In diesem zweiten Teil der Auswertung sollen die aus der Literatur herausgearbeiteten Charakteristika (gelb unterlegte Felder unter Hintergundinformationen) an den Datensatz herangetragen und ein Vergleich mit den Kommentaren unternommen werden.
Es wurde davon ausgegangen, dass deckungsgleiche Aussagen nur sehr selten oder gar nicht auftreten werden.
Um also das Vorhaben überhaupt möglich zu machen, wurde sich dazu entschieden, einen gewissen interpretatorischen Spielraum einzuräumen, welcher bei den Erläuterungen des Befundes problematisiert wurde.
- Das Aufbrechen von gewöhnlichen Konzerterfahrungen
Hier wurden zunächst keine Kommentare einsortiert, da die Grundlage der Einordnung ein direktes Ansprechen dieses Charakteristikums in den Kommentaren war.
Es treten jedoch immer wieder ironisch gemeinte Kommentare auf, welche auf der „Stille“ des Stückes und dem Nicht-Spielen des Orchesters basieren.
Beispielsweise erklingt der Zuspruch zu bestimmten Instrumenten
Nr. 061: “Epic! I loved the frasing in the strings and the wind solos. Great performance!!”
oder es werden Dynamik- und Vortragsangaben
Nr. 057: “[…] Did you notice that crescendo culminating in a sforzando at the end? very impressive. […]”
Nr. 008-5: “But that coda, though.”
genannt, die vermeintlich das Stück beschreiben sollen, hier aber wahrscheinlich dazu genutzt werden, sich über Cages Komposition lustig zu machen.
Durch das Verwenden dieser Termini, welche zur Beschreibung einer “gewöhnlichen” Hörerfahrung bei Konzerten dienen, lässt sich eine entsprechende musikalische Bildung bei den Rezipierenden vermuten, aber viel wichtiger noch zeigt es, dass auf dieses Charakteristikum – dem Aufbrechen der gewöhnlichen Konzerterfahrung – mit dem Verwenden dieser Termini indirekt hingewiesen wird.
In diesem Kontext könnten diese Kommentare zwar die Grundlage einer Interpretation bilden, jedoch erscheint es hier zu vage und damit kaum praktikabel.
Es ließ sich ein Kommentar finden, welcher etwas schwerer einzuordnen war, jedoch auch als “ironisch gemeint” aus der Wertung fiel.
Insbesondere diesen Fall kann man durchaus problematisieren, wird hier doch eine ungewöhnliche Konzerterfahrung beschrieben:
Nr. 048: “This is the most captivating performance I’ve ever not heard of this piece. Just admire the non-balance between the sections, in there! And the non-richness of the brass! Not to mention how non-soaring and non-inspired are the strings with their non-bowing…Berliners…you always capture my heart ❤️”
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- Aufmerksamkeit für die Musik in Umgebungs- und Umweltgeräuschen
Drei Kommentare sprechen dieses Charakteristikum an.
Einer davon sagt, als Antwort auf einen darüberliegenden Kommentar, sogar aus, dass man selbst das Instrument sei.
Nr. 103-1: “Yes, ‚cause you’re the instrument.”
Zwei weitere Kommentare beschreiben den Umstand, dass die Geräusche aus der Umgebung den musikalischen Inhalt bilden:
Nr. 054-1: “Dude. Google about the piece. Its the sounds that occur in the room that is the „music „. Therefore a different performance every time. Also what you „hear“ in your imagination”
Nr. 081: “Entiendo que en la génesis de esta obra, John Cage se nutrió de conceptos de la filosofía zen: nos invita a escuchar los sonidos del entorno. […]”
(Übersetzt: “Soweit ich weiß, hat John Cage bei der Entstehung dieses Werks auf Konzepte der Zen-Philosophie zurückgegriffen: Er fordert uns auf, auf die Klänge der Umgebung zu hören. […]”)
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- Fokus auf den Akt des konzentrierten Zuhörens
Zwei Kommentare beschreiben in gewisser Weise das Ergebnis des genauen Zuhörens, indem sie auf die Intensität aufmerksam machen, mit der sie die “Stille” erlebt haben.
Grundsätzlich ließen sich diese Kommentare deswegen auch in das erste Charakteristikum einordnen, jedoch erschien es an dieser Stelle passender.
Ein Kommentar schwärmt vom Potenzial der Stille, als Antwort auf einen Kommentar (Nr. 063), welcher vom “Potenzial der Musik” schwärmt
Nr. 063-1: “The potential of the silence”
und ein anderer betont das erstmalige konzentrierte Hinhören.
