Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Olja Savičević Ivančević & Ivana Bodrožić

25.03.2020

To: Ivana Bodrožić

Subject: Quarantäne und Pandemie überleben – Tag für Tag retten

Liebe Ivana,

heute, wenn ich diesen Brief schreibe, steht der 20. März auf dem Kalender, der letzte Wintertag. Im Handumdrehen sind vierzig Tage seit unserem letzten Briefwechsel vergangen und die Welt hat sich verändert, wie es undenkbar schien.

Ich habe dir nicht geschrieben, weil ich mich, wie du weißt, nicht gut gefühlt habe und neben allem hat mich auch diese entsetzliche Unruhe erfasst, von der ich dir erzählt habe, als wir uns gesprochen haben. Im Nachhinein gesehen ähnelt sie den Fällen, wenn Tiere vor Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen verrückt werden, nur dass meine Tiere – Hund und Katze – im Unterschied zu mir die ganze Zeit vollkommen friedlich und zufrieden sind (beim Hund würde ich sogar sagen, dass er glücklich ist und bei der Katze ist es sowieso schwierig in Erfahrung zu bringen). Aber seit diese Situation begonnen hat, hat sich meine Gesundheit verbessert und ich habe mich beruhigt – die Welt hat sich verlangsamt und so grausam die Gründe dafür auch waren, für mich ist dieser Rhythmus normaler. Ich warte die ganze Zeit, dass Jugend und Schönheit zu mir zurückkommen, so wie angeblich die Delfine nach Venedig zurückgekehrt sind.

Nach unserem letzten Briefwechsel (über Italien!) hat sich nach vielen Jahren mein Kindheitsfreund aus Turin, Francesco, bei mir gemeldet. Er sollte am Veröffentlichungstag dieses Textes, dem 26. März, nach Zagreb reisen und das Orchester in der Lisinski Konzerthalle dirigieren und er hat mich zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Ich habe ihm geantwortet, dass ich die Tage auf der Kinderbuchmesse in Bologna verbringen werde… Nicht mal eine Woche nach der erwähnten Mail von Francesco wurde in Italien die Katastrophe offensichtlich.

Sobald angekündigt wurde, dass Schulen und Kindergärten geschlossen werden, habe ich Kleidung, etwas zu Essen, Bücher und den Laptop eingepackt und bin mit der Familie in den Süden auf die Insel gefahren (einer der Vorteile des Arbeitens von Zuhause, solange man die Arbeit noch hat), davon überzeugt, dass ich in zehn Tagen zurück in Split sein werde. Jetzt allerdings, kaum ein paar Tage später, sehe ich, dass wir hier hängen geblieben sind – zum Glück! Zumindest können wir anstelle von Nono und Nona, die zwar sehr agil, aber schon seit längerem im fortgeschrittenen Alter sind, in den Laden gehen.

Hier sind wir wirklich isoliert, aber auf eine sehr „natürliche“ Art, das Meer vor dem Fenster und der Wald hinter dem Haus sind zu dieser Jahreszeit ohnehin menschenleer. Es ist nicht wie letzten Sommer, als du mich in der Bucht besucht hast, jetzt ist es vielleicht sogar schöner, aber auch gruselig. Meine Tochter hat das wie einen Traum beschrieben, in dem alles ideal ist, ausgenommen dem konstanten Gefühl im Hintergrund, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Und es scheint mir tatsächlich so, dass ich morgens in einem merkwürdigen Traum aufwache, deshalb versuche ich, ihn mit Wirklichkeit auszufüllen: mit Arbeit und Zusammensein mit den Kindern.

