Sense-Making, welches am ehesten mit „Sinn-Stiftung“ oder „Sinn-Gebung“ übersetzt werden kann, ist ein von Brenda Dervin entwickeltes und zunehmend verbreitetes Wahrnehmungs- beziehungsweise Informationsverarbeitungskonzept.
Es bildet einen zentralen Teil des ebenfalls auf Dervin zurückführbaren Information-1,2,3-Konzeptes, welches sich wiederum an der Arbeit von Richard Carter und Karl Popper orientiert.1 Der Blick auf das von Dervin beschriebene Konzept bietet sich durchaus an, um die Sense-Making-Theorie zu erläutern. Hinter dem recht einfach anmutenden Titel des Information-1,2,3-Konzepts steht die Annahme, dass die Wahrnehmungsverarbeitung eines Menschen in drei wesentliche Elemente (Dervin nennt es Informationen) unterteilt werden könne:
1. Äußere / externe Realität (1. Information), welche alle möglichen den Menschen umgebene, objektive Einflüsse zusammenfasst.
2. Innere / interne Realität (2. Information), welche die eigenen und subjektiven Motive meint, und die somit die Voraussetzung dafür bilden, was von dem Individuum als „informativ“ eingestuft wird
3. Prozess / Technik des Zusammenbringens (3. Information), welche die aktive Sinnstiftung und Zusammenführung der 1. und 2. Information meint. Das bedeutet, dass einer unbekannten externen Realität (1. Information) mit den persönlichen Möglichkeiten oder bspw. eigenen Werten (2. Information) mithilfe dieses Prozesses Sinn gegeben wird.
Insbesondere der letzte Punkt, in welchen sich die Theorie des Sense-Making nahtlos eingliedert, emanzipiert den eigentlichen Prozess der Sinnstiftung zu einem zentralen Faktor der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung, was das Konzept von Brenda Dervin herausstechen lässt.
Die wohl einfachste Möglichkeit, um die Theorie des Sense-Making fassen zu können, bildet die auch von Brenda Dervin gewählte und grafisch unterstützte Metapher des Brückenbaus.2 Bereits in den ersten Versuchen dieses Vergleiches, welche mit zunehmender Menge immer komplexer und reichhaltiger wurden, etablierte Dervin die Figur des Mr. Squiggly (Hr. Schnörkelig; folgend Mr. S.), welcher das Ebenbild des menschlichen Individuums darstellt. Der Name Squiggly und der zittrige Zeichenstil des Strichmännchens ist keineswegs zufällig gewählt, stellt es die schwankende Natur des Menschen zwischen Sicherheit und Unsicherheit hervor.
Eine eigene gekürzte Darstellung zur Sense-Making-Theorie, welche sich an der Skizze von Brenda Dervin (2006) orientiert.
Er trägt stets einen Regenschirm mit sich herum, welcher den persönlichen „Kontext“ abbildet. Damit meint Dervin beispielsweise die eigenen (Un-) Fähigkeiten, die eigene Kultur oder auch das eigene Mind-Set. Charmaine Cunningham schlägt in ihrem Blog3 vor, den Regenschirm durch einen Rucksack zu ersetzen, was als Bild des etwas Mit-Sich-Tragens wesentlich etablierter ist und somit geeigneter scheint.
Eine genaue Eignungsprüfung verschiedener metaphorischer Stilelemente außer acht lassend, ist die Existenz von Mr. S. dadurch bestimmt, voranzukommen und seinen Weg möglichst unablässig zu beschreiten. Es ist jedoch unvermeidbar, dass Mr. S. auf seinem Weg immer wieder auf zunächst scheinbar unüberwindbare Probleme stößt, welche sich passenderweise als „Kluft“ vor ihm auftun. Diese Kluft ist lediglich dann überwindbar, wenn Mr. S. eine Brücke zum anderen Ende der Kluft baut.
Der Standort, von dem aus Mr. S. das Vorhaben des Brückenbaus beginnt, ist von der individuellen „Ausgangssituation“ abhängig. Grob gesagt, handelt es sich dabei um den gegenwärtigen Endpunkt seines bereits zurückgelegten Weges. Der Verlauf dieses Weges und damit der gegenwärtige Standort von Mr. S., ist bestimmt durch seine erlebten Ereignisse, Geschichten, Gewohnheiten, etc. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich kein Individuum an der gleichen Stelle befinden kann.
