Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Lucija Tunković

HÜHNERMÖRDERIN (Kategorie: Rache)

18.05.2020

Großmutter hat uns immer schreckliche Geschichten erzählt. Einmal erzählte sie uns die Geschichte, wie ein Nachbar ihren Vater mit einer Axt im Hof vor dem Haus ermordet hat. Sie sagte, dass ihre Mutter und ihre Schwestern in die Trauerkleidung gesprungen waren und sich hingekniet und geschrubbt und geschrubbt hatten, aber ihr Vater war hartnäckig und das Blut ließ sich nicht von der Türschwelle abwaschen. Also ließen sie nach einer Weile davon ab und kauften einen Fußabtreter. Wir haben Großmutter nie gefragt, warum der Nachbar Urgroßvater mit der Axt ermordet hatte, aber wir haben oft, jede von uns in ihrer Ecke von Großmutters Schlafzimmer, über die Hartnäckigkeit dieses Blutes nachgedacht, das wir auch selbst geerbt hatten, und über all die vielen Schuhe, die diese Schwelle beim Betreten des Hauses überschritten hatten.

Großmutter mochte ich in der Familie am meisten. Sie hatte schmale, aber kräftige Beine, dichtes, lockiges Haar und ein sanftes, nachgiebiges Gemüt. Früher war sie eine Verfechterin von Sauberkeit gewesen – Mutter sagt, dass Großmutter jeden Tag die Böden und Regale geschrubbt und die Kissen und Decken auf der Suche nach verstecktem Ungeziefer ausgeklopft hatte. Dann aber hatte sie eines Tages einfach aufgehört, mit den Schultern gezuckt und sich mit dem Staub und den trockenen Schlammresten auf dem Fußabtreter ausgesöhnt. Sie schminkte sich nicht, lackierte nicht die Nägel und stand jeden Morgen vor allen anderen auf, um frische, noch von Schlamm und Kot beschmutzte Eier aus dem Hühnerstall zu holen und sie auf den heißen Speck in die Pfanne zu werfen. Jeden Morgen weckte mich der schwere Duft gebratenen Specks, drang unter der Tür hindurch und direkt in meine Träume ein. War ich in einem Moment auf der Flucht vor Seehunden, so knirschten im nächsten Moment ihre Flossen unter meinen Milchzähnen, lecker und saftig, wie guter, alter hausgemachter Speck.

Großmutter lockte uns mit Frühstück und Zuckerstücken aus dem Schlaf. Es war Mittwoch, ich erinnere mich, dass im Fernsehen wieder La Usurpadora gezeigt wurde und dass wir Eigelb kauten, mit dem Brot den Teller entlangfuhren und Gabriela Spanic anstarrten, die unerwartet ihrer bösen Zwillingsschwester den Mann weggenommen hatte. Eingetaucht in die Hitze des Sommermorgens saßen wir am Tisch und verteidigten uns vor den hartnäckigen Fliegen, die um unsere Teller kreisten. Meine drei Cousinen und ich verbrachten die Sommer bei den Großeltern im Dorf, zwischen Weinbergen und unkastrierten Katzen. Sie waren schlaksig und langbeinig, ich aber war klein und rundlich; regelmäßig stieß ich mich an ihren Knochen oder Knien. Wir schliefen, wie dekorative Kissen verteilt in Großmutters Zimmer, zwischen Blumentöpfen und Wandteppichen. Wenn der Mais gerebelt oder verfaulte Birnen vom Boden aufgesammelt werden sollten, taten wir so, als ob uns etwas weh tut.

Am Nachmittag erschienen Großmutters Freundinnen in der Tür: Tante Sofa, bei der, wie man sich erzählte, eine Zeitlang eine Schlange im Kühlschrank gelebt hatte, und die Nachbarin Anđela, die immer so aussah, als würde sie mit Engeln schlafen. Niemand wusste, wie alt Tante Sofa war; sie sammelte Zeug im Hof auf, war zäh und kräftig, grub den Garten selbst mit dem Spaten um und fürchtete sich vor wirklich gar nichts. Nachbarin Anđela hatte langsame Bewegungen, langes graues Haar und stille blaue Augen; sie lebte in dem Haus am Rande der Straße mit einer Schaukel neben dem Brunnen. Großmutter zog mir zwei Nummern zu große Gummistiefel an die Füße und band mir ein altes Tuch um den Kopf. „Gehen wir?“, sah sie mich an, und ich nickte tapfer mit dem Kopf. Mittwochs wurden Hühner geschlachtet, und ich hatte den stabilsten Magen.