Außer den Nachrichten, die ich verfolge, fällt mir vorläufig nichts schwer. Ich bin Hygiene und Einzelisolation immer zugeneigt gewesen, wenn man das so sagen kann, vielleicht finde ich allein das Abstandhalten schwerer. Ich sehe, dass ich ohne viele Dinge zurechtkomme, und in Selbstgesprächen komme ich zu der Erkenntnis, dass ich leicht auf das Meiste verzichten könnte, außer dem, was essenziell für mich ist: Bücher zu haben, den ein oder anderen Film, Musik und mir die Beine zumindest im Garten vertreten zu können. Wenn ich zwischen dem und allem übrigen wählen müsste, würde ich das Erwähnte auswählen, auch wenn ich dann nur trockene Nudeln essen könnte. Während die Leute gerannt sind, um Mehl und Klopapier zu kaufen, habe ich selbstgefällig (noch) ein paar Bücher im Buchladen geholt. Aber wenn es so weiter geht, wird auch Nonas Proust an die Reihe kommen, der mich seit Jahren vergebens aus dem Regal hier in Korčula anblinzelt. Das ist eine einmalige Gelegenheit, etwas außer Combray durchzulesen. Wenn ich mich anlüge – und es wäre nicht das erste Mal – lüge ich nun auch dich an.

Jetzt mal im Ernst, ich habe den Artikel eines italienischen Journalisten gelesen, der sagt, dass sich Nahrung und Gebrauchsartikel immer finden werden – die Leute finden sich zurecht – dass aber Langeweile etwas ist, was uns fertigmachen kann, wenn das nicht das Virus erledigt. Dann habe ich mich an Mama erinnert, die, seitdem ich auf die Insel gekommen bin, über meinem Kopf schwebt wie eine Sprechblase und daran, wie sie ganz ernsthaft (sie ist immer ernst und lächelt im selben Moment) erzählt, wie sich einem Kind ein Schatz offenbart, wenn es lesen lernt, ein Weg durch ein Portal in neue Welten (letzteres ist meine Interpretation ihrer Worte). In den letzten Jahren fällt ihr das Lesen schwer, sie schaut mehr fern, aber sie erzählt mir das Gesehene auf viel unterhaltsamere Art nach. (Du hast ihr bei Stanković sehr gefallen.)

Obwohl Mama im Haus ist, „in Sicherheit” und nicht allein, ist Sicherheit jetzt ein relativer Begriff und ich denke viel an sie, an ihre unterdrückte Empörung über das Eingesperrtsein und wie wütend sie anfangs auf meine Schwester und mich war: sind wir verrückt geworden, das kommt nicht in Frage, sie muss in den Laden, sie muss spazieren, sie hat zwei Kriege durchgemacht, Hunger, Waisenhaus, den Tod ihres Ehemanns, was ist ihr Leben, wenn sie nicht nach draußen geht – und letztlich die Akkzeptanz der Situation. Jetzt bleibt sie Zuhause; wenn wir uns hören – jeden Tag – hat sie zahllose Fragen („Bist du in letzter Zeit in Kontakt mit einem deiner Übersetzer gekommen?” ist der Hit) und Desinfektionsratschläge für mich, von denen keiner brauchbar ist. Aber ich höre zu, was kann ich tun, soll ich jetzt etwa aufhören?!

Ich denke mir – und die Natur ist unfair, unbarmherzig in jedem Fall -, es ist so, dass das Virus nicht diskriminierend ist, es hat die Menschheit vereint, es erreicht alle ohne Unterschied, aber wieder sind die Schwächsten die Gefährdetsten. Sie ist nicht verwunderlich, die übergroße Sorge um die Alten. Sie verhungern an der Rente, ihre Heime sind nicht adäquat, die Krankenhäuser unzureichend ausgestattet, viele sind in der Situation, am Ende ihres Lebens im Müll zu wühlen – und jetzt ist da noch dieses grauenhafte Virus. Die natürliche Selektion vervollständigt das, was die soziale längst begonnen hat. Weißt du, irgendwie bezweifle ich, dass sich, wenn das vorbeigeht oder überhaupt in unserem Leben, etwas Bedeutendes ändern wird. Ich denke nicht wie die Optimisten, dass die Leute endlich etwas über die Natur und die Gesellschaft lernen werden. Es zeigt sich schon: wer gierig ist, wird noch gieriger, gute Menschen werden noch besser und unentbehrlicher, damit die Welt einigermaßen funktioniert, Verrückte noch verrückter (die Gewalt nimmt zu) usw. Ich habe nur die kleine Hoffnung, dass sich, zumindest aus egoistischen Gründen, dieses nonchalante Verhältnis der Menschen gegenüber der Natur ändern wird.

