Erwartungen

Das Thema wurde für einen Workshop vorgeschlagen, und zusätzlich zu einer Podcastfolge gibt es hier noch ein paar Gedanken dazu. Im Workshop haben wir übrigens kein gutes oder schlechtes Wortspiel rund um Erwartungen ausgelassen, und auch hier kann ich es mir bestimmt nicht ganz verkneifen! Mehrmals musste ich an das Buch „Great expectations“ von Charles Dickens denken. Als ich in England gelebt habe, gab es eine Phase, in der ich ganz viele Klassiker der englischsprachigen Literatur gelesen habe, und da war Dickens dabei. Das Buch „Great expectations“ war eine große Enttäuschung für mich. Ich überlege schon länger, es noch einmal zu lesen und ihm eine zweite Chance zu geben.

Ist das die Logik? Enttäuschung=unerfüllte Erwartungen? Im Workshop kam die Frage auf, was es bedeutet, keine Erwartungen zu haben. Geht das? Und woran merken wir, dass wir wirklich ohne Erwartungen, ganz ergebnisoffen unterwegs sind? Meine Theorie ist, dass wir das oft erst im Nachhinein wissen, und zwar dann, wenn es nicht gut läuft. Nehmen wir als Beispiel die Evaluation einer Lehrveranstaltung. Wenn man da vorher sagt, dass man das ganz entspannt nimmt und keine Erwartungen hat, sich dann aber hinterher über Kommentare ärgert, dann zeigt dieser Ärger, dass man eben doch Erwartungen hatte. Oder bei einer Prüfung: Wenn jemand durchfällt, mich dann entspannt anlächelt und sagt „Ich hab gar nicht gelernt, ich hatte auch gar keine Erwartungen, wollte nur mal sehen, wie das ist!“, dann denke ich mir zwar, dass wir die Zeit ach anders hätten nutzen können, aber irgendwie imponiert mir diese entspannte Haltung auch. Kann ich beim Wiederholungstermin leider auf keinen Fall empfehlen!

Im Workshop kam auch die Frage auf, ob man Erwartungen und Wünsche daran unterscheiden kann, dass man in dem einen Fall bei Nichterfüllung enttäuscht ist und in dem anderen Fall nicht. Ich bin mir nicht so sicher! Und was ist mit Hoffnung? Die kann auch enttäuscht werden! Wo ist der Unterschied zwischen „Ich erwarte, dass es klappt.“, „Ich hoffe, dass es klappt.“ und „Ich wünsche mir, dass es klappt.“?

Zm Schluss möchte ich noch ein Thema ansprechen, das mehrmals aufkam und das mich auch manchmal beschäftigt. Todd Henry nennt das „expectation escalation“: Nach ein paar Erfolgen wird erwartet, dass es immer nur noch super läuft, der Einfluss von Glück oder Pech wird verdrängt und es werden weder Sorgen oder Ängste ernstgenommen. Das erzeugt großen Druck und das Gefühl, dass nichts jemals gut genug ist. Jedes Mal müssen noch mal 10% mehr als beim letzten Mal abgeliefert werden. Ein kleiner Trost ist, dass dieses Gefühl manchmal hausgemacht ist, dass es diese Erwartungshaltung also von außen gar nicht wirklich gibt, sondern wir das nur denken! Die Schwierigkeit, zwischen den eigenen Erwartungen und denen von anderen zu unterscheiden, war einer der Hauptbeweggründe, dieses Workshopthema zu bearbeiten.

Vielleicht ist das auch eine gute Gelegenheit, über meine Erwartungen zu sprechen. Manchmal denken Studis nämlich, dass meine Erwartungen nach ein, zwei guten Noten durch die Decke gehen und dass sie dann jedes Mal wieder Spitzenleistungen abliefern müssen. Das ist aber gar nicht so! Ich freue mich über jede gute Klausur, jede gute mündliche Prüfung, jeden guten Seminarvortrag. Jeder Erfolg von Studis macht mich froh, ganz ehrlich. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass auch Glück und eine gute Tagesform eine Rolle spielen. Manch eine gute Note ist ein Glückstreffer und spiegelt gar nicht realistisch wider, was die Person gelernt und verstanden hat. Umgekehrt kann man manchmal wegen schlechter Tagesform nicht alles zeigen, was man eigentlich drauf hat. Und wenn eine Person, die mich schon ein paar mal in Prüfungen beeindruckt hat, dann auf einmal nur gut oder mittelmäßig abschneidet, dann ist das für mich kein Grund, von meinem sehr positiven Eindruck abzurücken. Wenn jemand sehr oft sehr hilfsbereit ist und mir dadurch positiv auffällt, dann aber mal keine Zeit oder Lust zum Mithelfen hat, dann ändert das nichts daran, dass ich die Person als grundsätzlich sehr hilfsbereit wahrnehme. Ich habe ganz viele solche Beispiele und stelle oft fest, dass Studis sich so viele Gedanken machen, ob sie meine Erwartungen erfüllen oder nicht, und meistens machen sie sich zu viele Sorgen! So komme ich zu meinen Fragen zum Nachdenken:

Wie unterscheiden wir unsere eigenen Erwartungen von denen anderer? Bei welchen Menschen nehmen wir die Erwartungen an uns besonders ernst und wollen sie nicht enttäuschen, und warum? Und umgekehrt: An welche Menschen stellen wir hohe Erwartungen und warum? Wie gehen wir mit unerfüllten Erwartungen um, mit unrealistischen oder auch widersprüchlichen Erwartungen? Was erwarten wir von uns selbst, von Beziehungen, von der Arbeit?

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