Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Lejla Kalamujić

ADOS SCHWARM

Ich bin nur in das Herz eines lieben Menschen eingebrochen.

Ich habe ihm gesagt: mein Sonnenschein. Und das war er.

Alfred Döblin

(Berlin Alexanderplatz)

Nachricht des Tages: Über dem Flughafen von Sarajevo kollidierte ein Flugzeug eines Low-Budget-Unternehmens mit einem Vogelschwarm. Gleich nach dem Öffnen der Tragflügel-Klappen ertönte ein heftiger Schlag. Das Flugzeug begann abzustürzen. Die Passagiere gerieten in Panik, einige fingen an zu schreien, andere beteten. Zum Glück reagierten der Steward und die Stewardess schnell. Sie erklärten den Passagieren, dass es zwar keine alltägliche Situation wäre, dass sie aber harmlos sei, und sie schafften es, alle zu beruhigen. Das Flugzeug landete problemlos und der Flugverkehr wurde ohne weitere Störungen fortgesetzt.

Im zweiten Stockwerk der Polizeistation brennt Licht. Ado und der Polizeiinspektor sitzen im Verhörraum. Auf dem Tisch steht ein Aschenbecher.

– Fang an zu reden und ich lasse dich eine rauchen – sagt der Polizeiinspektor.

– Ich rauche nicht.

– Schade.

– Wie spät ist es?

– Fang an zu reden, dann werde ich es dir sagen.

– Meine Mutter ist allein.

– Schade.

Der Polizeiinspektor verliert die Geduld und schlägt mit der Faust auf den Tisch.

– Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.

***

Sein voller Name ist Admir, doch er wird Ado genannt. Er gilt als ein höflicher, aber nicht sehr gesprächiger junger Mann. Er arbeitet in dem Einkaufszentrum in Ilidža, in der Bäckerei-Abteilung, und wohnt in der Nähe mit seiner Mutter. Alles, was er hat und macht, umfasst nur wenige Schritte. Seine Seele wandert aber herum. Oft führt sie ihn in diesen Traum.

Auf den Schultern trägt er die Mutter. Er weiß nicht, wohin sie gehen, aber er weiß, dass er nicht stehenbleiben darf. Der Weg ist steinig und kantig. Von der Last kann er sich kaum noch bewegen. Alle paar Meter sagt ihm die Mutter ins Ohr: Ach, was für ein Leben hätte ich gehabt, wenn ich dich nicht geboren hätte.

Manchmal fragt er sich, ob sein Leben nicht anders verlaufen hätte können. Sagen wir mal, wenn sein Vater nicht auf die Reise gegangen wäre. Das ist lange her, er erinnert sich nicht daran und die Mutter wollte nie darüber reden. Vielleicht ist es ihm deswegen nie in den Sinn gekommen, wegzugehen. Der Weg bedeutet den Tod. Wenn du gehst, kehrst du nicht mehr zurück. Bald feiert er seinen siebenunddreißigsten Geburtstag. Die Mutter hat vor vier Jahren einen Schlaganfall erlitten. Seitdem ist sie nicht mehr auf die Beine gekommen. Seine Arbeit ist anstrengend und unterbezahlt, aber wer hat heutzutage noch die Wahl. Viele Menschen hat er hinter der Theke kennengelernt. Gesichter konnte er sich gut merken, die Namen weniger gut. Als er das erste Mal Mirza sah, hat er sich beides gemerkt. Er kam zumeist Kipfel kaufen, gegen Ende der zweiten Schicht. Er mochte die mit fünf Körnern und die aus Mais. Von Beruf war er Biologe ‒ ohne Arbeit. Für die Seele hielt er zuhause Tauben. Er erzählte, dass er den besten Budapester Überflieger der Stadt besitze. Ado fing an, altes Brot beiseitezulegen. Sobald er Mirza sah, reichte er eine Tüte über die Theke und sagte: Für die Vögel! Mirza lud ihn ein, vorbeizukommen und sich den Schwarm anzuschauen, den er fütterte.  