Der letzte Brief, den du mir geschickt hast, hast du selbst mit etwas Sorge beendet und mit der Frage: Was ist zu tun und was ist zu lesen?Verzeih, dass ich so lange gebraucht habe, dass also erst das Ende der Welt kommen muss, damit ich dir auf den Brief antworte.

Manchmal ist die Erfahrung der Isolation durch die Feier des Lebens und des Dekameron erträglich und manchmal wird in der Isolation Mein Kampf der Herd einer Pandemie,die schlimmer ist als Pest und Corona. Ich habe dir eine kurze Liste meiner Lieblingsbücher zum Thema Pandemie, Isoation oder Schreiben in der Isolation gemacht, die nicht Die Pest, Die Verwandlung oder ähnlicher Horror sind – damit sie dich retten Tag für Tag:

José Saramago: Eine Zeit ohne Tod

Spekulative Fiktion über eine Pandemie der Ewigkeit, das angekündigte Sterben und darüber, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Ein philosophisches Traktat, dass sich in ein Märchen auswächst.

Die Poesie von Sor Juane Inés de la Cruz, einer wunderbaren mexikanischen Dichterin und Nonne, die wegen ihrer mutigen und progressiven Haltung der Häresie angeklagt wurde und sich in ihre Zelle zurückzog, ihre Arbeit den Armen widmete und schließlich an der Pest starb. Sie hat uns eine Handvoll unvergessliche Verse über das Leben vor der Isolation hinterlassen, die die Freiheit und die Liebe feiern.

Aleksandr Solženicyn: Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič

Ich muss noch einmal Mama und ihre Erzählung, wie sie während ihrer Schwangerschaft 7000 Tage in Sibirien von Karl Steiner gelesen hat, erwähnen. Dieses, wie sein Titel erahnen lässt, außergewöhnlich umfangreiche Buch nehme ich mir vielleicht nach Nonas oben erwähntem Proust vor, es ist wichtig, einen Plan zu haben. Ehrlich- für mich war schon ein Tag in Sibirien ausreichend, hervorragend geschrieben aus der Feder Solženicyns.

Ognjen Spahić: Hansenova djeca (Hansens Kinder)

Ich liebe kurze Romane, wenn sie dicht geschriebene Werke großer Stilisten sind und unter meine liebsten fällt auch dieser von Spahić über das Schicksal vergessener Häftlinge im letzten europäischen Leprosarium im Süden Rumäniens.

Xavier de Maistre: Die Reise um mein Zimmer

Dieses Buch soll dir Anregung sein, die kommenden Tage für die Fertigstellung deines Romans auszunutzen. Der freche Xavier wurde wegen der Teilnahme an einem Duell für die Zeit von sechs Wochen in seinem Zimmer eingesperrt und dort hat er seinen geistreichen Roman geschrieben. Seine Kinder waren natürlich nicht mit ihm eingeschlossen, draußen hat ihn nicht die Apokalypse erwartet, aber… Hm, ich weiß tatsächlich nicht, was ich dir noch sagen soll, vor diesem „aber” stehe ich ohne Argumente. Ich hoffe dennoch, dass du schreibst!

Tove Jannson: Das Sommerbuch

Ein zauberhaftes Buch für größere Kinder und größere Erwachsene über Sofie, die den Sommer „fern der Welt” auf einer kleinen finnischen Insel mit ihrem Vater und ihrer eigentümlichen Großmutter verbringt. Wenn du es gelesen hast – und auch wenn nicht – gib es Klara.