Nr. 009-2: “No insult at all … it is appropriate for our age. This is the first time I “hear” silence that powerful”
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- Alle anderen Wirkungen sind zugelassen.
Grundsätzlich bedeutet das, dass alle Kommentare darin gefasst werden können, da sie Reaktionen auf die Komposition sind.
Da dies in diesem Kontext jedoch nicht sehr aussagekräftig wäre, wurde hier nach Kommentaren gesucht, welche diese konzeptionelle Idee benennen.
Dabei wurden keine gefunden.
- Der thematische Überbau “Wasser”
Es wurden insgesamt vier Kommentare gefunden, welche die Musik mit Wasser in Verbindung bringen. Während drei Kommentare das Wort “Wasser” beinhalten, wird in Kommentar Nr. 024-1 die Formulierung “field recording of ‘nature’” gewählt, was zwar etwas allgemeiner gefasst ist, hier aber aufgrund der interpretatorischen Unschärfe noch zugelassen werden kann.
Nr. 101: “’It’s Waterwalk because it contains water.‘ No shit, Sherlock.”
Dieser Kommentar beinhaltet ein Zitat von John Cage, welche am Anfang des Videos zu finden ist. In diesem Kontext ist zu vermuten, dass sich die kommentierende Person über den Komponisten lustig machen möchte. Dennoch wird über den thematische Überbau “Wasser” informiert, auch wenn es womöglich nicht die primäre Intention der Autor*in war. Daher wurder der Kommentar hier berücksichtigt.
Nr. 218-3: “i have to say watering the flower in bathtub is quite funny prank”
Nr. 308-31: “Question: aside from the objects used in the video, what other objects can you use to create sounds which are similar to the piece? Bucket with water, xylophone, spoon or fork, pressure cooker, strings , piano, glass, things made of wood”
Nr. 024-1: “[…] its like field recording of ’nature‘ + man activity”
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2. Das Einbeziehen von Alltags- und Gebrauchsgegenständen und -handlungen zum Erschaffen von Musik
Insgesamt wurden dieser Kategorie 36 Kommentare zugeordnet, darunter erneut die Kommentar Nr. 024-1 und Nr. 308-13.
Fünf Kommentare zitieren entweder Cages Ausspruch “Everything [we do] is music” (Nr. 011-10, 011-18, 105-04, 111-2, 171-1), oder definieren den Sound als Musik (Nr. 011-07, 051-02).
Es finden sich auch zwölf Kommentare, welche dem Thema mit Humor begegnen.
Nr. 039: “what was he trying to cook”
Nr. 111: “When I am making myself a sandwich I didn´t know I was performing music”
Andere Kommentare benennen beispielsweise verschiedene Gegenstände, die Verwendung gefunden haben könnten
Nr. 334: “ […] 2. TUPPERWARE, DRUMS, MICROPHONE, WATERJAG, SPOON AND FORK. […]”
oder schreiben dem lachenden Publikum ebenfalls eine Rolle in dem Stück zu
Nr. 120-1: “Their laughter adds to the soundtrack […]”
Die restlichen Kommentare dieser Kategorie lassen sich weniger in größere Zusammenhänge bringen, weswegen darauf verzichtet wurde. Ein Beispiel ist die onomatopoetische Darstellung:
Nr. 247: “Lyrics: *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound* *Impact sound” *Weird sound* HHAHAHAHAHAHAHAHAHA *Impact sound* *Impact sound* *Blender sound* *Piano sound* *Rubber duck sound* *Impact sound* *Impact sound* *Falling sound* *Drinking sound*”
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- Sekundengenaue Notation der Beginne von Ereignissen
Es konnten insgesamt sechs Kommentare zugeordnet werden, welche die Präzision in drei Fällen genau benannten.
Nr. 027-5: “Its not random shit being played in random order because he actually wrote all of it out and played it precisely”
Nr. 045-1: “[…] all of those sounds are supposed to be „played“ in this very particular order and rhythm, so in some sence he did compose something, and if he likes it, it’s ok. I don’t nessecairly care if people like my music either as long as i like it…”
Nr. 152: “ […] The way I see it John Cage WANTED laughter to be part of the composition, or at least saw it as an addendum. The way he times the hits for instance, the whistle, the rubber duck. If I were in the audience I would’ve surely laughed although I respect his work.”
