Arbeitskreis Historische Demographie

Seit 1994 trifft sich der Arbeitskreis Historische Demographie zu einer jährlichen Herbsttagung (ohne Budget), stets an einem anderen Ort und mit meist im zweijährigen Turnus wechselnden Themen. Das Themenspektrum dieser Tagungen verbindet klassisch demographische Fragen (Geburtenbeschränkung, Säuglingssterblichkeit, Demographischer Übergang, kleinräumige Migration) mit solchen, die sich auf die gesellschaftliche Einbettung der Bevölkerungsprozesse beziehen (soziale Unterschiede im generativen Verhalten, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, Heiraten, Altersversorgung). Historische Demographie funktioniert zurzeit vor allem als Berührungsfläche zwischen drei Gruppen:

(1) außerhalb der Historikerzunft stehenden Demographen und Biologen,

(2) einigen innerhalb der Zunft stehenden, aber dennoch mit modernen quantitativen Verfahren arbeitenden Sozial- oder Wirtschaftshistorikern,

(3) Allgemeinhistorikern und Kulturwissenschaftlern, denen zwar demografische Methoden fremd sind, die sich aber für bestimmte Gegenstände der Historischen Demografie interessieren.

Kontakt (und Vorsitz):

Prof. Dr. Georg Fertig
Universität Halle
Institut für Geschichte
Emil-Aberhalden-Straße 25
06108 Halle (Saale)
georg.fertig@geschichte.uni-halle.de

Stellvertretender Vorsitz:

PD Dr. Rolf Gehrmann
guietgehrmann@aol.com

Tagungsbericht 2010

17. Herbsttagung des Arbeitskreis Historische Demographie der Deutschen Gesellschaft für Demographie e.V.

Tagungsorganisation: Margareth Lanzinger

Tagungsbericht von Robert Nasarek
1. Dezember 2010

Vom 29. – 30. Oktober 2010 lud der Arbeitskreis Historische Demographie der Deutschen Gesellschaft für Demographie e.V. unter der Organisation von Margareth Lanziger zur 17. Herbsttagung mit dem Thema „Verwandtschaft“ an das Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ein.

Ziel der Tagung war es ausgehend von neueren Ansätzen der Familiengeschichte Potenziale der historischen Verwandtschaftsforschung zu erschließen. Ansatzpunkt bieten hier die verschiedenen Interaktionen innerhalb und außerhalb von Verwandtschaftsnetzwerken, die vor allem den Bedeutungswandel von Verwandtschaft als soziales Sicherungssystem analysiert.

Britta Schneider (Bamberg): „dann wann das Gelt hin, werd die Vetterschaft auch aus“ Die Krisen der Familienhandelsgesellschaft der Fugger im Spiegel von Prozessakten (1560 – 1597/98)
Anhand der Familienhandelsgesellschaft der Fugger untersuchte Britta Schneider (Bamberg), ob Verwandtschaftsbeziehungen zur informellen Streitschlichtung bei (ökonomischen) Konflikten führten und damit zur Vermeidung des formellen Weges über die ordentliche Gerichtsbarkeit beitrugen. Die hohe Frequentierung des Reichskammergerichts bei Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern relativierte die Bedeutung von Verwandtschaft bei ökonomischen Konflikten. Verwandtschaft wurde zwar als strategisches Element zur gütlichen Lösung eines Konfliktes von beiden Prozessparteien angeführt, trug aber nicht effektiv dazu bei Konflikte informell zu lösen.

Christof Jeggle (Bamberg): Geschäfte unter Verwandten? Verwandtschaftsbeziehungen von Kaufleuten im transalpinen Handel des 17. Jahrhunderts
Christof Jeggle (Bamberg) untersuchte den Zusammenhang zwischen Märkten und Verwandtschaft  im transalpinen Raum des 17. Jahrhunderts durch die Betrachtung verschiedener „Familienunternehmen“. Obwohl sich Verwandtschaftsbeziehungen unter Händlern nicht zwingend zu Handelsbeziehungen verknüpften und Verwandte auch nicht schlechthin die besseren Handelspartner darstellten, ist eine Korrelation von Familienzugehörigkeit und Handelspartnerschaft zu erkennen. Abschließend wurde der Begriff der Familie im Kontext der Handelsgeschichte und das Verhältnis von Verwandtschaft und Vertrauen problematisiert. Hier wird die These aufgemacht, dass gerade familieninterne Marktstreitigkeiten zur Weiterentwicklung des Zivilrechts geführt haben könnten.

Margareth Lanzinger (Wien): Grenzen von Zahlen
Der Vortrag von Margareth Lanziger beschäftigte sich mit Verwandtenehen, Eheverboten und der Dispenspolitik der österreichischen Diözesen im 19. Jahrhundert. Ziel ihrer Untersuchungen war es, Muster räumlich differierenden Heiratsverhaltens zu identifizieren. Dazu zog sie die Dispensverteilung der jeweiligen Geistlichkeit heran. Dispensgesuche nahmen das ganze 19. Jahrhundert lang zu, trafen aber auch auf unterschiedlich starken Widerstand der Obrigkeit. Inwieweit Pastoren Dispensgesuche informell abwiesen, ist schwer zu erfassen, auch konnten nicht alle (evtl. illegalen) Eheverhältnisse aufgenommen werden. Ausdauernd und vehement vertretene Ehewünsche unter Verwandten führten auch bei stark restriktiver Dispenspolitik zur Heirat.