Ohne die Quarantäne romantisieren zu wollen, wünsche ich uns, dass wir in vierzehn Tagen im gleichen Ton korrespondieren, dass es nicht viel schlimmer wird. Was ich im Moment fühle, außer Sorge und zeitweiligen Zweifeln, ist weder Angst noch Enttäuschung noch Wut, nur Zärtlichkeit und Wehmut. Obwohl sie mir noch nicht fehlen – aber ich weiß, dass sie es werden -, denke ich, wie sehr ich meine Leute brauche, die über Städte und Länder verteilt sind. Wir rufen einander öfter an als vorher, die Stimme vertitt die Hand. Und die Worte, die wir einander schreiben, sind wärmer, fürsorglicher und sanfter. Ja, alles ist sinnlos außer dem Wohlwollen, den unsichtbaren Verbindungen zwischen uns. Das hier wird vergehen, wir werden warten. Schreib mir, wie du überlebst, schreib mir alles, was dich ruhiger und glücklicher macht!

Ich umarme dich – in der Hoffung, dass das bald möglich sein wird,

     deine Olja

Übersetzt von Emilie Grossinger

To: Olja Savičević Ivančević

Subject: Quarantäne und Pandemie überleben – Tag für Tag retten

Liebe Olja,

in dem Moment, in dem dein Brief eintrifft, findet in meinem Wohnzimmer gerade eine Geigenstunde per Videoanruf statt, D. hat sein Handy auf das Bücherregal gestellt, so dass seine Lehrerin die Position seiner Finger und des Geigenbogens sehen kann, während er eine Etüde übt. Der Laptop, auf dem ich sonst schreibe, wurde von meiner Tochter entführt, die damit versucht, dem Onlineunterricht zu folgen; draußen ist wunderbares Wetter, aber alles ist irgendwie gespenstisch still und ich schwebe zwischen Zweifeln und einer gedämpften Beklommenheit und der Illusion, dass das Leben normal verläuft. Ich muss zugeben, dass mir dieser Zustand schon irgendwo ins Gewebe eingeschrieben ist, überlagert mit Jahren der „normalen“ Alltäglichkeit, aber ich fühle, wie er langsam nach außen dringt und Signale der außergewöhnlichen Situation einfängt.

Noch letzte Woche, bis jeden Tag rigorosere Maßnahmen in Kraft traten, habe ich versucht, den Nachrichten nur minimal zu folgen, ich habe versucht, meinen Roman zu beenden, habe über den Tag nur wichtige Dinge erledigt, so dass die Echos der Realität mich nur erreichten, wenn ich unter Leute ging. Ich war zum Beispiel schockiert von einem Besuch im Kaufland vor ungefähr zehn Tagen, damals hatten diese Urgewalten, die du erwähntest, mit Mehl und Klopapier, den Kampf um große Packungen von allem begonnen, vor allem um Konserven, Nudeln, Reis und sonstige Kohlenhydrate. Ich ging verwirrt durch die Regalreihen und zog beinahe beschämt meinen Korb, in dem sich ein Liter Milch, ein Paket Champignons, Eis aus belgischer Schokolade und 200 Gramm Pistazien befanden. Die Menschen haben sich schon damals nervös gedrängt, aus Angst – nennen wir es beim Namen – um ihre eigene Haut und ihren vollen Bauch. Erst in dem Moment habe ich einen wirklichen Widerstand gegen Mehl gespürt und legte stolz mein Eis und die Pistazien auf das Kassenband. Wenn die Welt untergehen muss und ich mit ihr, dann werde ich das auf gourmet-glamouröse Weise tun.