Es braucht nicht viel, damit das Leben schöner wird. Ado genügte es, dass Mirza auf ihn wartete. Es funkte vom ersten Moment an. Je nach Schicht ging er vor oder nach der Arbeit zu ihm. Sie fütterten die Tauben, ließen sie fliegen, sahen ihnen beim Fliegen zu, fürchteten die Falken und herbeiziehenden Gewitterwolken. Wie es der Zufall wollte, hatte es Mirza gerade in diesem Sommer ins staatliche Camp für die Vögel-Kennzeichnungsringe geschafft. Er wünschte sich, dass beide gemeinsam nach Hutovo Blato fahren. Auf einmal vergaß Ado all die schlechten Gedanken, die er mit Reisen verband. Das einzige Problem war seine Mutter. Wenn der Stein aber erst einmal ins Rollen gebracht wird, dann rollt er von allein. Die Nachbarin bot an zu helfen, und da er sich bis dahin nie krankschreiben lassen hatte, bekam er ohne Probleme drei Tage frei.

Das Sumpfgebiet wirkte surreal, vom Lagerfeuer und dem Laufen zu den Netzen voller Vögel ganz zu schweigen. Es gibt gewisse Orte, von denen aus betrachtet die Welt glücklicher wirkt. Das einzig Schlechte am Glück ist: es beschleunigt die Zeit. Die drei Tage vergingen wie im Flug. Das Beste passierte aber in der Nacht vor der Rückkehr. Sie blieben draußen allein, neben dem Feuer, das flammte. Sie rauchten einen Joint und hörten den Zwergohreulen zu. Ohne Ankündigung rückte Mirza näher an Ado heran und küsste ihn auf den Mund. Für Ado war das der erste Kuss in seinem ganzen Leben. Unter anderen Umständen wäre er bestimmt vor Angst erstarrt, aber die Natur, der Joint und das Lagerfeuer machten möglich, dass er sich mit Leichtigkeit auf den Kuss einließ. Vor ihm erschien das Leben, nach dem er sich gesehnt, es aber nie gewagt hatte, offen davon zu träumen. Als sie wieder Luft bekamen, zogen sie noch einmal am Joint und übertönten mit ihrem Lachen die kleinen Eulen. Das Glück überschüttete sie auch weiterhin Monat für Monat. Der Ort des Geschehens war das Dachgeschoss von Mirzas Familienhaus. Dort mussten sie nur leiser sein. Mit leiser Stimme reihten sich Küsse, Orgasmen, Zärtlichkeiten und Umarmungen aneinander. Für Ado hatte die Lautstärke des Glücks keinerlei Bedeutung. Wichtig war nur, dass es da war.

Der Winter kam, und mit ihm dickere Kleidung. Mirza wurde gereizter. Ado war verwirrt: hatte er etwas Falsches gesagt, getan? Es machte ihn verrückt, dass dieser stundenlang still unter der Decke lag. Er flehte ihn an, es ihm zu sagen, egal was es war. Am dritten November, sieben Tage vor Ados Geburtstag, brach Mirza in Tränen aus:

– So kann ich nicht weiter – sagte er.

Es gab einfach keine Arbeit für ihn. Er hatte genug von dem ständigen Versteckspiel, den Schwierigkeiten und der Angst. An einem anderen Ort könnte alles viel besser sein, für beide. Beispielsweise in Berlin, wo er Freunde hatte. Diese würden ihnen helfen, sich zurechtzufinden. Für den Anfang könnten sie ihnen Schwarzarbeit vermitteln, und dann, wer weiß. Ado lehnte sich an seine Brust, schloss die Augen und hörte zu. Die Worte vermischten sich mit den Herzschlägen. Vielleicht ergab gerade deswegen die ganze Geschichte von der gemeinsamen Zukunft einen Sinn. Und sie war schön, so schön.