Ich stand hinter dem Haus in zwei Nummern zu großen Gummistiefeln und wartete, beschmiert von orangenem Eigelb, dass Großmutter einem weißen Huhn den Kopf abhackte. Soviel ich begriff, waren die weißen Hühner zum Essen und die gelben zum Spielen. Einmal hatte ich so lange mit einem gelben Küken gespielt, dass ich nicht einmal bemerkte, dass es, erschöpft vom Spiel, eingeschlafen war. Ich legte es zwischen seine Brüder und Schwestern und ließ es dort schlafen. Vater lachte und nannte mich Hühnermörderin. Ich weinte, denn ich verstand nicht, warum. Vielleicht war es gestorben, weil ich es so sehr geliebt hatte. Großmutter griff jetzt eines, um ihm die Kehle durchzuschneiden; sie hielt es fest, während es schrie. Ich fragte mich, ob auch mein Urgroßvater geschrien hatte, als der Nachbar ihn mit der Axt getötet hatte. Das Huhn schlug noch eine Weile um sich, im Rhythmus seines kleinen Vogelherzens, bis es sich beruhigte. Das Blut sickerte durch den Kies, auf der Flucht vom Ort des Verbrechens, bis es neben meinen Gummistiefeln zum Stehen kam. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtete, ich hörte Großvater, wie er im Weingarten vor sich hinsang, und spürte eine Sommerbrise, die mit ihren Fingern durch die Zypressen streifte. Ich drehte mich um, aber da war niemand. Es schien mir, als hörte ich Hühner, die kräftig mit den Flügeln schlugen. Ich sah Großmutter zu, wie sie den Hühnern die Köpfe abhackte. Nie habe ich sie deshalb weniger geliebt; das Dorf ist grausam, das wusste ich; der verkrüppelten Sava hatten die Schweine die Hände abgebissen.

Am liebsten säuberte ich den Magen. Hühner leben von Gras; ich stülpte ihre Mägen um und säuberte das Innere von Pflanzen, Körnern und den Träumen, dass sie eines Tages Hennen oder Hähne werden würden. Ich starrte in den weißen Eimer, in dem die toten Hühner lagen, rote, schlaffe Beinchen, von Blut beschmutzte weiße Federn. Ich erinnerte mich an das Hühnerbein, das dann und wann in Großmutters fettiger Suppe mit dicken Nudeln schwamm. Jedes Huhn muss zuerst gut mit kochendem Wasser übergossen werden, so lassen sich die Federn leichter rupfen. Tante Sofa, Anđela und Großmutter saßen über die Hühner gebeugt, rupften sie und sprachen über die Fernsehserie und über den Hagel, der die Pflaumen vernichtet hatte, ohne den Geruch von toten, geschlachteten Hühner und verkrustetem Blut wahrzunehmen, der uns umgab. Dieser Geruch ist für mich bisweilen noch immer spürbar, ich sehe ihn auf meinen schmutzigen Händen und ich spüre ihn an sorglosen Sommertagen. Anđela grub ihre zarten Hände in die leb- und kopflosen Körper der starren Hühner. In der Ferne war Hundegebell zu hören, Großmutter zerteilte mit einem scharfen Messer die Hühner und die Schwüle in der Luft. Eine Fliege summte unaufhörlich um meinen Bauch herum.