Ich riskiere, dass mich jetzt jeder, der sich um die Ausbreitung der Pandemie Sorgen macht, einen unverantwortlichen, kurzsichtigen Idioten nennt, dem nichts am Leben und der Gesundheit unserer geliebten, alten Familienmitglieder liegt, aber ich sehe deutlich, so deutlich wie diese kristallklare Luft am ersten Frühlingstag, einen großen und entscheidenden Unterschied zwischen verantwortungsbewusstem Verhalten und der kritiklosen Akzeptanz des Ausnahmezustands, die ins Verderben führt. Ich betone, kritiklose Akzeptanz, die ins Verderben führt. Noch deutlicher, ich sehe einen großen Unterschied zwischen dem Virus, das den Körper angreift, und der menschlichen Dummheit, die den Verstand, die Seele und die Gesellschaft als Ganzes angreift.

Vorgestern Abend, als ich, liebe Olja, eine dieser grellen Nachrichtensendungen, genauer gesagt RTL Direkt, gesehen habe, lief ein Bericht über Menschen, die gegen die Regeln zur Selbstisolation verstoßen. Zu diesem Zweck wurde die Aufnahme eines Mannes gezeigt, der aus der Selbstisolation ausbrechen will und eines Sicherheitsbeamten, der ihm das nicht erlaubt. Daraufhin beginnt der Mann, der entkommen will, den Sicherheitsmann zu schlagen und die folgenden zehn Sekunden sehen wir in den Nachrichten, wie ein Mensch wie wild auf einen anderen einschlägt. Er traktiert ihn mit Fäusten und Füßen; wir sehen eine sinnlose, verstörende Aufnahme, und auch unsere Kinder, um die sich alle so sehr sorgen, sehen diesen Gewaltausbruch, der reproduziert wird mit sensationsheischenden Überschriften, Reportagen, Nachrichten an der Grenze zur Lüge, die sich von einer Anklageschrift nur durch das Fragezeichen am Ende unterscheiden. Wozu das? Wird das unsere Liebsten schützen? Wird das Idioten davon abhalten, sich wie Idioten zu benehmen? Wird das Leute dazu anregen, ihre Hände zu waschen? Wird das ein Bewusstsein für Solidarität erzeugen? Ich kann verstehen und akzeptieren, dass aus der Situation mit dem Coronavirus ein bestimmtes Gesundheitsrisiko entsteht. Wir können uns jeden Tag über das Ausmaß der Epidemie genau informieren, indem wir Bekanntmachungen von Wissenschaftlern verfolgen, zum Beispiel diejenigen von Igor Rudan, der sich wirklich mit der globalen Gesundheit beschäftigt und darauf hinweist, dass man sich verantwortungsvoll verhalten solle, aber ebenfalls Prozentzahlen anführt, nach denen die Mortalität dieses Virus für die allgemeine Bevölkerung zwischen 0,5 und 1,5 % beträgt. Andererseits gibt es leider keine solche Prozentzahl für das Ausmaß der menschlichen Dummheit in solchen Umständen.

Genau vor unseren Augen läuft der Film, in dem wir sehen, wie man in drei Tagen durch Angst die Menschen beherrscht, wie diese Situation ein unglaublich guter Übungsplatz ist, im Grunde genommen der beste für all die aktuellen Verrückten in der Welt, vom unbedeutenden Pavle Kalinić, der dazu auffordert, die kroatische Flagge am Haus zu hissen, um ein Atemwegsvirus wirksamer zu bekämpfen, bis zu diesem Wahnsinnigen Donald Trump, der es das „chinesische Virus“ nennt und beginnt, sich wie ein Wilder zu benehmen, und dafür sorgt, dass die Verkaufszahlen von Waffen in den USA steigen. Es scheint mir, als würde die Welt von einer „alt-neuen” Art Faschismus erfasst, zu guten Teilen vermischt mit der ewigen Adoleszenz des Westens, wo Telefonhotlines für psychologische Unterstützung eingeführt werden, weil du zwei Wochen in der Wohnung bleiben musst und in derselben Zeit die Leute mit einem Diskurs bombardiert werden, für den sich selbst Goebbels nicht schämen würde. Wir sind im Krieg! Wir kämpfen gegen einen unsichtbaren Feind! Ich verbiete euch jede Bewegung, auch wenn ihr mich später erschießt! (Irgendwie so etwas sagte der nicht weit entfernte Vučić, dem, wie mir ein Freund aus Belgrad schreibt, die Gehorsamen jeden Abend um 20 Uhr auf ihren Balkonen applaudieren, weil er jeden Tag neue Verbote einführt.)

