Momentan nehme ich mir mehr Zeit zum Lesen, auch bei den Nachrichten. Verschiedene Quellen, Sichtweisen, lange Berichte mit vielen Fakten und Erklärungen, wer sie wie interpretiert und warum. Auch bei den Nachrichten und Diskussionen im Fernsehen nehme ich mir mehr Zeit, schaue auch längere Berichte an und freue mich darüber, dass einfach mal in Ruhe diskutiert wird, die Leute einander ausreden lassen und gute Fragen stellen. Dabei kam ein wunderbarer Kommentar, der mich sehr nachdenklich gemacht hat: Auf die Bemerkung hin, dass viele Menschen die aktuelle Situation aushalten und wenig über Alternativen diskutieren, weil sie Bilder von leidenden oder sterbenden Menschen sehen, von überfüllten Krankenhäusern, von hunderten Särgen, von verzweifelten Ärzt*innen, kam ein „Was ist mit den Bildern, die wir nicht sehen?“.
Ich bin sehr dankbar für diese Reaktion. Natürlich reagieren wir auf das, was wir sehen oder hören. Natürlich denken wir nicht die ganze Zeit an all das, was auch noch möglich ist und was wir gerade nicht wahrnehmen. Aber manchmal sollten wir das! In dieser konkreten Situation sehen wir dramatische Bilder aus Krankenhäusern oder von der Börse, und das beeinflusst stark, wie wir die aktuellen Maßnahmen einschätzen. Wir sehen kaum dramatische Bilder aus kleinen Betrieben, die geschlossen sind, von Künstler*innen, die keine Einnahmen und keine Rücklagen haben, oder aus Einrichtungen für alte Menschen, die nun völlig vereinsamen. Wir sehen nicht die überforderte alleinerziehende Mutter, die nun auch noch ihre Kinder zuhause beim Lernen unterstützen soll. Vielleicht ohne Internet oder mit schlechter Verbindung, vielleicht sogar selbst ohne Schulabschluss. Wir sehen nicht die 4er-WG, in der sowieso schon ständig der Putzplan für Spannungen sorgt, und nun gibt es kaum Rückzugsmöglichkeiten und jeder kleine Streit eskaliert sofort. Ich bin sicher, dass viele Forscher*innen rund um die Uhr arbeiten, um das Virus besser zu verstehen, Testmethoden zu prüfen und Ausbreitungsszenarien durchzuspielen, und davon sehen wir auch nicht viel.
Diese Beispiele dienen nur der Illustration, denn ich möchte auf Folgendes hinaus: Was wir sehen oder hören, ist immer nur ein kleiner Ausschnitt. Das Mindeste ist, dass wir uns vielfältige Quellen suchen und nicht immer nur die gleiche Zeitung lesen, dieselbe Nachrichtensendung schauen und immer nur nach Bestätigung suchen für das, was in unser aktuelles Weltbild passt. Aber es geht noch weiter: Jedes Mal, wenn wir uns ärgern oder genervt sind, weil jemand sich nicht wie erwartet verhält, sollten wir uns die Frage stellen, was da vielleicht los ist, was wir einfach nur nicht wahrnehmen. Momentan scheinen wir offen und sensibel dafür zu sein, mehr als sonst! Jemand antwortet nicht innerhalb eines Tages auf eine E-Mail? Anstatt genervt nachzufragen, sind wir jetzt vielleicht besorgt und überlegen, ob dort alles in Ordnung ist. Wir denken eher mit, dass jemand zuhause schwierige Umstände haben könnte, dass die Person vielleicht selbst nicht gesund ist oder viel Zeit damit verbringt, anderen zu helfen.
Ich wünsche mir, dass wir das kultivieren und nicht gleich wieder vergessen, wenn ein wie auch immer gestalteter „Alltag“ zurückkommt und wir wieder im Hamsterrad unterwegs sind. Tatsächlich passiert gerade nicht nur Schlimmes, sondern ich sehe auch ganz viel Kreativität und Hilfsbereitschaft, von der ich mir sehr wünsche, dass wir sie behalten.