Vor der Hitze versteckten wir uns im Haus, wir aßen Suppe zu Mittag, panierte Schweineschnitzel und Bratkartoffeln, sicher hinter den schweren, dunkelgrünen Vorhängen und dem großen, weißen Ventilator, der summte, genau wie die gierigen Fliegen, die morgens die Lebensreste aus dem weißen Eimer mit den Hühnern aussaugten. Das Telefon klingelte, der Nachbar rief an, ich verließ das Innere des Wohnzimmers und rannte barfuß in die heiße Sonne auf der Suche nach Großvater. Ich rief ihn immer wieder, aber erfolglos; ich konnte ihn nicht finden. Mir schien, als würde ich ihn hören und lief in Richtung seiner Stimme, tief in das aus Weinreben und Aprikosen verstrickte Labyrinth. Ich schlug mich durch ungemähtes Gras und Brennnesseln und zertrat Maulwurfshügel; meine Fußsohlen waren schmutzig von der schwarzen Erde, das Geräusch aber kam immer näher. Ich gelangte zum Waldesrand – nirgends war jemand, nur ein alter Radioapparat war an einen alten Baum gelehnt und in der Ferne waren dunkle Wolken über dem Wald. Sie näherten sich langsam, zornerfüllt. Ich flüchtete zum Haus so schnell ich konnte. Während ich rannte, schien mich alles zu beobachten – die alte Zypresse, die Kletterrosen, der Metallzaun, Großmutters ganzer Garten schien mit einem Mal auf der Lauer zu sein. Ich schloss die Tür, nahm den Hörer auf und sagte dem Nachbarn, dass ich Großvater nicht finden könne, aber dass ich ihm sagen würde, er solle ihn zurückrufen, wenn er nach Hause kommt.

Kurz darauf wurde der Wind stärker; die Fensterflügel schlugen derart, dass es schien, als würde das ganze Haus in jedem Moment davonfliegen. Draußen kam ein Unwetter auf, Großmutter aber band sich ein schwarzes Tuch um den Kopf, nahm eine Sichel und ging los, um Kohl für die Hasen zu schneiden. Großvater war immer noch nicht zurückgekehrt. Ich beschloss, mit Großmutter mitzugehen, und meine Cousinen liefen auf dem Grundstück in alle Richtungen; die eine nahm Wäsche ab, die andere brachte die Glaskrüge und Teller von der Terrasse ins Haus, die Teppiche mussten abgenommen, die Fenster geschlossen, Großvater gefunden und die Tiere gefüttert werden. Ich liebte die Hasen und bot an, sie zu füttern. Ein orangefarbener Blitz erleuchtete die abgenutzten Wasserschüsseln der Hasen und kurz darauf ertönte ein lauter Donner in der Luft, wie ein Beben am Himmel. Ich wusste, dass das Gewitter sehr nah war. Ich nahm ein Häschen aus dem Käfig und drückte es fest an mich. Im nächsten Moment durchbrach ein Schrei die Luft – das war ich – und etwas sprang mich an. Ich drehte mich um und schrie so sehr, dass mir das Häschen aus der Hand fiel und davonlief. Es war der Hahn. Der Hahn stand hinter mir, er hatte einen weißen, zerzausten Federschopf auf dem Kopf und einen leeren Blick. Streitlustig sprang er von einem Bein auf das andere und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Alles spielte sich so schnell ab. Er stürzte sich mit einem kräftigen Flügelschlag auf mich – im Kampf ums Überleben fiel mein Fuß aus dem zwei Nummern zu großen Gummistiefel und jetzt trat ich direkt in den Hühnerdreck; ich hörte, wie sie mich aus den Hühnerställen auslachen und zusehen, wie ich versuche, aus ihrer Scheiße herauszukommen. Hühnermörderin. Ich erinnerte mich an die schlaffen, roten Beinchen, die in der Suppe schwimmen, an das Beil, mit dem Großmutter ihnen elegant die Köpfe abgehackt hatte, an das Küken, das für immer zwischen seinen Brüdern und Schwestern eingeschlafen war. Mir wurde schwindelig, alles um mich herum war grün, als wäre ich im Inneren ihrer Mägen. Ich nahm den anderen Stiefel und warf ihn auf den Hahn, aber das machte ihn nur noch wütender. Ein Sturzregen kam herab, ich aber schwang mich auf der Flucht über einen Zaun und zerriss mein Shirt an dem Metalldraht. Meine Cousinen standen im Regen und weinten, der Hund hatte sich den flüchtigen Hasen geschnappt und ihm unter der alten Zypresse den Hals durchgebissen, Großmutter war im Schock ausgerutscht und zwischen die Schweine gefallen. Zum Glück blieben ihr die Hände erhalten, sie hatte die Schweine kurz zuvor erst gefüttert. Großvater kam auf dem Traktor vom Feld zurück und lachte bis zum nächsten Morgen, als Großmutter zum Frühstück Pfannkuchen machte.

Übersetzt von Eva Kowollik

Original: „Ubojica pilića“ von Dekameron na Krilu“

auf: https://krilo.info/ubojica-pilica/