Zwei Kommentare benennen den Charakter des Komponierens, jedoch ohne die Präzision zu thematisieren
Nr. 059: “[…] breaking the barriers of what it’s music and what it’s not. If music is „organized sound“, isn’t Cage’s compositions music? […]”
Nr. 334: “1. COMPOSED BY RANDOM PITCHES AND RHYTHM […]”
Der letzte Kommentar Nr. 011-03 geht in eine ähnliche Richtung. Hier wird der Begriff “Musik” als zeitlich organisierter Sound definiert:
“…according to Wikipedia – ‚Music is an art form and cultural activity whose medium is sound organized in time.‘ – so, yes it is…”
Abseits der oben Genannten spricht der Kommentar Nr. 453: “this is what multitasking sounds like”) indirekt eine genaue Notation an, durch welche der Akt des Ausführens überhaupt erst ermöglicht werden kann.
Ohne das konzeptionelle Hintergrundwissen könnte der Kommentar als Ausdruck der
Entropie verstanden werden, in welchem die Aktionen zufällig und ungeplant durchgeführt werden. Zwar ist das bei Water Walk nicht der Fall, aber der Kommentar lässt beide Interpretationen zu, weswegen er hier nur erwähnt, aber nicht eingeordnet wurde.
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- Die Dauer von Ereignissen durch den pünktlichen Beginn des Folge-Ereignisses
Da eine gewisse Ähnlichkeit zum vorher behandelten dritten Punkt vorliegt, gibt es bei den fünf zugeordneten Kommentaren einige Überschneidungen (Nr. 011-03, 027-5, 152, 453).
Dazu kommt der Kommentar Nr. 391, welcher, wie bereits unter Punkt zwei erfasst, einen humoristischen Charakter aufweist:
“This is me walking around my house with 15 tasks to do, getting distracted halfway through each one”
- Die Aufhebung von Dualismus zwischen Instrumentalmusik und elektronischer Musik
Hierzu konnten keine Kommentare gefunden werden.
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- Die Verbindung von drei selbstständigen musikalischen Prozessen: Schallerzeugung, Schallaufnahme und dessen Transformation
Es wurden keine Kommentare gefunden, welche dieses Charakteristikum zum Inhalt haben.
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- Eine Notation, die sich u.a. auf die Hörwahrnehmung des Publikums bezieht
Hier wurde nach Fällen gesucht, in denen die Wahrnehmung der Kommentierenden schriftlich (onomatopoetisch) dargestellt wurde, was in zwei Fällen zu finden war.
Ein Kommentar weist darauf hin, dass ein „cling“-Ton gefehlt hätte
Nr. 019: “Ouch! Wrong note at 16:12. That was actually meant to be a CLING.”
Die Motivation des Kommentierenden ist an dieser Stelle nicht relevant.
In der Antwort auf diesen Kommentar findet sich ebenfalls eine onomatopoetische Stelle:
Nr. 019-1: “[…] They didn’t have the machine that goes „biiiing„, that’s why =P”
Weitere Darstellungen, die beispielsweise aus der Motivation heraus entstanden sein könnten “Lyrics” zu schreiben, konnten nicht gefunden werden.
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- Das Hörbarmachen von Schwingungen eines Tamtams, die ohne Mikrofon ungehört blieben
Um dieses Charakteristikum in den Kommentaren zu finden, wurde aus Aussagen geachtet, die darauf eingehen, dass ungewöhnliche und unerwartete Töne erklungen sind.
Passenderweise schreibt eine Person, dass sie gegen Ende des Stückes fast vergessen hätte, dass es sich noch um einen Gong [Tamtam] handele:
Nr. 031: “By the end of this piece, I almost forgot that this was a gong.”
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- Die Nutzung eines Mikrofons als Instrument und nicht als bloße Verstärkung von Klang
In einem Kommentar wird nur näher auf die Rolle des Mikrofons eingegangen.
Nr. 018-2: “[…] Stockhausen is controlling the volume and applying filters to the amplified signals coming from the microphones. There are microphones amplifying the TamTam / Gong.”
Das muss aber insofern problematisiert werden, als dass der Kommentar nur auf die verstärkende Rolle des Mikrofons eingeht und es nicht als eigenständiges Instrument ansieht.
Dennoch wurde dieser Kommentar aufgrund des Fokus auf das Mikrofon in diese Auswertung hinein genommen.
- Verschiebung der Wahrnehmung von Rückkopplungsgeräuschen zu Rhythmus und Klang
Um diese Charakteristik in den Kommentaren zu finden, wurden Vergleiche oder Aussagen aufgenommen, welche auf irgendeine Art und Weise die Wahrnehmung des Gehörten einordnen.
Insgesamt wurden 32 Kommentare gefunden. Grundsätzlich könnten dazu die 77 Kommentare genommen werden, welche auf den Song “Norf Norf” hinweisen und damit die Wahrnehmung mit einem Vergleich zu etwas ähnlich- bis gleich Klingendem ziehen.