Von hier aus gilt es nun, eine „Brücke“ zu bauen, welche die Ideen, Geschichten oder auch Werte abbildet, mir denen dem Unbekannten Sinn gegeben und die “Kluft” überwunden wird.
Jedoch setzt der Bau einer Brücke auch das Vorhandensein von entsprechendem Baumaterial voraus. Diese Bausteine müssen zunächst aus einer „Quelle“ geschöpft und entsprechend ihrer „Relevanzen“ eingeordnet werden. Als mögliche Quellen können beispielsweise Medien, Aussagen von Freund*innen und Bekannten oder auch Forschungsliteratur genannt werden, beziehungsweise das, was ein Individuum davon als hilfreich ansieht oder als solches „abgespeichert“ wurde. All diese aus unterschiedlichen Bereichen stammenden Bausteine sind in den Augen von Mr. S. nicht gleichwertig oder gleichberechtigt. Aussagen von einem engen Freund könnten beispielsweise als sehr viel wichtiger eingestuft werden als Aussagen einer fremden Autorität. Folglich könnten die gleichen Bausteine je nach individueller Einschätzung vollkommen anders gewichtet und schlussendlich verbaut werden.
Wichtig ist es, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich die Frage nach dem Richtig und Falsch hier nicht stellt.
Nun, da der Bauplatz, die Materialien und deren Einpassung klar sind, beginnt Mr. S. mit dem Prozess des Zusammenbaus, dem eigentlichen „Sense-Making“. Es ist das erste Mal, dass in diesem Bild ein Prozess dargestellt wird, was an dieser Stelle sehr gut den Unterschied zu den anderen, eher statisch-gegebenen Einflussfaktoren erkennen lässt und somit die Theorie von Dervin so besonders macht.
Die Stelle, welche Mr. S. auf der anderen Seite der Kluft erreicht, stellt nach Dervin das „Ergebnis“ (Dervin nennt es „Outcome“) dar. Es steht am Ende des Prozesses der Informationsverarbeitung (Brückenbau) und erschafft gleichzeitig eine neue Ausgangssituation, von welcher aus Mr. S. seinen Weg fortführen kann und damit wieder am Anfang des Prozesses steht.
Es dürfte klar sein, dass die Komplexität des Sense-Making hier nicht in voller Gänze erfasst werden kann, was bereits mit Blick auf die einfache, zweidimensionale Querschnittsdarstellung zu vermuten ist. Ungeachtet dessen bietet die Theorie eine sehr zugängliche Möglichkeit, was bei dem Sense-Making-Prozess zur Sense-Making-Theorie sehr hilfreich erscheint.
Bei dem Versuch zwischen den vorher genannten Erläuterungen und dem Gegenstand dieser Arbeit einen nachvollziehbaren Bezug herzustellen, ergibt sich folgendes Bild:
Zu sehen ist eine „Übertragung“ der vorherigen Zeichnung, wie sie in den Kontext von YouTube im Allgemeinen gesetzt wurde.
Dabei fällt ein Problem sofort ins Auge des Betrachtenden: Kommentare, welche im Zuge dieser Arbeit unter Anwendung der Sense-Making-Theorie analysiert werden sollen, bilden als „Ergebnis“ das Ende eben jener Brückenbau-Metapher.
Dazu kommt ein grundsätzliches methodisches Problem im Umgang mit der Theorie. Die eigenen Forschungen von Dervin, ihren Kolleg*innen und auch andere Forschungsbeiträge rund um diese Thematik basieren auf Tiefeninterviews, was den Forschenden die Möglichkeit gibt, Aussagen über die einzelnen Einflussfaktoren direkt zu erfragen.4
Das ist bei dem Fokus auf das Ergebnis nicht, beziehungsweise nur bedingt, möglich. Die Beschaffenheit eines YouTube-Kommentars und dessen Informationsgehalt wäre dabei zunächst die naheliegendste Grundlage, um eine Aussage zu treffen.
Eine weitere Möglichkeit, die hier jedoch nur erwähnt bleiben soll, ist die direkte Kontaktierung der Kommentierenden. Die Notwendigkeit des Besitzens eines Google-Accounts, um einen Kommentar zu verfassen, was immer auch an das Vorhandensein einer E-Mail-Adresse gebunden ist, ließe vermuten, dass die kommentierenden Personen auf diesem Weg erreichbar wäre. Dies wiederum gäbe rein hypothetisch die Möglichkeit einen Kontakt aufzubauen, aus dem dann eine Tiefeninterview-Situation entstehen könnte. Jedoch setzt das voraus, dass die Person erreichbar ist, sich an den Kommentar erinnert und sich für ein Interview bereit erklärt. Womöglich wäre dieses Vorgehen für eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema vorstellbar.