             ***

Ado biss sich nervös auf die Lippen und wählte die Nummer. Der Kontaktfrau, die sich gemeldet hatte, erklärte er alles detailliert. Er sagte, dass er die Nachricht auf einem Portal gelesen hätte. Seine Tauben seien heute Morgen weggeflogen und nicht mehr zurückgekehrt, der Himmel sei aber leer. Sein Schwarm wäre registriert, jede Taube hätte einen Kennzeichnungsring am Fuß. Falls nötig, könne er jede Seriennummer diktieren. Die Kontaktfrau war sichtlich verwirrt von den vielen Informationen und seiner Nervosität. Sie bat ihn, in fünfzehn Minuten noch einmal anzurufen. Jede Minute fühlte sich wie ein Jahr an. Seiner Mutter brachte er Medikamente und Wasser. Danach goss er zwei Kellen Bohnensuppe in den Teller, schnitt Brot ab, öffnete ein Gurkenglas, legte alles auf ein Servierbrett und stellte es für sie auf den kleinen Tisch. Er ging in den Hof hinaus und schaute zum Himmel hinauf. Etwas Grausames umhüllte den diesjährigen Sommer. Auf seine Frage „Warum?“, sagte die Frau, man würde so die Vorschriften missachten, denn ein solches Betreten der Flugpiste würde als illegaler Grenzüberschritt betrachtet.  

Er wusste selbst nicht, wie er die zweite Schicht überstanden hatte. Er dachte nur an den Tag, als Mirza gegangen war. Normalerweise hatte er nicht gern an die Trennung gedacht. In ihm brodelten auch weiterhin verschiedene Gefühle. Manchmal wachte er wie ein wütender Hund auf. In diesen Momenten fühlte er sich zutiefst verraten. Vor Mirza war sein Leben leer gewesen, aber die Leere kann dich nicht enttäuschen. Dann kam er, brachte das Glück, und nahm es wieder mit sich. Innerlich zerbrochen ließ er ihn zurück. Auf der anderen Seite war er aber kein unvernünftiger Mensch. Mirza hatte ihm ja vorgeschlagen, dass sie gemeinsam gehen. Es war nicht seine Schuld, dass Ado bei seiner Mutter bleiben musste. Zum Abschied hinterließ er ihm seinen Vogelschwarm. Er wusste, dass sich keiner besser darum kümmern würde. Es hat sich so entwickelt, wie es sich entwickelt hat. Mirza ging und Ado stellte in seiner Garage einen Taubenschlag auf.

Er beendete seine Schicht um elf Uhr. Die Straßen waren fast leer. Er näherte sich der Flugpiste von der Seite, sprang über den Zaun, schaltete die Taschenlampe seines Handys ein und holte die Tüte heraus. Die steifen Vögel lagen im Gras, bei den meisten zeigten die Beinchen in Richtung Himmel. Er hatte es geschafft, um die zehn Stück in die Tüte zu stecken, als er hörte:

– Hallo! Was machst du da?

***

Es war fast drei Uhr morgens, als der Polizeiinspektor nach Hause kam. Langsam öffnete er die Zimmertüren, schaute seinen Kindern und seiner Frau beim Schlafen zu. Er zog sich um, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setze sich an den Esstisch. Er hatte gedacht, dass ihn nach fünfzehn Jahren im Dienst nichts mehr überraschen könnte. Dann tauchte aber der junge Mann auf. Stundenlang plagte er sich mit ihm herum, damit dieser etwas sagte. Er schrie ihn an und drohte ihm, bekam aber nichts aus ihm heraus. Er wusste, dass er nichts gegen ihn in der Hand hatte, um ihn dabehalten zu können. Letztendlich wollte er das auch nicht. Er wollte nur diese absurde Straftat begreifen und fragte:

– Wozu um Gottes willen brauchst du tote Vögel?

Ado hatte den ganzen Abend stoisch ertragen. Schließlich begriff er, dass das Leben nicht auf hunderte Arten und Weisen verlaufen kann. Seins war so, wie es war, und er wollte nur noch nach Hause.

– Auch wenn sie tot sind, sind sie meine – sagte er und stand auf.

Übersetzt von Ivana Pajić und Dénes Kobetits

Original: Lejla Kalamujić: „Adino jato“

In: Lejla Kalamujić: „Požuri i izmisli grad“. Beograd: Štrik 2021.