­venhaft sieht so ein Massentanz im Ball­saal aus, und dabei ist die Körperhaltung der einzelnen lose, beinahe willenlos.

Negerrevus Am charakteristischsten für diese moderne buntgewür­felte Kunst ist die Neger­revue, die aus Paris kam und dann im Nelsontheater in Berlin zu sehen war. In den Negern lebt der afrikanische Bar­barismus noch einigermaßen fort; dann Amerika und auch Paris, am wesentlich­sten aber Afrika, Keinem Europäer sitzen die Glieder so lose wie ihnen, so daß ihr Körper für die furiosesten Rhyth­men ein absolut gefügiges Instrument ist. Ob es die Trommel ist, ob es die Beine sind, das wird einem im Gefühl voll­ständig eins. Und so ungebunden gehen die Neger mit dem allen um, daß sie mitten in ihre Tanzschritte irgendeinen Jux im Gleiten oder Rutschen einfügen oder in ihre Musik ganz falsche gezogene Töne. Diese Musik haben sie schwerlich in Noten aufgeschrieben. Alle Mitglieder des kleinen Orchesters spielen aus dem Kopf, ohne Dirigenten; man glaubt eine Improvisation zu hören. Der melodische Inhalt dieser Stücke ist Produkt euro­päischer Musikkultur, aber beinahe ne­bensächlich gegenüber der Art und Weise, wie die Stücke gespielt werden. Die rhythmische Intensität ist ungeheuer. Der Neger, der die Schlagzeuge bedient, ist fast die Hauptperson. Man kann nicht von Präzision sprechen, sie ist nicht das Wesentliche; aber von der fast besessenen Energie, mit der der Rhyth­mus hingehämmert wird. Dann die faszi­nierenden Klangfarben des Saxophons, der Metallklarinette und der gestopften Trompete: das geht alles mit einer Wild­heit durch einander, als brächen musi­kalische Urinstinkte durch.

Unter den Einzelkräften der Truppe machte Joséphine Baker den meisten Eindruck: ihre Jugend und die Kraft und Glätte ihrer Glieder, ganz streng, ohne irgendetwas von malerischer Verschleie­rung, dabei kompakt in der Form: alles das, was die jetzige Malerei sucht. Und dann der kleine runde Neger mit dem ahnungslosen Gesicht, der seinen Salto schlug wie ein Wunder, das ihm passierte.

Wigman Neben diesen aus der Exo­tik stammenden Rhyth­men steht Mary Wigman da wie ein Vertreter des Germanentums. Ihre Kompositionen sind in ihrer Klar­heit und Durcharbeitung geradezu klas­sisch, aber sie tragen auch alle Schwä­chen der Klassik an sich. Um in dem Bild von vorher zu bleiben: Es ist, als wenn sie einen, meinetwegen auch 2 oder 3 Rhythmen heraushöbe, um sie in ihrem Ablauf bis zu einem Endpunkt, der dem Anfangspunkt entspräche, durchzufüh­ren. Aber was wir in unserer modernen Welt gelernt haben: jede Bewegung eigentlich immer in dem ganzen Kom­plex der sie begleitenden zu denken, um aus ihm heraus erst die einzelnen Be­schleunigungen und Verlangsamungen zu verstehen, das fehlt gänzlich, und das gibt der ganzen Sache eine Starrheit, die auf die Dauer leer wirkt. Die recht kon­struierte Idee des „absoluten Tanzes“ steht da wohl im Weg. Die Musik ist Wigman nur Begleitung im ganz äußerlichen Sinn, und daß sie an dem leeren Bombast der von ihr benutzten Musik keinen An­stoß nimmt, ist unverständlich. Wieviel mehr Fülle und Reichtum hätte das Ganze, wenn sie zum Beispiel die Sing­stimme einer Händelschen Arie tanzte, und der Chor die einfache Begleitung. Die Musik schwingt ja doch wieder anders als die Bewegung, in einer andern Ebene gleichsam, und das Aufnehmen wäre durch sie ungleich voller und reichhal­tiger. In der Komposition der Gänge (man nennt das wohl Raumaufteilung) ist kaum jemand so feinfühlig und geistvoll wie Wigman. In dieser Beziehung hat auch der Totentanz ausgezeichnete Momente. Die Bewegung geht manchmal in so vol­lem Strom, daß die Körper selbst ohne Schwere in ihm zu schwimmen scheinen. Und doch ist in dem Ganzen kein Blut. Aber Pathos ohne Blut und ohne wirk­liche Notwendigkeit gleitet im Handum­drehen hinüber ins Komische. Darin sind wir jetzt besonders nüchtern gestimmt.

