Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Maja Solar

OHNE GEWÜRZ (Auswahl)

MARKT

du gehst zum markt und willst ein halbes kilo
aber er wiegt dir schon 200 gramm mehr ab und fragt passt das so
dann als er schon alles zusammengepackt hat
die waage ist immer verborgen hinter einem haufen an obst, sodass du die zahlen nicht siehst
und er drückt dir noch einen apfel in die hand
und sagt
„und das hier für eine solche schööönheit“
und es sieht aus, als hättest du gewinn gemacht
aber als du nach hause kommst begreifst du
dass er dir viermal mehr abkassiert hat

und dann bist du schuld, weil du immer den apfel von der schlange nimmst

DIE ÖKONOMIE DES KLASSENLEIDENS.
ODER WIE ES MIR AUF DIE NERVEN GEHT, WENN MAN SAGT, DASS AUCH DER KAPITALIST LEIDET

v. šš. kauft den kindern kein obst
fleisch ist luxus auf dem tisch jeden dritten,
vielleicht auch vierten tag,
fleisch von schlechtester qualität.
sie und ihre acht durchsichtigen schwestern verkümmern beim
abwasch. beim kochen erfinderischer gerichte aus den
resten des günstigen essens und der gemähten traumata
des tages

e. klj. ist das kostbare shampoo ausgegangen
das das haar zart färbt und es üppig macht
sie leidet, denn sie hat sich gewöhnt an das eigene besondere
shampoo
und die eigenen besonderen teueren cremes gegen falten
ringe um die augen,
bei obligatorischem sonnenschutzfaktor 66
e. klj. hat eine gelenkige schwester und einen pyramidenen
bruder, alle sind gott sei dank reich

đ. đđ. teilt das zimmer mit viereinhalb von ihnen.
er hat weder frieden noch ruhe stuhl tisch bücher, nur
herumstehende etagenbetten und massen an zigarettenstummeln in
den gläsern. manchmal schläft auch der vater im zimmer, betrunken,
er dünstet knoblauch und rakija aus, mama hat ihn
herausgeworfen aus dem bett.
wenn der älteste bruder empfindet, dass ihm heiß ist, öffnet
er das fenster. ohne rücksicht darauf, dass die anderen
frieren. jeden tag spielen die bewohner und bewohnerinnen dieser
wohnungseinheit emotionales pingpong
solange bis sie nicht mehr können vor müdigkeit, normalerweise zur
sechsten strophe einer amüsanten operette
đ. đđ. wird vielleicht kein geld haben die uni
zu bezahlen, denn seht ihr, die ideologie sagt, dass er nicht
hervorragend ist

j. kpr. steht auf, wann er will, studiert, wann er will und
wie viel er will.
er hat es sehr schwer, denn er ist zweiunddreißig
und lebt bei den eltern.
es ist einfach noch nicht zeit sich loszulösen.
es ist schwierig allein zu leben zu arbeiten zu studieren sich zurechtzufinden
für ein essen. so kocht mama. das bunteste
essen der welt.
er hat keine geschwister, er starrt den riesigen teig
der musik an und raucht gras, um sich leichter fortzurollen
aus dem leiden

r. str. war niemals am meer, niemals. sie kann nicht
schwimmen, außer jenes kleine schwenken der hände im
plastikbecken, das die eltern, obdachlose
kriegsrückkehrer, auf dem markt gekauft haben. r. str. hat
porzellanhaut, dann ist es vielleicht auch besser, nicht
ans meer zu fahren und sich der sonne auszusetzen, geld für cremes
mit hohem sonnenschutzfaktor hat sie jedenfalls nicht. r. str.
leidet, weil sie noch niemals einen freund hatte, weder sex
noch einen richtigen kuss mit der zunge im mund, wenn man
den schmatz in der vierten klasse nicht mitzählt auf einem geburtstag
als sie flaschendrehen spielten

kss. s. leidet, weil sie den studienkredit abbezahlen muss.
das ist schwierig und sie wird auf das stürmische
einkaufen von kleidung bei zara verzichten müssen. das einkaufen
auf einmal in der woche reduzieren, wenn sie es rationalisiert
vielleicht auch zweimal. glücklicherweise vermieten sie in einem haus von zweihundert und
mehr quadratmetern zwei wohnungen
den untermietern
und irgendwie wird sie sich herauswinden.
kss. s. hat kongruente möpse und trinkt kukicha und
bancha tee.