Diese Arbeit wird zunächst den Fokus auf den sichtbaren Inhalt des Kommentars legen, dessen individuelle Ausführungen womöglich Aufschlüsse über einzelne Teilelemente geben kann. Man sollte sich an dieser Stelle klar sein, dass ungeachtet der Eigenschaft des Kommentars als Endergebnis des Sense-Making-Prozesses des Schreibenden auch die eigene Interpretation des Lesenden einen direkten Einfluss auf die Einordnung hat.
In der Natur der Kürze der Kommentare liegt auch die Gefahr des Missverstehens. Insbesondere, da die meisten Kommentare unter YouTube-Videos meistens aus wenigen Sätzen bestehen. Zwar gibt es teilweise sehr ausführliche Kommentare oder Diskussionen, welche viele Informationen in sich bergen, aber das bildet für den hier betrachteten Gegenstand die Ausnahme.
An dieser Stelle muss sich eingestanden werden, dass ein Blick auf die YouTube-Kommentare der Sicht durch ein Milchglas auf die Gedankenwelt der Kommentierenden gleicht und somit eindeutige Aussagen sehr schwer zu treffen sind.
Was am klarsten gesehen wird, ist der Kommentar selbst, also das „Ergebnis“ des Brückenbaus. Je nach Ausführung und Auftreten dessen, lassen sich mögliche Quellen und Einflussfaktoren (Bausteine) erkennen. Jedoch sind das meist nur Vermutungen.
„Quellen“, die sich ebenfalls vermuten lassen, sind beispielsweise die Videobeschreibung (Infobox), andere Kommentare auf welche sich bezogen wird oder womöglich auch der „periphere“ Inhalt des Kanals. Idealerweise geben die Kommentierenden ihre Quellen im Kommentar an, wovon jedoch nicht ausgegangen werden kann. Die Möglichkeit des Antwortens auf andere Kommentare lassen auch begründete Vermutungen zu, unter der Voraussetzung, dass der Inhalt des Kommentars den Antwortenden bekannt war. Ob und wie es dazu kommt, dass man einem Kommentar begegnet, der zu einer „Quelle“ wird, hängt nicht zuletzt auch von der YouTube-eigenen Sortierung ab. Kommentare können nach Datum des Hochladens („Neueste zuerst“) oder nach Bedeutsamkeit / Interaktivität („Top-Kommentare“) sortiert werden. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten kann man als rezipierende Person wählen, wohingegen eine dritte Möglichkeit – das Anpinnen – alleine durch Kanalbetreibende vollzogen werden kann, um entsprechende Kommentare an erster Stelle im Kommentarbereich erscheinen zu lassen. Bezüglich der für die Untersuchung gewählten Videos war es zum Zeitpunkt der Datenerhebung jedoch nirgens nicht der Fall.
Die Möglichkeit des Herzens, als eine Form der Anerkennung, die allein Kanalbetreibenden zur Verfügung gestellt wird, kann ebenfalls die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Eine Auswirkung auf die Positionierung des Kommentars lässt sich aber nicht erkennen und auch YouTube äußert sich nicht dazu.5 Auch diese Möglichkeit kann zum Zeitpunkt der Datenerhebung bei den untersuchten Beispielen nicht festgestellt werden.
Unklarer wird es, wenn man sich die „Relevanzen“ der Bausteine anschaut. Hier bietet die Antwortfunktion auf Kommentare und die Chance der Diskussion womöglich Abhilfe. Beispielsweise wenn Kommentierende auf einen Kommentar eingehen, dem Argument zustimmen, aber ein anderes Argument als wichtiger erachten. Eine weitere Möglichkeit, welche jedoch nur allgemeine und nicht genau zuordenbare Aussagen zulässt, sind jene Kommentare, welche eine große Interaktion verursachen. Damit ist zum Beispiel die Möglichkeit gemeint, einzelne Kommentare selbst zu liken. Die so entstehenden Top-Kommentare welche YouTube auf Wunsch anzeigt, könnten womöglich einen Trend abzeichnen. Jedoch hat das durch die Struktur von YouTube auch sehr problematische Aspekte, die später angesprochen werden sollen.
