Wo ist Lucie Höflich? von Kurt Bromberg
Soll man den Berlinern erzählen, wer Lucie Höflich ist? Es scheint notwendig, wenn Theaterdirektoren an einer der größten Darstellerinnen Europas kaltblütig vorübergehen. Vielleicht spielt sie in Wien, vielleicht feiert sie irgendwo verärgert und entbehrt das Theater, wie ein Reh den Wald entbehrt, darin es aufgewachsen.
Wer ihre Laufbahn verfolgt hat über Fausteas Gretchen, über Tolstois Frau des Fedor Protassow bis zu Gerhart Hauptmanns Hanne Schäl, Rose Bernd und Frau John, wer ihr Dienstmädchen in ,Liliom‘ gesehen hat und ihre wundervolle Leistung in ,Sechs Personen suchen einen Autor‘ kennt, der faßt sich an den Kopf und fragt, wie man eine solche Kraft pausieren lassen kann.
Keine Stadt der Welt hat eine ähnliche Menge hervorragender Bühnenkünstler aufzuweisen wie Berlin – und dennoch: gibt es für Indolenz eine Entschuldigung? Theater sind genug da. Der Hunger des Publikums nach Talenten und gar nach einem Genie ist gewaltig. Aber kein Thespis denkt daran, diesen unsern Hunger nach Lucie Höflich zu sättigen. Ja, ist denn auch Max Reinhardt so alt geworden, daß er nicht mehr weiß; wen er in Lude Höflich der deutschen Bühne zugeführt hat, und daß diese Lucie Höflich für ihr Teil nicht ein bißchen gealtert ist?
Die Weltbühne, Heft 15, S. 594, 13.04.1926.
Kommentar:
Lucie Höflich (1883-1956) begann ihre Theaterkariere bereits mit 16 Jahren. Von 1903 bis 1932 trat sie mit einigen Unterbrechungen am Deutschen Theater in Berlin auf. Zu ihren bekanntesten Rollen gehören Gretchen in Faust und Franziska in Minna von Barnhelm. Seit 1919 versuchte sie sich zudem auch auf der großen Leinwand. Nach Beendigung ihrer Theaterkariere wandte sich Lucie Höflich der Schauspiel- und Theaterpädagogik zu. Während der NS-Zeit wurde sie unter anderem als Staatsschauspielerin ausgezeichnet. In Folge ihres Todes 1956 entbrannte eine Diskussion über die Altersvorsorge von BühnenkünstlerInnen.