kč. žlj. hat gerade die wohnung verloren, die die bank
unter einer hypothek gehalten hat und in der sich die waschmaschine
ein paar mal täglich drehte. sie haben gewaschen
die schweren vorhänge und schweren erinnerungen. denn kč. žlj. ist
vormund für die minderjährigen geschwister,
insgesamt sind sie elf, zusammen mit
sechs hunden. wohin sollen jetzt die geschwister, wohin soll
jetzt kč. žlj., wie wird sie wäsche waschen und brennnesseln
mit eiern schmoren… kč. žlj. trinkt jelen bier aus der plastik
flasche von zwei litern.

s. sjj. sagt über sich selbst, dass sie von beruf
linke aktivistin ist.
sie hört elektronische musik und zieht sich so an. sie schreibt
projekte und hat eine wohnung im siebenundsechzigsten
stock, mit aussicht auf die synagoge. immer
sagt sie, dass sie kein geld hat.
aber sie hat größere probleme. psychische.
sie betrügt ihren freund und er betrügt sie, denn polygamie ist eine
wesentliche zutat
der suppe, in der alle alles verheimlichen und denken, dass sie
emotional frei sind
wenn sie als paar leben
und verbergen wie sie ficken mit wem auch immer.
s. sjj. sucht unmengen an psychatern auf
 an psychotherapeuten psychodramen, therapien
workshops und lauter schwachsinn
die komplizierte pathologien heilen
von denen, die geld haben um sie zu bezahlen.

hlj. čnj. weiß, dass nicht die psychologie der grund für das leiden ist,
sondern die gesellschaft. er ist angestellt in der gewerkschaft, obwohl
gewerkschaften sperrige staatliche tentakeln sind, aber hlj. čnj. möchte
sich nicht ergeben. er geht regelmäßig zu den treffen und
demonstrationen, auf denen er mit aller kraft in
die trillerpfeife bläst. von beruf ist er schauspieler, wovon
man nicht leben kann. deshalb spielt er, dass er lebt.

pl. tl. wird verrückt, weil er nicht weiß, wie er die gasheizung bezahlen soll
in der villa von dreihundert achtundzwanzig quadratmetern.
die heizung ist sehr teuer, denn die gasheizung geht
ihren geopolitischen kapitalistischen
gang, mystisch für die menschen,
 köstlich für die unternehmen.
pl. tl. ist sehr besorgt wegen der großen ziffer
und deswegen hat sich ihm
eine falte auf der stirn gebildet.

krr. crr. macht überstunden ohne bezahlung, sogar auch
an manchem wochenende, in einem kleinen laden in
liman. das haar dünnte sich ihr aus mit siebenundzwanzig.
sie sagt nichts über die fehlende bezahlung, denn sie ist glücklich, dass sie
überhaupt eine arbeit hat.
meist ist sie wütend und unfreundlich, obwohl die chefin
denkt, dass der umsatz schon viel höher wäre, wenn sie
ein wenig mehr in sich investieren würde. ein wenig mehr
lächeln. ein wenig mehr kommunizieren. und diese…diese…diese
haare ordnen, denn wer hat schon eine frau gesehen
mit glatze!

dmr. šs. arbeitet als juristin und als eingespannte
stute für den ganzen tag. in der kanzlei hat sie immer
arbeit, aber manchmal wird die arbeit auch mit nach hause gebracht, die arbeit
kommt zum abendessen zum abendlichen fernsehen
zum  abendlichen sex mit dem mann dazu. arbeit ist immer da
und sie ist stolz, dass sie so fleißig ist. kinder sind noch
keine da, sie kommen, wenn sie mehr geld verdienen und die sechsundvierzig quadratmeter
wohnung verkaufen, ein doppelt so großes haus kaufen,
in dem sie wieder arbeit zu abendessen werden. es muss platz
geschaffen werden für arbeit. dmr. šs. begrüßt das neue
arbeitsgesetz
und die verlängerung der altersgrenze für die rente,
sie spuckt auf alle faulenzer*innen der welt.
sie und ihr mann verbringen den sommer auf korsika, manchmal
auf sardinien, sie überwintern in der hysterie. drm. šs. ist meist
froh, wenn sie nicht gerade meditiert und affirmationen
von louise hay ausspricht. ab und zu organisiert sie ein date
mit ihrem mann, denn in den ratgebern steht, dass man beziehungen
erfrischen muss,
beziehungen brauchen gewürz

