Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Maša Kolanović

KONSUMIEREN

Am Eingang des großen Ladens hörte sie ein seltsames Geräusch.

Ein wenig wie Wellengang und wie das Knirschen einer riesengroßen Metallplatte. Seit gestern Abend wehte ein heftiger Südwind. Auf dem Parkplatz war es sogar für Mitte August schwül und ungewöhnlich leer. Der Asphalt glühte von der starken Hitze, auch das kleine Stück Grün in der Nähe hatte eine verbrannte, schwarz-braune Farbe. Es war Sonntagnachmittag und der Himmel wurde immer grauer. Der Stadtteil wurde von einer grau-blauen Wolkenwand aus dem Westen eingeschlossen. Viele Einkaufswägen standen herum, sie steckten ineinander und formten eine lange Schlange vor dem Parkplatz. Auf der Terrasse des Außencafés, das an den Parkplatz anschloss, saß nur ein alter Mann. Er sah aus wie die Wachsfigur von Papst Ratzinger mit Sonnenbrille. Er bewegte sich nicht. Der Wind erzeugte dieses grauenhafte Geräusch aneinanderschlagender Metallblöcke. Als sie den Kopf hob, um die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen, sah sie, dass der große Anfangsbuchstabe des Wortes KONSUM gefährlich über ihr schwankte. Sie schrak aus ihrem hypnotisierten Beobachten auf, als sich plötzlich Hände um ihre Taille schlangen. Wie aus dem Nichts erschien vor ihrem Gesicht eine große Plüschmaske. So etwas wir ein Elefant und ein mutiertes Insekt. Zwei Mädchen begleiteten die Maske. Sie kicherten und fotografierten sie mit ihrem Handy, während die Kreatur sie mit ihren großen plüschigen Fühlern berührte. „Ich bin eine Mücke“, sagte eine Stimme unter der Maske. „ZZZZZZZZ. Ich bin ein Mann.“ Er ließ sie los. Die Mädchen drückten ihr unter andauerndem hysterischem Gelächter zwei Werbeproben des Insektizids Autan in die Hände. Der Mückenmann hörte nicht auf, ihr mit seiner dicken Plüschschnauze, die ihm wie eine verlängerte Nase am Kopf hing, in den Oberkörper zu stechen. Sie kam mit diesem überraschenden Angriff nicht zurecht. Der Mann stach lasziv mit seiner Schnauze auf sie ein, während die Mädchen stichelten, „du hast sie gestochen, aber du hast sie gestochen“ und sich krümmten vor Lachen. Hastig riss sie sich aus dieser unerwarteten Werbevergewaltigung los, warf die Autanpackungen auf den Boden und rannte Richtung Ladentür, die sich vor ihrem Körper heilbringend öffnete. Die Gestalten blieben hinter dem Glas zurück, durch das sie ihre Grimassen und Lachkrämpfe, wie in einem stummen Horrorfilm sah.

Der Laden war leer und kalt wie ein Grab. Man hörte nicht diesen üblichen Klang der Werbelieder, genau richtig für mich und ähnliche, vertraute Melodien wie das piepende Scannen an den Kassen. Am Eingang war der Pappaufsteller eines lächelnden Konsum-Models, etwas größer als ein echter Mensch. Unter dem Kartonmenschen stand: Konsum – mit Ihnen durchs Leben, und daneben die etwas abgewetzte Aufschrift Konsum – das kroatische Wort für Supermarkt. Das einzige Lebewesen im gesamten Laden war eine Kassiererin, etwas korpulenter, mit blondem gewelltem Haar, die etwas größer war als die Kasse vor ihr. In der Hand hielt sie ein Schokolädchen, in das sie gerade beißen wollte. Sie bemerkte nicht, dass jemand den Laden betreten hatte. Ihr Blick war zur Ladendecke gerichtet, an der die an Ketten hängenden Namen der Verkaufsabteilungen leicht schwankten. Fleischwaren, Milchprodukte, Sanitärartikel, Brot, Getränke.

