Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Luiza Bouharaoua

DAS MYSTERIUM DER HEILIGEN LUCIA (Thema: Mysterien)

10.05.2020

Mit dem Rücken zu mir gedreht, fragt mich meine Mutter: Luiza, wo ist dein anderer Stiefel?

***

Meine Mutter und ich kehren vom Kindergarten nach Hause zurück. Auf halbem Weg nach Hause stoßen wir auf eine Pfütze und ich springe hinein. Wasser spritzt auf meine gelben Stiefel, aber es dringt nicht in sie ein. Ich wate im Wasser und meine Füße sind trocken. Zu Hause angekommen, ziehe ich meine Stiefel aus. Sie glänzen immer noch vom Wasser, als ich sie unter die Treppe stelle. Es ist Herbst, daher regnet es die ganze Zeit.

Mutter geht in die Küche und wärmt das Mittagessen auf. Sind das gefüllte Paprika im Topf? Ich schaue meine Mutter an, ich schaue einen Trickfilm im Fernsehen.

Sie fragt mich: Wo ist dein anderer Stiefel?

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Es ist nicht Herbst, nein. Es ist Winter. In meiner Hand trage ich die Ikone der Heiligen Lucia, die ich im Religionsunterricht erhalten habe. Es ist der 13. Dezember und es ist mein Namenstag, obwohl ich nicht Lucia heiße. Es war der Name einer Heiligen, der meinem Namen am meisten ähnelte.

Wir kommen aus dem Kindergarten zurück, meine Mutter und ich. An den Füßen habe ich die Gummistiefel, mit denen ich über das Wasser gehe. Als wir nach Hause kommen, stecke ich die Heilige Lucia in meine Manteltasche, meine Mutter hängt den Mantel auf einen Kleiderbügel in der Veranda, ich ziehe meine Stiefel aus. Einen nach dem anderen. Ich lasse sie beide bei der Treppe.

Mama, was meinst du, ist jetzt einer weg?

***

Im Kindergarten gibt es keinen Religionsunterricht. Man geht erst dann zum Religionsunterricht, wenn man zur Schule geht. Woher habe ich dann das Bild eines Mädchens mit einem Paar brauner Augen im Kopf und einem anderen auf einer goldenen Schale?

Die Mutter steht immer noch am Herd. Rieche ich da Fleischbällchen mit Salsa? – Der andere Stiefel ist weg. Los, such ihn – sagt sie.

Die Heilige Lucia hat zwei Paar Augen und ich habe jetzt nur einen Stiefel.

***

Ich umrunde die Treppe, schaue in jede dunkle Ecke des Hauses und klettere nach oben. Ich gehe in mein Zimmer meiner Mutter, so haben wir es genannt, seitdem ich mein eigenes haben wollte. Vor der Schranktür finde ich einen gelben Gummistiefel, ich fahre mit dem Zeigefinger über das glänzende Gummi, und wenn immer noch Wasser herabrinnt, ist es meiner. Es ist ein kleiner roter Beutel im Stiefel, in dem kleinen Beutel ist ein goldener Ring, genauso breit wie mein Ringfinger, und darunter ein Bild der Heiligen Lucia. Ist die Heilige Lucia aus dem Mantel in den einen Stiefel umgezogen oder war sie doch ständig in dem Stiefel?

Es ist mein Namenstag. Die Mutter hat sich nicht einmal vom Herd entfernt.

Wie ist mein Stiefel nach oben gekommen?

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Der Ring dehnt sich aus, wenn meine Hand wächst. Jedes Mal, wenn mir das Metall in das Fleisch meines Fingers schneidet, bringt meine Mutter ihn zu einem benachbarten Goldschmied, der ihn weitet. Hier gibt es kein Geheimnis.

Die Ikone der Heiligen Lucia verschwindet. Niemand erzählt mir von dem Mädchen, im Religionsunterricht in der Schule wird nur über die Schutzheilige des Augenlichts gesprochen. Jedes Jahr erscheint die Heilige Lucia nur als Geschenk, das ich an meinem Namenstag erhalte, und danach nicht mehr. Hier gibt es kein Geheimnis.

Selbst das Aufwachsen und Erwachsenwerden ist kein Rätsel, aber an diesem Nachmittag, als ich in den gelben Gummistiefeln, in denen ich über das Wasser laufen konnte, nach Hause gekommen bin, hat meine Mutter am Herd gestanden, hat das Mittagessen aufgewärmt, ich habe einen Trickfilm angeschaute, habe meine Mutter angeschaut, den Trickfilm geschaut und aus dem Augenwinkel gesehen, wie sie lächelt.

Wer hat meinen Stiefel versteckt?

***

– Wie oft wirst du mich das noch fragen? – sagt die Mutter. – Weißt doch selbst wer? Ist es so?

– Ich weiß –  sage ich.

Sie dreht sich zu mir und sieht mit ihren braunen Augen direkt in meine.

– Ich habe dich die ganze Zeit aus dem Augenwinkel beobachtet, aber ich habe nicht gesehen, dass du dich auch nur eine Sekunde lang vom Herd entfernt hast.

Die Mutter lacht laut auf. – Schauen, nicht nur sehen. Das ist ein echtes Mysterium.

Übersetzt von Klaus-Dieter Föhlinger

Original: „Misterij Svete Lucije“ von „Dekameron na Krilu“

auf: https://krilo.info/misterij-svete-lucije/