Vertraut man einem einigen Kommentaren unter den Videos scheint die zugrunde liegende musikalische Begleitung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Sample von Steve Reichs Pendulum Music zu sein. Dies ist jedoch ziemlich unsicher und kann nicht nachgewiesen werden. Diesen Aussagen kann man einen Onlineartikel der SPIN entgegenhalten, welche lediglich von einem genutzten Gitarren-Feedback sprechen, jedoch keinen Ursprung in Steve Reichs Pendulum Music1 benennen.
Aufgrund der durch die ungenaue Herkunft entstehenden Probleme, sollten die 77 Kommentare im Hinterkopf behalten werden.
Des Weiteren finden sich auch sieben andere Vergleiche zur Musik, wie beispielsweise zwei, die sich an den Soundtrack des Spiels Yume Nikki (Nr. 128, 148) erinnert fühlen.
Zehn andere Kommentare stellen Vergleiche zu konkreten Stellen in dem Video an, indem sie einen Zeitstempel angeben. So fühlt sich eine Person (Kommentar Nr. 183) bei Minute 3:46 an Kanye West’s “Feedback” erinnert. Die Verwendung eines Zeitstempels bietet die Möglichkeit, die Stellen genau nachzuvollziehen, was für eine tiefergehende Untersuchung mit einem möglichen Vergleich der Stellen zum vermuteten Original durchaus vielversprechend sein könnte.
Jedoch gibt es auch Zeitstempel, welche auf andere Dinge hinweisen, wie beispielsweise visuell abgebildete Personen
Nr. 248: „1:05 hey Vsauce Michael here“
oder den Start des Stückes
Nr. 276: „At 0:45 they let go of the Pendulums.“
Bei diesen Stellen ist ein Ausschluss recht schnell und unkompliziert vonstatten gegangen, jedoch gab es auch in diesem Beispiel vor allem eine problematische Stelle. Einen Kommentar (Nr. 094: „0:44“) kann man nicht richtig zuordnen. Auf der einen Seite kann er mit dem oben stehenden Kommentar (276) übereinstimmen, welcher auf den Beginn des Stückes hinweist und damit ausgeschlossen werden kann. Jedoch gibt der Kommentar (Nr. 046) einen gleichen Zeitstempel an, mit der Aussage, 3 Töne zu hören. Dieser Kommentar wäre wiederum auswertbar.
Aufgrund dieser Ungenauigkeit wurde der Kommentar Nr. 094 herausgenommen.
Eine weitere interessante Darstellung der Wahrnehmung neben Vergleichen aus anderen Hörbeispielen, sind die vier onomatopoetischen Lautgedichte, welche als “Lyrics” gekennzeichnet das Wahrgenommene verschriftlicht (Nr. 166, 174, 174-09 und 315).
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- Veränderter Klang/ Rhythmus durch Phasenverschiebung
Es wurde insgesamt elf Kommentare gefunden, welche eine physikalisch-technisch informierte Erklärungen für das Stück fanden. Zwei dieser Kommentare beinhalteten den Terminus der Phase (eines davon den Begriff: “Phaseninkohärenz” (Nr. 008; was den Nagel auf den Kopf trifft). Ungeachtet dessen erklärten sich vier weitere Kommentare das Gehörte mit dem Doppler-Effekt (bspw. Nr. 063-3), was man durchaus diskutieren kann und fünf berufen sich auf den Larsen-Effekt der Rückkopplung:
Nr. 016-4: “This piece is based on Larsen effect not Doppler effect”
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- Process-Piece (Entwicklung)
Es wurde in den Kommentaren nach Bezeichnungen für die Musik gesucht und insgesamt neun passende Kommentare gefunden.
Drei dieser Kommentare sprechen der Musik den Charakter des Prozesses zu
Nr. 213: “[…] it’s music as a gradual process.”
während vier Aussagen den Zufall ins Zentrum rücken
Nr. 007-09: „[…] random […]“, Nr. 187: „[…] entropy […]“
Ein Kommentar bezeichnet die Musik als „Drone-Music“ (Nr. 015), was durchaus diskutiert werden kann, aber als Beschreibung der Musik in diese Kategorie eingefügt wurde.
Einzelnachweise und Anmerkungen
[1] Richards, M.T. Review: Vince Staples ‚Summertime ’06‘ Is No Picnic, And Gloriously So, URL: https://www.spin.com/2015/06/review-vince-staples-summertime-06/, letzter Zugriff: 25.08.2021.