gf. mnd. lebt in einer roma siedlung und hat die schule nicht
beendet. denn morgens musste er arbeiten und nachmittags
ist er entweder im unterricht eingeschlafen oder zu hause. er war bei der armee
als das noch pflicht war und hat hauptsächlich
schöne erinnerungen. außer an den paar tagen
als die militärpolizei bei ihm und cile heroin und spritzen
gefunden hat, weshalb sie sie
lange zeit getreten und
in die berge versetzt haben. das stört ihn nicht,
er ist an den beengten kalten raum ohne
wc gewöhnt. er weiß nicht, was gewürze überhaupt sind.

ht. wwv. leidet, weil sie heute morgen kein geld hatte für
heidelbeeren, man soll heidelbeeren jeden tag essen, denn
sie sind voll von antioxidantien. glücklicherweise ist ihr
ein ätherisches öl vom wilden oregano geblieben und
eine maske für das gesicht kollagen anti-age lux
 dann kann sie in ruhe tipps
von doktor oz im kalorienarmen tv schauen
das eigene leiden im äther abliefern

SELBSTINTERVIEW (Auszug)

WARUM OHNE GEWÜRZ?

weil ich besessen bin von einer geschichte über den luxus. weil wir in einer zeit des kapitalismus leben, in der sparmaßnahmen durchgeführt werden. im grunde genommen hat die gesamte geschichte des kapitalismus ihre verteidiger des sparens, seit adam smith und seiner erklärung, dass ein kapitalist einer ist, der gespart hat. ganz vom anfang des kapitalismus an bis jetzt existiert das narrativ darüber, wie gut sparen ist, und dass arbeiterinnen und arbeiter arm sind, weil sie nicht sparen. wenn sie nur aufhören würden zu rauchen, alkohol zu trinken und wer weiß was alles noch, was „überflüssig“ ist, dann wären sie also weniger arm… interessant ist auch, welche ware in einem bestimmten gesellschaftlichen moment als luxuriös gilt, was als notwendig und was als überschuss gilt, interessant ist, was in einer bestimmten kultur als notwendig betrachtet wird oder nicht und wie sich das ändert. gewürze spielen in dieser geschichte des luxus-mangels eine große rolle. die gewürze, die aus entfernten ländern (kolonien…) gekommen sind, waren luxusgüter und die reichen haben sie genutzt, es existierten sogar gesetze, laut denen diese ware den anderen gesellschaftlichen schichten verboten war. als zum beispiel tee, kaffee und zucker in europa aufgetaucht sind, waren sie teure luxuswaren für die reichen, und zum beispiel die prediger des neunzehnten jahrhunderts hatten tausend ratschläge und rezepte für arbeiterinnen und arbeiter – sie sollten von kindheit an arbeiten, sparen, nicht trinken und diese ganze nutzlose teure ware nicht verwenden. die ärmsten der arbeitenden wurden diese ganze kapitalismusgeschichte hindurch auf ein leben im mangel reduziert, auf ein leben, das vielleicht mehr einem animalischen als einem menschlichen leben gleicht. die ärmsten der arbeitenden existieren, um mehr reichtum zu erzeugen, für eine handvoll reicher, um zu überleben so gut sie können, hauptsache, ihre kraft wird ausgenutzt, solange sie voll arbeiten können, und wenn nicht – scheiß drauf.
so leben die ärmsten der arbeitenden auch heute in bedingungen, unter welchen viel davon luxus ist, viele gewürze sind unerreichbar, viele können nur träumen von obst und gesundem essen, das leben der mehrheit läuft auf arbeit hinaus, von der sie essen, strom, wasser und ihre wohnung bezahlen können, und das ist es. ein überleben, aber kein leben. dann, wenn obst luxus wird, der reich gedeckte tisch fast zur sünde wird, die fahrt ans meer luxus wird, freizeit jeder art luxus wird, poesie vollständiger luxus wird… dann fällt es mir schwer, nicht darüber zu schreiben.

Übersetzt von Antonia Flach

Original: Maja Solar: „Bez začina“. Novi Sad: Kulturni centar Novog Sada 2017.