Dazu kann das oben angesprochene “Herzen” die Relevanz ebenfalls beeinflussen, da es Ausdruck der Aufmerksamkeit und damit direktes Feedback des Kanalbetreibenden ist, was unter den Zuschauenden als relevanter eingestuft werden könnte.
Ähnlich könnten auch Kommentaren eingestuft werden, welche von bekannten YouTube-Kanälen unter ein Video gepostet wurden.
Auch das eigentliche Problem (also die „Kluft“) lässt sich nur vermuten und nicht klar definieren. Hier ist eine sehr große Ungenauigkeit zu verzeichnen. Wenn beispielsweise in einem Kommentar steht, dass die Musik seltsam klänge, dann ließe sich nicht sagen, was genau damit gemeint ist: der Klang, der Rhythmus oder doch etwas ganz anderes?
Die übrigen Punkte bleiben überwiegend unklar. Beispielsweise kann nicht auf den Suchverlauf einer Person in diesem Kontext zurückgegriffen oder dessen persönliches Mind-Set erkannt werden. Diese Stellen bleiben entweder vollkommen unbekannt, oder man hat das Glück einen Kommentar zu lesen, der all das ausführt. Ein Beispiel wären Kommentare, welche genau aussagen, wie die schreibende Person auf diese Seite gestoßen ist oder auch was für einen Hintergrund (bspw. persönliches Interesse) sie hat.
Trotz der Natur des Gegenstandes, welche sicherlich nicht mit der Aussagekraft solider Tiefeninterviews konkurrieren kann, bietet sich hier eine ganz andere Chance – Diversität. Es ist grundsätzlich jeder Person mit einem Google-Account erlaubt, Kommentare unter die Videos zu schreiben. Diese Demokratisierung bietet die Chance, denjenigen eine Stimme zu geben, welche womöglich nie für Tiefeninterviews in Erwägung gezogen worden wären, was damit den Proband*innenkreis sehr viel weiter ausfallen lässt.
Einzelnachweise und Anmerkungen
[1] Bates Marcia J., Information, in: Encyclopedia of Library and Information Sciences , hrsg. von Marcia J. Bates u. Mary Niles Maack, New York, 2010, Vol. 3, S. 2347-2360, (auch einsehbar unter: URL: https://pages.gseis.ucla.edu/faculty/bates/articles/information.html , letzter Zugriff: 06.05.2021.)
[2] Dervin, Brenda, Dervin’s Sense-Making Theory, in: Information Seeking Behaviour and Technology Adoption: Theorie and Trends , hrsg. von Mohammed Nasser Al-Suqri u. Ali Saif Al-Aufi, Hershey, 2015, S.59-80. Außerdem findet sich eine übersichtliche Darstellung bei Agarwal, Naresh Kumar, Making sense of sense-making: tracing the history and development of Dervin’s Sense-Making Methodology, Download-URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwi7l8v5h7XwAhVvMewKHXBmB5gQFjAAegQIBhAD&url=http%3A%2F%2Fweb.simmons.edu%2F~agarwal%2Ffiles%2FAgarwal-ASIST-History-preconf-2012-author.pdf&usg=AOvVaw1OnFCh0ztRcONIi1aArbwp, letzter Zugriff: 06.05.2021.
[3] Cunningham, Charmaine, Making sense…learning about sense-making, 2016, URL: https://chacunningham.wordpress.com/2016/10/28/making-sense-learning-about-sense-making/ , letzter Zugriff: 06.05.2021.
[4] Zum Beispiel Souto, Patrícia Cristina do Nascimento; Dervin, Brenda; Savolainen, Reijo, Designing for knowledge creation work: an exemplar application of Sense-Making Methodology, in: Revista de Administração e Inovação , São Paulo 2012, Vol. 9, Nr. 2, S. 271-294 und Foreman-Wernet, Lois; Dervin, Brenda, Everyday Encounters with Art: Comparing Expert and Novice Experiences, in: The Museum Journal , 2016, Vol. 59, Nr. 4, S. 411-425.
[5] Dieser Medienbericht aus dem Jahr 2017 fasst es ganz gut zusammen: URL: https://www.giga.de/webapps/youtube/specials/youtube-kommentare-was-bedeutet-das-herz-einfach-erklaert/, letzter Zugriff: 19.05.2021. YouTube äußert sich hier dazu: URL: https://support.google.com/youtube/answer/6000964?hl=de&pageId=101807695592169524555#zippy=, letzter Zugriff: 19.05.2021.