Krisenszenarien und (junge) Literatur

Studierende übersetzen gemeinsam

Jasna Jasna Žmak

VERHEDDERT, ENTHEDDERT (Thema: Wind im Haar)

11.04.2020

Dies ist eine wahre Geschichte.

Sie wird in meiner Familie seit Jahrhunderten weitergegeben, von Generation zu Generation, mündlich, in der weibliche Linie. Wenn es keine Frauen gibt, verwandeln sich die Männer in Frauen, damit die Geschichte weiter leben kann, von Generation zu Generation, mündlich, in der weiblichen Linie. In dieser Geschichte ist die Geschichte wichtiger als das Geschlecht.

Es war einmal am Ende einer Stadt ein Wald. Und am Ende des Waldes war ein Dorf. Und am Ende des Dorfes war ein Fluss. Und am Ende des Flusses war ein See. Und in der Mitte des Sees war eine Insel. Und in der Mitte der Insel war ein Rauschen. Und am Ende des Rauschens war ein Fluss. Und am Ende des Flusses war ein Berg. Und auf der Spitze des Berges war ein Turm. Und in der Spitze des Turmes war ein Dachboden. Und auf dem Dachboden war eine junge Frau. Und am Ende der jungen Frau war der Tod.

Doch vor dem Tod war die junge Frau sehr schön und manchmal war sie auch ein junger Mann, wenn die Geschichte das verlangt hat.

Der Turm, in dem die junge Frau eingesperrt war, hatte keine Tür, er hatte nur sieben Fenster, eines für jeden Tag und eines für jeden Wind. Denn es gab sieben Tage und es gab sieben Winde, und der junge Mann hatte langes, goldenes Haar. Jeden Tag flatterte ihr Haar im Wind, da jeden Tag durch eines der Fenster einer der Winde wehte, die am Ende des Waldes jeden Tag wehten. Und einige Wind*innen verhedderten ihr Haar, andere enthedderten es.

Auch wenn die Wind*innen ihr die Haare verhedderten, waren sie die Freundinnen der jungen Frau und sie trugen ihr Träume auf den Dachboden. Und außer den Träumen brachten sie ihr auch Ängste und Gerüchte, Hoffnungen und Freuden, Stille und generell unbrauchbare Prinzen. Eines Tages brachten ihr die Wind*innen die Geschichte einer jungen Frau mit langem goldenen Haar, welche, genau wie sie, in einem Turm am Ende eines Flusses lebte, bis sie von einer unansehnlichen Bäuerin aus dem Turm gerettet wurde, die den Turm mit bloßen Händen zerstörte und alles, was vom Turm übrig blieb, war eine Ruine am Ende des Sees und die Bäuerin und die junge Frau lebten danach lange zusammen, mindestens einhundert Jahre und vielleicht auch ein paar Jahre mehr.

Aber bevor sie mit bloßen Händen von der sanften Bäuerin gerettet wurde, sprach die junge Frau die geheime Sprache der Winde, weshalb manche Dorfbewohner behaupteten, sie sei wahnsinnig und diese Geschichten über ihren Wahnsinn gaben sie an ihre Kinder weiter, von Generation zu Generation, mündlich, Jahrhunderte lang. Und manchmal wurde in diesen Märchen aus der jungen Frau ein Jüngling und dann flatterten statt ihrer seine Haare im Wind, dann war die arme junge Frau vom Dachboden nicht mehr wahnsinnig, sondern sie war ein edler Prinz, der die geheime Sprache des Windes kannte, der sich selber aus dem Turm retten konnte, welcher nie verwunschen gewesen war. Und dann wurde die Geschichte ernst, so auch das Buch, das man in den fernsten Teilen dieses namenlosen Königreichs gelesen hat.

Was für eine außergewöhnliche Geschichte, dachte der junge Mann an dem Morgen, also flüsterte sie dem achten Wind zu, dass er ihr morgen anstatt eines unbrauchbaren Prinzen eine Bäuerin mit kräftigen Armen durch ein Fenster bringen solle.

Und so erschien am Ende der Geschichte eine Bäuerin in Form des Windes im Turm, die junge Frau verstand, dass alle ihre Winde weibliche Vornamen haben, dass es nicht nur sieben von ihnen gibt und dass Prinzen nur in schlechten Geschichten vom Himmel fallen.

Und der Turm blieb für immer leer, eine Ruine, am Ende des Sees.

Übersetzt von Johanna Walther

Original: „Zamrsile, razmrsile“ von : Dekameron na Krilu“

auf: https://krilo.info/zamrsili-razmrsili/