Sie nahm einen kleineren roten Korb in die Hände, weil sie nicht beabsichtigte, allzu viel zu kaufen, nur einige Grundnahrungsmittel, um bis morgen zu überleben. Joghurt, Milch und irgendwelches Gebäck. Sie blickte zurück, in der Hoffnung noch jemanden in den Laden kommen zu sehen. Der Boden des Ladens war dreckig, voller Müll und Fußabdrücke. Es sah so aus, als wäre er tagelang nicht geputzt worden. Die Regale verströmten nicht die übliche Fülle. Viele der Produkte waren wegen des baldigen Ablaufdatums im Angebot. Es gab fast kein frisches Obst und Gemüse, außer man zählt vollkommen braun gewordene Bananen und eine aufgeweichte und verschrumpelte Gurke mit dazu. Das Unternehmen Agrokor sank immer tiefer, obwohl er das einzige Geschäft im Stadtteil war. Der einst prachtvolle Konsum verwandelte sich in die schon lange unterlegenen Läden wie Diona, Slavija und Union, deren Regale kurz vor Schließung vor Leere klafften, als wäre eine Katastrophe in Sicht. In Fülle gab es nur Bücher, die auf dem Drehregal vor der Kasse standen. Sie leuchteten in glänzenden Plastikverpackungen, einige hatten ein Geschenk beiliegen – Sonnencreme oder Plastiktütchen mit Instantkaffee.

Während sie durch die Regalreihen des leeren Ladens ging, fühlte sie sich unwohl. Sie hoffte, dass wenigsten noch irgendjemand außer ihr und der Kassiererin im Laden wäre. Zwischen den Alleen der Produkte warf sie ab und zu einen Blick in Richtung Kasse. Seitdem sie herein-gekommen war, hatte sich die Kassiererin kaum bewegt. So regungslos sah sie aus der Ferne wie ein Schokoladenweihnachtsmann in rot-grüner Verpackung aus. Es schien, als ob sie genau so einen kaute. Eine ganze Reihe im Süßwarenregal war mit solchen Schokoladen gefüllt, verschiedene Milkaweihnachtsmänner, Lindthasen, Rentiere, Eier und Küken, die noch von Weihnachten und Ostern übriggeblieben waren. Sie bewegte sich in Richtung Brotabteilung. Auf einmal hörte sie irgendeinen Lärm. Vor ihr eilte ein Mann in roter Konsum-Uniform mit einem Wagen voller Getränke vorbei. Er war ungewöhnlich dürr, bleich und hager, gar nicht so wie diese Pappfigur. Er schleppte die Getränke wie eine Ameise, die eine übergroße Last in Panik trägt, er schien sie nicht zu bemerken, sodass er sie beinahe mit dem überladenen Wagen umgestoßen hätte. Im letzten Augenblick wich sie in Richtung Kühlfach mit Wurstwaren zurück. Für einen Moment blieb sie vor dem Kühlschrank stehen. Er hatte auch ein beispiellos spärliches Angebot. Nur ein paar fabrikmäßige Packungen mit geräuchertem Schinken, Mortadella und rohem Schinken. Die eingeengten, vakuumverpackten Fleischstücke waren nicht von leuchtender, leckerer rosa Farbe wie auf der Verpackung, sondern hatten matte graue und braune Farbtöne. Die meisten Verpackungen hatten gelbe Etikette, auf denen in roten Buchstaben AKTION geschrieben stand. Sie starrte auf diese Fleischstücke, als wäre sie der Entdeckung eines Mysteriums auf der Spur. Sie stockte. Sie strich über die Verpackungen, in denen die eingepressten Fleischstücke waren.