Michaela Hohkamp (Berlin): Viele Nichten –  großes Netz, wenig Nichten – kleines Netz. Tanten-Nichten Beziehung im 17. und 18. Jahrhundert
Die vorerst romantisch anmutende Vorstellung des Forschungsgegenstandes von Tanten-Nichten Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert relativiert sich, wenn Michaela Hohlkamp konstatiert: „Tanten-Nichten Beziehungen sind in Streitfällen zu denken“. Sie macht sich dafür stark, Politikgeschichte stärker auch als Verwandtschaftsgeschichte zu analysieren. Aus der besonders im adligen Milieu verbreiteten Heiratspolitik von Eheschließungen unter Cousinen und Cousins, konnten sich konfliktträchtige erbrechtliche Situationen ergeben. So wurde die Tanten-Nichten Beziehung zentral, wenn der Vater einer „Nichte“ starb und ihre Schwiegermutter (d. h. die Schwester des Verstorbenen) Ansprüche stellte. Daraus ergeben sich Fragen nach der Bedeutung innerfamiliärer Loyalitäten und ihrer Begründung.

Hermann Metzke (Jena): Sozialstatus und Verwandtschaftskreise im mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert
Hermann Metzke (Jena) bemerkte bei der Untersuchung von Verwandtschaftskreisen im mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert eine bestimmte Schichtung von Berufen und Sozialitäten innerhalb von Familienkreisen. Verwandte Personen bildeten ein stabiles Netzwerk von Zunfthandwerkern und Akademikern, das sich mit sinkendem gesellschaftlichem Rang aufweichte. Vor allem akademische Verwandte schienen etwa mit Familienstipendien dafür zu sorgen, dass begabte Verwandte ebenfalls einen akademischen Beruf ergriffen. Letztlich lässt sich über die Integration in Heiratskreise auch der Grad gesellschaftlicher Integration zeigen. Anhand der Gerichtsdiener wies Metzke nach, dass diese – etwa im Vergleich mit anderen unehrliche Berufsgruppen – einen weitgehend in sich geschlossenen Heiratskreis bildeten.

Klaus Ries (Jena): Wissen als soziales Kapital: Netzwerkbildungen in WeimarJena um 1800
Klaus Ries (Jena) stellte das Projekt „Wissen als soziales Kapital“ vor. Vergleichend untersucht wurde die Netzwerkbildung um 1800 in Weimar und Jena, wobei zum einen das Expansionspotenzial der höfisch-elitären Kultur und zum anderen die Verbreitung von Ideen und kultureller Innovation über personelle Netzwerke betrachtet wurden. In Weimar griffen adelig-höfische Exklusivtendenzen auf das meist zugezogene Bürgertum über. Anhand von Heiratsverhalten von Professoren und Patenschaften in Jena zeigt sich, dass Kultur und Wissen als soziales Kapital genutzt wurde und sich somit Ideen an bestimmte Netzwerke knüpften. Tendenziell lässt sich eine Einbindung der Professorenschaft durch Patenschaftsbeziehungen mit Impuls aus dem Stadtraum konstatieren, die langfristig auch zu kulturellen Transfers führten.

Siegfried Gruber (Rostock): Patrick Heady (Halle): Household structures and marriage networks in contemporary Europe
Das KASS Projekt (Kinship And Social Security) untersucht die gegenwärtige Bedeutung von Familien-Netzwerken für die soziale Absicherung und Unterstützung von Menschen. Siegfried Gruber (Rostock) stellte die Ergebnisse der Untersuchung von 19 Orten aus acht europäischen Ländern vor. Im Fokus stehen verschiedene Parameter, welche die Bedeutung von verwandtschaftlichen Sicherungssystemen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und räumen vergleichend analysieren. Als Ergebnis lässt sich eine Dominanz verwandtschaftlicher Beziehungsformen im ländlichen Raum feststellen, während größere Städte mit einer Konzentration auf Freundschaft und nichtverwandtschaftlicher Beziehungen konträre Verhaltensmuster zeigen.

Christine Fertig (Münster): Soziale Beziehungen und familiäre Strategien in der ländlichen Gesellschaft: Verwandtschaft, Patenschaft und soziale Klassen (Westfalen, 19. Jahrhundert)
Anhand von Verwandtschaftsbeziehungen und Heiratsnetzwerken in den westfälischen Betrachtungsorten Löhne und Borgeln analysierte Christine Fertig (Münster) Klassenbildungstendenzen und Strukturen der Protoindustrialisierung in der ländlichen Gesellschaft. Dabei erweist sich im agrarisch organisierten Borgeln eine andere Dimension von Verwandtschaft als im protoindustriell bestimmten Löhne. In Löhne gab es eine breitere Integration verschiedener sozialer Gruppen, während sich in Borgeln eine Bevorzugung naher Blutsverwandte bei der Eheschließung konstatieren lässt. Soziale Klassenbildungen erfolgten somit eher über Erbschaftsbeziehungen und Verwandtschaft, als über eine Orientierung an einer ökonomischen Klasse.