Entwicklung einer wissenschaftlichen Fragestellung

Bei der Planung eines Forschungsvorhabens steht die Formulierung einer zentralen Fragestellung immer am Anfang. Dafür ist es bedeutsam, den bisherigen Forschungstand zu dem interessierenden Thema gut zu kennen, um bestehende Forschungslücken zu identifizieren. Hierbei kann die wissenschaftliche Einbettung vor einem theoretischen, einem empirischen oder historischen Hintergrund erfolgen. Einfach ausgedrückt, es ist wichtig sich anfangs folgendes klar zu machen:

  • Was wissen wir?
  • Was wissen wir nicht?
  • Was wollen wir herausfinden?
  • Was kann diese Studie leisten?

Bereits an dieser Stelle deutet sich an, dass quantitative Forschungsvorhaben (d.h. ein deduktives, hypothesenprüfendes Vorgehen) nicht für alle Fragestellungen der richtige Ansatz sind. Je nachdem, inwieweit mein Thema bereits erforscht ist, d. h. theoretische Lücken vorliegen und empirische oder historische Ergebnisse, ist die Wahl eines offenen, explorativen Forschungsdesigns sinnvoll bzw. sogar notwendig. Im Sinne des Forschungsparadigmas der qualitativen Forschung werden hierfür keine strikten Vorannahmen in Form eines hypothesenprüfenden Ansatzes getestet. Vielmehr geht es bei Fragestellungen der qualitativen Forschung vor allem darum, im Forschungsprozess am Datenmaterial Hypothesen zu generieren, die in der Folge später in anderen Studien quantitativ getestet werden können.*  Hierfür geht qualitative Forschung prinzipiell offen an die Themen heran. Offenheit meint jedoch nicht – wie oft fehlverstanden – „vortheoretische Empirie“. Denn gute qualitative Forschung muss Brücken zwischen wissenschaftlichen Theorien, erprobten Methoden und vorhandener Empirie schlagen. Gute qualitative Studien sind im besten Fall stets „theoretische Empirie“ oder „empirische Theorie“ zugleich.

Zum Beispiel in der Versorgungsforschung haben sich qualitative Forschungsvorhaben in den letzten Jahren mehr und mehr als wichtige Methoden bewährt, da sie neben bekannten Modellen und Mechanismen eine Subjektorientierung und damit die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf ein Versorgungsproblem ermöglichen. Das heißt, es werden die Betroffenen oder auch Patient*innen beispielsweise in Einzelinterviews gefragt, was sie bewegt bzw. warum und wie sie welche Versorgung in Anspruch nehmen und wie sie die Versorgungsqualität wahrnehmen. Ein Beispiel zur Anschauung: Repräsentative Surveys belegen konstant, dass Personen mit Migrationshintergrund Vorsorgemaßnahmen seltener in Anspruch nehmen als Personen ohne Migrationshintergrund. Die subjektiven Perspektiven der Migrant*innen auf die Inanspruchnahme von Vorsorgeleistungen, – also einfach ausgedrückt: warum gehen sie nicht zur Vorsorge? – können erst durch ein qualitatives Design in deren eigenem sozialen und kulturellen Kontext erhoben und für ein Verstehen ihrer Wahrnehmung aufgearbeitet werden. Mögliche Fragestellungen können hierbei sein:

  • Wie wird die Inanspruchnahme von Vorsorgemaßnahmen aus Perspektive von Personengruppen mit Migrationshintergrund wahrgenommen?
  • Welche Barrieren existieren im Zugang und in der Inanspruchnahme von Vorsorgeleistungen aus Sicht von Personen mit Migrationshintergrund?

Forschungsfragen sollen prinzipiell so formuliert werden, dass sie zu beantworten sind. Bei einer qualitativen Fragestellung muss ferner berücksichtigt werden: Sie sollte einerseits so klar und eindeutig wie möglich formuliert werden, andererseits im Laufe des Projektes – und auch dies hebt sie von quantitativen Fragestellungen ab – immer wieder konkretisiert, fokussiert, neujustiert, eingegrenzt oder auch gegebenenfalls revidiert werden.

zur Übersicht                                    nächste Seite

* Das bisher beschriebene explorative Vorgehen wird eingesetzt, wenn sehr wenig über ein Thema bekannt ist. Qualitative Verfahren können aber auch dann angewandt werden, wenn sich in einem quantitativen Projekt ein Zusammenhang zeigt, der mit den vorliegenden Daten erst einmal nicht geklärt werden kann. Hier können qualitative Verfahren Erkenntnisse darüber bringen, warum der bisher unerklärliche Zusammenhang besteht.