Laban Der Plan Rudolf von La­bans (aus dessen Schule Mary Wigman hervorging) eine Kammertanzbühne zu gründen ist unbedingt einleuchtend. Überall sind auf dem Gebiet des Tanzes neue Versuche, und die neue Bühne zu schaffen, auf der die verschiedenen Versuche sich zeigen und sich an einander messen können, wäre ein außerordentlicher Gewinn. Eine gute Nebeneinanderstellung kann für jeden Teil Vorteil bedeuten. Vorläufig sieht man in der Labanbühne nur ihn und seine Gruppe. Daß Laban den Komponisten von den Ausführenden trennen will, ist sehr berechtigt. Aber wir haben vorläufig erst sehr wenig Übung den Tanz unabhängig von der Ausführung zu beurteilen; auch sollte man denken, daß er viel direkter mit ihr verbunden ist als etwa die Musik, zumal er vorläufig auch noch gar nicht über eine wirklich nuancierte Schritt verfügt. Laban hat nun in seiner Gruppe heute kaum Tänzer wirklich ursprüng­licher Art. Dussia Bereska, die Haupt­kraft, ist schön und intelligent und macht besonders im Hanaetanz aller­hand gute Sachen, aber nie empfindet man sie als eine „Tänzerin“. Una ähn­lich liegt es auch mit Laban selbst. Es ist, als wenn er zu seinem künstleri­schen Produzieren ein Urgan hatte, das mehr im Kopf sitzt als im Leib. Das hindert natürlich nicht, daß seine Phan­tasie glänzend, beweglich und vor allem umlassend ist. Man braucht nur das Programm zu lesen: »Kreuzgange, Gebet, Orcnidee, Lustleid, Opfertänze, Homun­kulusklub der Sonderlinge«; alles, was es gibt, ist auch vertanzt. Aber schon aus dem Umfang könnte man schließen, daß der Zusammenhang mit dem ein­zelnen Kunstgebilde kein innerlich ganz notwendiger ist. Laban gehört zu jenen, die in erstaunlichem Grad alles können. Die Sachen sind olt sehr gut, vor allem sehr anregend; die Einfalle und Kombi­nationen von Bewegungsstil, Farbe und Buhneneinteilung sind oft ganz ausge­zeichnet, und besonders die Betonung des Männlichen im Tanz ist von unge­heurem Wert. Trotzdem ist es Kopf­arbeit. Das braucht an sich keine Ge­ringschätzung zu bedeuten. Intellek­tuelle im Stil Labans tun eine ausge­zeichnete Pionierarbeit. Mit ihrem revo­lutionären und unbeschwerten Intellekt scheuen sie vor nichts zurück. Sie ver­suchen dieses und jenes und öffnen dem eigentlichen Wachstum der Kunst wohl manche neue Wege. Eine kleine innere Wendung, ein mehr innerliches Verhält­nis zu dem, was hier nur ein künstleri­scher Einfall ist, könnte manches viel­leicht schon zur Kunst machen.

Etwas noch fehlt bei Laban: die Heiter­keit. Und das hat wohl auch tiefere Gründe. Zuerst glaubt man, das Lachen überhaupt sei verpönt. Doch das stimmte gar nicht; es kamen nachher viele und sehr gute Grotesken. Aber das Lachen aus innerer Freude an der Kunst, das auch gerade beim Tanz so eine beson­dere Rolle haben kann, das war nicht da.

Impekoven Was wäre die Kunst, wenn nicht zwischen all diesen Richtungen, die hierhin und dorthin weisen, ein Mensch stünde wie Niddy Impekoven, so rein und so abge­schlossen von der Natur gefügt wie sel­ten ein Wesen? Sie kam, ein kleines Mädchen, vor 6 Jahren (siehe die Rund­schau Bühnenkunst, 1920 I Seite 113 und folgende), und sie blieb dann, in aller Stille, sie selbst. Das Tanzen ist für Niddy Impekoven nicht eine Tätigkeit, Sie ist eben Tänzerin in ihrem innersten Wesen, das in ihren Tänzen zu uns spricht. Über einzelnes in ihrer Kunst etwas zu sagen ist besonders schwer. Immer wieder steht man zu ihr ganz persönlich. Bei Anna Pawlowa, auch bei Mary Wigman, bleiben doch oft die Tänze in Erinne­rung als eine Leistung, die außerhalb ihrer in die Welt der Kunstwerke ein­gereiht ist. Wenn einem Niddy Impe­koven aber in Erinnerung kommt, dann muß man still lachen wie bei der Er­innerung an einen schönen Frühlingstag. Ich kann auch nicht einmal sagen, daß mir ihr Vorkommen beim Klatschen der Leute weniger gewesen wäre als ihre Tänze. Sie darf sich über eine solche Einschätzung nicht kränken. Es gibt sicher Künstler, bei denen sie selbst das eigentliche Kunstwerk sind, und bei denen man sich mit seinen Dankgefühlen mehr an die Natur wendet als an den Autor. So ist es mit Impekoven. Auch ihr Humor und ihre ganz drollige Komik fließen durch sie hindurch und lassen nichts Bewußtes, nichts Kritisches in ihr frei. So steht sie auf der Bühne ganz zart und rührend, wie ein stilles und einzig liebes Wunder.

Sozialistische Monatshefte, Bd. 63, Heft 4, S. 266-269, 04.1926.

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