Was ist, wenn sich die Erinnerungen unterschiedlicher Zeitzeug*innen widersprechen?
Von der virtuellen Führung durch die ehemalige Haftanstalt in der Andreasstraße ist mir eine Erzählung besonders im Gedächtnis geblieben. Sie handelte von widersprüchlichen Berichten ehemaliger Inhaftierter. Zum Beispiel heben manche in ihren Erzählungen hervor, es sei Glas im Essen gewesen, andere haben jedoch nichts an den Mahlzeiten zu bemängeln. Einige reden von Feindschaften und körperlicher Gewalt zwischen den Insassen der Gemeinschaftszellen, während weitere eine immense Solidarität unter den Inhaftierten beschreiben.
Doch wie kann es sein, dass Zeitzeug*innen so unterschiedliche Dinge schildern? Nun, dafür könnte es einige einfache Gründe geben: Vielleicht stammen die widersprüchlichen Aussagen von Leuten, die nicht gleichzeitig oder zumindest in unterschiedlichen Zellen in der Andreasstraße inhaftiert waren. Möglicherweise hatten manche auch einfach Glück und andere eben Pech. Vielleicht wich das Zusammenleben in unterschiedlichen Gemeinschaftszellen voneinander ab und es wurde nicht bei allen im Essen Glas untergemischt. Doch was ist, wenn nichts dergleichen zutrifft und sich einige Zeitzeug*innen einfach „falsch“ erinnern?
In einem Seminar über Oral History und den Umgang mit lebensgeschichtlichen Interviews lernte ich, dass dies durchaus vorkommt. Als Grundlage beschäftigten wir uns dort mit zwei Texten, die Aufschluss über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen geben. Der eine stammt vom Neurobiologen Wolf Singer und der andere vom Sozialpsychologen Harald Welzer. Beide richten sich an Historiker*innen und erklären aus Sicht ihrer jeweiligen Disziplinen, wie Menschen wahrnehmen, erinnern und vergessen.
Einige wichtige Erkenntnisse aus den Texten: Wahrnehmen und Erinnern sind hoch komplexe, sehr fehleranfällige Prozesse, die mit viel Interpretation und Konstruktion einhergehen. Erzählungen von Menschen können uns daher bestenfalls eine Ahnung von dem geben, was tatsächlich passiert ist und müssen immer hinterfragt werden. Das liegt jedoch keinesfalls daran, dass bewusst gelogen, verschleiert oder verdreht wird. Unser menschliches System ist einfach nicht darauf ausgerichtet, Erlebtes korrekt und detailliert wiederzugeben. Stattdessen arbeiten unsere Gehirne ständig daran, unseren Erlebnissen einen Sinn zu geben. Dabei spielt auch der zeitliche Faktor eine Rolle. Umso länger das Erlebte zurückliegt, desto mehr Zeit hatten wir für die Sinnstiftung und desto unzuverlässiger werden Erinnerungen. Sie verändern sich mit der Zeit, gehen verloren oder werden komplett neu konstruiert. Dabei können uns auch Erinnerungen von Anderen, die wir aus Gesprächen, Filmen, Büchern oder Ähnlichem erfahren haben, beeinflussen und sogar für die eigenen gehalten werden.
Eine ausführlichere, hoffentlich recht anschaulich gewordene Zusammenfassung der beiden Texte inklusive einiger Beispiele findet sich im Beitrag „Vom Wahrnehmen, Erinnern und Vergessen“.
Doch wurde dem Essen der Inhaftierten nun Glas beigemischt oder nicht? Und wie war das Zusammenleben in den Gemeinschaftszellen wirklich? Um möglichst nahe an die Wirklichkeit heranzukommen, gibt es einige Möglichkeiten. Am vielversprechendsten wäre es, wenn sich zu diesen Gegebenheiten Dokumente aus der Zeit finden ließen, wie beispielsweise schriftliche Anweisungen und Berichte von Angestellten oder Briefe und Tagebucheinträge von Häftlingen sowie ihren Angehörigen.
Außerdem könnten so viele Zeitzeug*innen wie möglich befragt und dann geschaut werden, ob sich Tendenzen abzeichnen. Bei den einzelnen Berichten der Zeitzeug*innen könnte zusätzlich versucht werden, Sinnstiftungsprozesse und übernommene Erinnerungen zu rekonstruieren, wobei dies sehr schwierig und oft nicht möglich ist. Unter anderem die Historikerin Dorothee Wierling bietet gute Grundlagen-Literatur zur Auseinandersetzung und Interpretation von Zeitzeug*inneninterviews.
Im Endeffekt kann in vielen Fällen vermutlich nie mit Sicherheit beantwortet werden, was wirklich passiert ist. Quellenarbeit ist immer auch Interpretation und so ist auch Geschichte immer eine Frage des Blickwinkels. Historiker*innen dürfte dies bewusst sein, doch trifft das ebenso auf den Rest der Bevölkerung zu? Mir stellt sich die Frage, wie in der Geschichtsvermittlung mit alldem umgegangen werden sollte. Ich persönlich finde es durchaus wichtig, derartige geschichtswissenschaftliche Grundlagen in die Öffentlichkeit zu tragen und somit kritisches, wissenschaftliches Denken zu fördern. Dabei könnten auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie der Neurobiologie oder Sozialpsychologie, wie sie im Beitrag „Vom Wahrnehmen, Erinnern und Vergessen“ geschildert werden, mit einfließen. Beispiele wie jene zu Beginn des Beitrages könnten in Gedenkstätten und Co als Aufhänger für die Auseinandersetzung dienen. Was denkt ihr dazu?
Leider habe ich während des Workshops versäumt zu fragen, wie dies in der Andreasstraße gehandhabt wird. Doch vielleicht liest hier ja jemand von der Gedenkstätte mit und kann berichten.
Literatur:
- Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, URL: https://brain.mpg.de/297616/historikertag.pdf, Aufgerufen am 10.06.2021.
- Harald Welzer, Die Medialität des menschlichen Gedächtnisses, in: BIOS 21 (2008), S. 15– 27. Einsehbar unter: https://www.budrich-journals.de/index.php/bios/issue/view/109 (Aufgerufen am 10.06.2021).
- Dorothee Wierling, Oral History, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151.