Aus ihren Gedanken schreckte sie plötzlich eine zittrige Männerstimme, die sie fragte: „Naschst du gerne Fleisch?“ Es war der alte Mann, den sie gerade eben im Café vor dem Laden gesehen hatte. Wie hatte sie bloß nicht bemerken können, dass er hereingekommen war und sich nah an sie herangeschlichen hatte. Er trug ein aufgeknöpftes Hemd und eine dunkle Brille. Sie wollte nicht hinstarren, aber es schien ihr, als wäre auch sein Schlitz offen. Sie war sprachlos. Und dann fragte er sie: „Und, mögen Sie alte Knacker?“

Mit unsichtbarer Ohrfeige im Gesicht bewegte sie sich stumm in Richtung der Milchprodukte. Der alte Mann bewegte sich langsam und schwächlich. Sie stopfte einen Fruchtjoghurt in ihren Korb und nahm sich ein Tetra Pak Milch, das außerhalb des Kühlfaches stand. Sie musste nur noch Brot finden und diesen verfaulten Ort so bald wie möglich verlassen. Die Stille im Laden wurde plötzlich von orientalischer Popmusik unterbrochen, die klang, als würde sie jemand über ein Handy spielen lassen. Bald hörte sie auch ein Summen. Ein junger Mann betrat den Laden, den sie aus der Nachbarschaft vom Sehen her gut kannte. Er war etwa 18 Jahre alt und immer auf der Straße zu sehen. Oft sang er laut auf einer Parkbank, rief Passanten herbei und lenkte so die Aufmerksamkeit auf sich. Und plötzlich verstummte die Musik aus dem Handy. Der junge Mann beschimpfte die Batterie und das Handy. Sie näherte sich der Brotabteilung. Der junge Mann, der nicht in ihrem Blickfeld war, schrie hin und wieder etwas. Er werde dies und das zum Teufel schicken, er verfluchte Mlinci, Kaffee, Pfannen und etwas, was nicht da war. Zuletzt erwähnte er Todorić, er werde ihn in sein diebisches Arschloch ficken. Am Klang seiner Stimme konnte sie die Entfernung zwischen sich und ihm ausmachen. Dann begann er etwas in dieser orientalischen Popmelodie vor sich hin zu singen. Anfangs leise, sodass sie die Worte nicht erkennen konnte, aber dann immer lauter. Sein Skandieren Kon-su-mie-ren, Kack-en, Kre-pier-en, wir werden alle wie Schlachtvieh! hallte durch den Laden. Sie stand in der Brotabteilung, während sich ihr das Lied des jungen Mannes näherte. Kon-su-mie-ren, Kack-en, Kre-pier-en. In der Brotabteilung war keine Menschenseele. Es gab darüber hinaus weder frisches Gebäck noch Brot. Nur vakuumverpacktes amerikanisches Toastbrot mit langer Haltbarkeitsdauer. Kon-su-mie-ren, Kack-en, Kre-pier-en. Sie wartete an der Theke darauf, dass jemand auftauchte. Der junge Mann kam immer näher, jetzt bemerkte er sie und ging direkt auf sie zu. Kon-su-mie-ren, Kack-en, Kre-pier-en. Sie stand regungslos vor der Brotabteilung. Der junge Mann hörte auf zu singen und blieb ganz nah bei ihr stehen. Sie konnte seinen Atem riechen. Es roch nach Zigaretten und Verwahrlosung. Sie drehte sich um und blickte ihm in die Augen. Sein Augenweiß war von winzigen roten Blitzen durchzogen. Sein Gesicht war irgendwie ungewöhnlich aufgedunsen. Sie standen so in angespannter Stille nebeneinander. Dann hörte man plötzlich den Klang von Glasflaschen, die irgendwo an einer anderen Stelle des Ladens zu tanzen begannen. Sie erstarrte. Sie rannte plötzlich in Richtung Kasse. Die Abteilungsschilder über ihnen begannen zu wackeln. Die Kassiererin war nicht an der Kasse. Sie hörte nur eine Stimme, die sie fragte, ob sie eine Multipluskarte hätte. Sie sah sich verwundert um, woher diese matte Frauenstimme kam. Es war, als würde sie aus den geschmolzenen Schokoladenkrümeln kommen, die in der rot-grünen Verpackung eingewickelt waren.

Übersetzt von Anne Grab

Original: Maša Kolanović: „Konzumiranje“

In: Maša Kolanović: „Poštovani kukci i druge jezive priče“. Zagreb: Profil 2019.