Wenn ich nicht deutlich genug war, ich habe keine Angst vor einer Naturerscheinung, ich habe Angst vor menschlicher Manipulation derselben, um die Gesellschaft unter Kontrolle zu bringen, um sie in unglücklichen Zeiten erneut zu manipulieren, in die Armut zu treiben, zu bestehlen und die Mehrheit der Menschen wird allem zustimmen, solange sich keine kollektive Immunität gegen Dummheit bildet. Wenn man die Geschichte betrachtet, so dauert es schrecklich, schrecklich lange, bis sie sich herausbildet.

Ja, in der Zwischenzeit könnte sich die Welt verändern, so wie unsere Prioritäten, und darum scheint es mir, dass heute, mehr denn je, Kunst, Philosophie und Kultur gebraucht werden, genau jene Zweige, die jetzt als erste gelitten haben, zumindest finanziell. Als erstes wurden Kunst- und Kulturveranstaltungen abgesagt und die Mehrheit von uns Freischaffenden blieb in einer noch weniger beneidenswerten Lage, weil wir von dem feinfühligsten Teil im Wesen der Menschen abhängig sind, der als erstes aufhört zu existieren, wenn außergewöhnliche Umstände eintreten. Und paradoxerweise ist dieser Teil des Menschen der einzige, der uns davor bewahrt, Tiere zu werden, die sich nur um sich selbst und vielleicht um ihre Jungen kümmern. Darum, liebe Freundin, hat dein Brief mich in letzter Minute erreicht. Wenn du mir noch einmal vierzig Tage keine Zeile schickst, werde ich zu dir nach Korčula schwimmen.

Und vielen Dank für die Bücher, sie sind tatsächlich die größte Hilfe in diesen Zeiten, ich werde sie nach und nach lesen, einige von ihnen habe ich zuhause und in ihnen werde ich nach Antworten suchen. Und ich werde kein Mehl anhäufen, das kommt mir nicht in den Sinn, ich werde nicht mehr als ein Kilo Kartoffeln kaufen, das sehe ich als persönlichen Widerstand, ich habe für so was keine Nerven mehr, dank unserer Visionäre aus der Vergangenheit, die uns schon einmal für einige Jahre zu sozialer Distanz gezwungen haben, zu Fischkonserven und panischer Angst.

Wie in den guten alten Hollywoodfilmen, wenn eine wilde Horde kommt, werde ich nirgendwohin fliehen, sondern ich werde, um noch einmal vor der menschlichen Dummheit zu entkommen, wie der halbblinde alte Mann, der ruhig in seinem Schaukelstuhl sitzt, während die Enkel an ihm zerren, Pistazien knabbern, Eis essen, Homer rezitieren und ohne den Blick zu erheben sagen: Verpisst euch.

Deine Ivana

Übersetzt von Hajo Kortmann

Der vorliegende Text ist Teil der Kolumne „Četvrtkom u četiri oka“ (Donnerstags unter vier Augen) von Ivana Bodrožić und Olja Savičević Ivančević, die auf der Website www.booksa.hr von September 2019 bis Januar 2021 erschienen ist.

Original: „Preživjeti karantenu i pandemiju – spasiti dan po dan“

auf: https://booksa.hr/kolumne/cetvrtkom-u-cetiri-oka/prezivjeti-karantenu-i-pandemiju-spasiti-dan-po-dan-